Jahresbericht Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2022 vorgestellt Antisemitismus auf hohem Niveau – RIAS dokumentiert 2.480 antisemitische Vorfälle
27. Juni 2023
Berlin, 27. Juni 2022
2022 hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e.V. 2480 antisemitische Vorfälle erfasst. Das sind knapp sieben Vorfälle pro Tag. Antisemitismus in Deutschland bleibt auf einem hohen Niveau.Trauriger Höchststand bei Fällen extremer Gewalt
Der Bundesverband RIAS registriert 2022 einen leichten Rückgang antisemitischer Vorfälle im Vergleich zu 2021. 2022 ereigneten sich jedoch neun Vorfälle extremer Gewalt – potentiell tödliche oder schwere Gewalttaten. Dies ist die höchste Anzahl solcher Fälle seit Beginn der bundesweiten Erfassung in 2017. So wurde im November 2022 auf das ehemalige Rabbinerhauses der Alten Synagoge Essen geschossen. Die Generalbundesanwaltschaft geht dem Verdacht nach, das dieser und zwei andere Fälle extremer Gewalt in Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit den iranischen Revolutionsgarden durchgeführt wurden. Antisemitische Gewalttaten wirken verunsichernd auf jüdische Communities in ganz Deutschland.
Antisemitismus ist prägend für den Alltag von Betroffenen in allen Lebensbereichen
Gleichzeitig begegnet Antisemitismus Betroffenen in alltäglichen Situationen. Antisemitische Vorfälle ereigneten sich in Geschäften, im öffentlichen Nahverkehr, vor jüdischen Einrichtungen oder der eigenen Wohnung. Betroffene können mögliche Tatorte nicht meiden, ohne sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. In Hamburg kommentierte beispielsweise die Bedienung eines Cafés beim Bezahlen die Kippa eines Gastes antisemitisch: „Ja, dass er Geld hat, sieht man schon an der Mütze. Die haben immer genug Geld.“
Verschwörungsideologischer Hintergrund gewinnt an Bedeutung
Jeder fünfte antisemitische Vorfall hat einen verschwörungsideologischen Hintergrund. Von RIAS-Meldestellen wurden vor allem Versammlungen und Massenzuschriften per E-Mail mit verschwörungsideologischem Zusammenhang dokumentiert. Gerade zu Jahresbeginn spielten Proteste gegen die Coronamaßnahmen laut dem Bundesverband RIAS eine besondere Rolle. Erstmals wurden dem rechtsextremen Hintergrund mit 13% nicht die meisten Vorfälle zugeordnet. 53% aller Vorfälle sind keinem politischen Hintergrund klar zuordenbar.
Stimmen zur Veröffentlichung des Jahresberichts 2022
Benjamin Steinitz
Geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Aufgrund der hohen Gefährdung durch islamistische und rechtsextreme Akteure stehen die Bundesländer in der Pflicht Sicherheits-Defizite für Jüdische Gemeinden umgehend zu beheben. Wenn das Versprechen jüdisches Leben in Deutschland zu fördern nicht nur warme Worte bedeuten sollen, muss der Bund auch gegen den staatlich koordinierten Terrorismus des Iran vorgehen und sich konsequent für eine Aufnahme der Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste einsetzen.“
Bianca Loy
wissenschaftliche Referentin beim Bundesverband RIAS e.V.:
„Ein systematischer Abgleich mit den polizeilich erfassten antisemitischen Straftaten fand 2022 nicht statt. Grund hierfür ist auch eine fehlende Rechtsgrundlage auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden.
Der Gesetzgeber ist in der Pflicht, hierfür die Voraussetzung zu schaffen. Erst dann erhält die Öffentlichkeit ein umfassendes Lagebild zum Ausmaß und zur Qualität strafbarer und nicht strafbarer antisemitischer Handlungen.“
Dr. Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:
„Mit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 ist der Sicherheitsbedarf der jüdischen Gemeinden in Deutschland noch mehr in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. Wissen, wie und wo Antisemitismus auftritt ist immer der Ausgangspunkt allen Engagements gegen Antisemitismus. Ich danke dem Bundesverband RIAS für die hervorragende Arbeit auf diesem Gebiet. Dieser Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus in unserem Land ist von großer Wichtigkeit und muss auch künftig abgesichert sein.“
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus:
„Die documenta fifteen war zu Recht in aller Munde. Doch auch im Kulturbetrieb ereignen sich viele antisemitische Vorfälle unterhalb der Schwelle der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wie in anderen Teilen des gesellschaftlichen Lebens, sind sie für Jüdinnen und Juden Alltag. Die Betroffenen werden bei ihren normalen Aktivitäten mit Judenhass konfrontiert, sei es bei der Arbeit, im öffentlichen Nahverkehr, im Supermarkt oder eben im Theater, im Museum, beim Konzert.“
Stellungnahmen von Mitgliedern des Deutschen Bundestages zur Veröffentlichung des Jahresberichts Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2022:
Simona Koß (SPD)
„Die documenta 15 hat ein besonderes Schlaglicht auf Antisemitismus im Kulturbereich geworfen. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Notwendig ist eine systematische Sensibilisierung der Institutionen im Kunst- und Kulturbereich für Antisemitismus, basierend auf der Definition der IHRA. Bei der Besetzung von Findungskommissionen müssen antisemitismus-kritische Personen berücksichtigt werden.“
Marlene Schönberger (Bündnis 90/Die Grünen)
„Der Post-Shoa-Antisemitismus ist in Deutschland das Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Ausdrucksformen des Antisemitismus. Erinnerungsverweigerung ist eine Form der Gewalt gegenüber den Ermordeten, den Überlebenden der Shoa und deren Nachfahren. Der Bericht zeigt die Ausmaße dessen in aller Deutlichkeit. Wollen wir entschieden jede Judenfeindlichkeit bekämpfen, dann müssen wir auch hier ansetzen. Forscher*innen stellen umfassende Wissensbestände über die Ideologie des Antisemitismus und die Shoa bereit, dennoch beobachten wir eine didaktische Lücke. Diese zu schließen, muss endlich besser gelingen. Überzeugte Antisemit*innen können meist nicht mehr erreicht werden, aber es geht um diejenigen, die viel zu oft unklar oder regungslos bleiben, wenn es zu antisemitischen Vorfällen kommt.“
Linda Teuteberg (FDP)
„Dass Antisemitismus ein prägender Bestandteil des Alltags von Jüdinnen und Juden in Deutschland ist, ist ein beschämender Befund für unser Land. Jeder Erscheinungsform des Antisemitismus ist entschieden entgegenzutreten. Der RIAS-Jahresbericht verdeutlicht, dass es eines 360 Grad-Blicks des freiheitlichen Rechtsstaats im Kampf gegen Antisemitismus bedarf. Beim entschiedenen Vorgehen gegen Antisemitismus darf es keine Doppelstandards und keinen politischen oder kulturellen Rabatt geben. Auch die Vielfalt von 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland zum Thema zu machen ist ein Beitrag dazu, unsere Verantwortung für ein sicheres und selbstbestimmtes Leben von Jüdinnen und Juden in unserem Land wahrzunehmen. Ein Skandal mit Wegbereitern und Ansage wie bei der Documenta 15 darf sich nicht wiederholen. Die eindringlichen RIAS-Berichte zeigen, wo wir größere Anstrengungen brauchen.“
Christoph de Vries (CDU)
„Dass Antisemitismus ein prägender Bestandteil des Alltags von Jüdinnen und Juden in Deutschland ist, ist ein beschämender Befund für unser Land. Jeder Erscheinungsform des Antisemitismus ist entschieden entgegenzutreten. Der RIAS-Jahresbericht verdeutlicht, dass es eines 360 Grad-Blicks des freiheitlichen Rechtsstaats im Kampf gegen Antisemitismus bedarf. Beim entschiedenen Vorgehen gegen Antisemitismus darf es keine Doppelstandards und keinen politischen oder kulturellen Rabatt geben. Auch die Vielfalt von 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland zum Thema zu machen ist ein Beitrag dazu, unsere Verantwortung für ein sicheres und selbstbestimmtes Leben von Jüdinnen und Juden in unserem Land wahrzunehmen. Ein Skandal mit Wegbereitern und Ansage wie bei der Documenta 15 darf sich nicht wiederholen. Die eindringlichen RIAS-Berichte zeigen, wo wir größere Anstrengungen brauchen.“
Petra Pau (Die Linke)
„Der deutliche Anstieg von Vorfällen mit verschwörungsideologischem Hintergrund im Jahr 2022 macht die Notwendigkeit der Überarbeitung der KPMD-PMK besonders deutlich. Seit Längerem kritisiere ich den wachsenden Phänomenbereich ohne Zuordnung, der vermehrt Straftaten aus dem verschwörungsideologischen und sog. Reichsbürgermilieu fasst. Dadurch werden auch antisemitische Straftaten in dieser schwammigen Kategorie versenkt. Von dort aus sind deren politischen Hintergründe kaum mehr nachzuvollziehen. Deshalb sind eine präzisere Erfassung und ein Überdenken des überholten Extremismuskonzeptes notwendig, damit politische Spektren in ihrer Breite berücksichtigt werden.“
Der Bericht kann ab sofort unter https://www.report-antisemitism.de eingesehen werden.
Für Rückfragen oder Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an Marco Siegmund, Referent für Öffentlichkeitsarbeit, unter: presse@report-antisemitism.de oder 0176 345 451 55
Der Bundesverband RIAS e.V. ist der Dachverband der RIAS-Meldestellen und verfolgt das Ziel einer einheitlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle auf Grundlage der IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Die RIAS-Meldestellen erfassen bundesweit antisemitische Vorfälle und vermitteln Unterstützung an Betroffene. In den Bericht flossen Vorfälle aus dem ganzen Bundesgebiet und von Meldestellen in elf Bundesländern ein.
Antisemitic incidents in Germany Antisemitism at a high level — RIAS documents 2,480 incidents.
27. Juni 2023
Berlin, 27 June 2023
In 2022, the Federal Association of Research and Information Centers on Antisemitism (Bundesverband RIAS) e.V. recorded 2,480 antisemitic incidents nationwide. That is nearly seven incidents per day. Antisemitism in Germany remains at a high level.Alarming peak in cases of extreme violence
Although the Bundesverband RIAS records a slight decrease in antisemitic incidents in 2022 compared to 2021, in 2022 RIAS offices documented nine incidents of extreme violence — potentially fatal or serious acts of violence. This is the highest number of such cases since nationwide recording began in 2017. For example, in November 2022, several shots were fired at the entrance to the historical rabbi‘s house of the Old Synagogue in Essen. The Federal Prosecutor General‘s Office is investigating suspicions that this and two other cases of extreme violence in North Rhine-Westphalia were carried out in cooperation with the Iranian Revolutionary Guards. Antisemitic acts of violence have an unsettling effect on Jewish communities throughout Germany.
Antisemitism’s impact on everyday life
At the same time, people encountered antisemitism in everyday situations. Antisemitic incidents occurred in stores, on public transport, in front of Jewish institutions or in private homes. Those affected cannot avoid possible incidents without withdrawing from social life. In Hamburg, for example, a café clerk made an antisemitic comment about a patron‘s kippah as he was paying: „Yes, you can tell he has money by his hat. They always have enough money.“
Conspiracy ideologies gain traction
One in five antisemitic incidents has a conspiracy ideological background. RIAS reporting centers mainly documented meetings and mass e-mailings with a conspiracy ideological context. Especially at the beginning of the year, protests against Coronavirus measures played a significant role, according to the Bundesverband RIAS. For the first time, right-wing extremism was not the most common background, being ascribed to only 13% of incidents. In all, 53% of reported incidents could not be clearly categorized as having a political background.
The report can be viewed immediately at https://report-antisemitism.de/
For further inquiries or interview requests, please contact Marco Siegmund, Public Relations Speaker, at: presse@report-antisemitism.de or +49 176 345 451 55.
Meldestelle veröffentlicht ersten Jahresbericht zu antisemitischen Vorfällen in NRW Antisemitismus ein virulentes Phänomen
20. Juni 2023
RIAS Nordrhein-WestfalenRIAS NRW veröffentlicht Fallstudie „Konsequente Rechtsprechung sieht anders aus“ – Die Schändung des jüdischen Friedhofs in Geilenkirchen und der anschließende Gerichtsprozess
7. Juni 2023
RIAS Nordrhein-WestfalenDüsseldorf (7.6.2023) – In der heute veröffentlichten Fallstudie wird der Prozess um die Schändung des jüdischen Friedhofs in Geilenkirchen rekonstruiert, bei dem die Staatsanwaltschaft zunächst keinen Antisemitismus erkennen konnte; Prozessbeteiligten wird in der Fallstudie Raum für eigene Einschätzungen gegeben. Abschließend wird der Frage nachgegangen, wie die justizielle Antisemitismusbekämpfung im Bundesland weiter verbessert werden könnte.
Rekonstruktion der Ereignisse
Am 30. Dezember 2019 verwüsteten zwei Neonazis den Jüdischen Friedhof in Geilenkirchen (Kreis Heinsberg). Noch in der Tatnacht wurden sie in unmittelbarer Nähe zum Friedhof verhaftet. Die im anschließenden Prozess ans Licht gekommene Beweislast erwies sich als erdrückend. Dennoch fand sich in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft an keiner Stelle der Verweis auf Antisemitismus als mögliches Tatmotiv. Dass die Schändung eines jüdischen Friedhofs durch zwei polizeibekannte Neonazis nicht als antisemitischer Akt, sondern lediglich als „Sachbeschädigung“ und „Störung der Totenruhe“ verfolgt werden sollte, stieß lokal auf breite Gegenwehr. Ebenso wurde der überaus schleppende Prozessverlauf kritisiert: Fast zwei und halb Jahre dauerte es, bis am 23. Juni 2022 ein Urteil durch das Amtsgericht Geilenkirchen gefällt werden konnte.
Einschätzungen von Prozessbeteiligten und Experten
Im zweiten Teil der Fallstudie kommen einige im Prozess involvierte Akteur_innen und Expert_innen zu Wort. Auf eine juristische Einschätzung folgt die Perspektive eines Vertreters der Stadt Geilenkirchen, die als sogenannte Adhäsionsklägerin selbst aktiv im Prozess involviert war. Auch zwei Nachfahren von Jüdinnen_Juden, deren Grabsteine auf dem Friedhof geschändet wurden, schildern ihre Perspektive auf den Prozessverlauf.
Ausblick auf Justizwesen in NRW
Der letzte Teil der Fallstudie geht der Frage nach, welche Reformen innerhalb des nordrhein-westfälischen Justizwesens im Sinne einer effizienteren Verfolgung antisemitischer Hassverbrechen umgesetzt werden könnten. Dazu gehört etwa die Verankerung antisemitismuskritischer Fortbildungen für Polizei und Justiz sowie ein verbesserter Opferschutz.
Stimmen zur Veröffentlichung der Publikation
Jörg Rensmann
Projektleiter RIAS NRW
„Unsere Broschüre ist eine Fallstudie, die sich als Beitrag zu einer dringend notwendigen Debatte für Fachpublikum und interessierte Öffentlichkeit versteht. Werden potenziell antisemitische Motive bei Straftaten hinreichend tiefenermittelt, und falls ja, wie wirkt sich das auf Strafzumessungen aus? Der kürzlich erfolgte Freispruch von Sucharit Bhakdi vom Vorwurf der Volksverhetzung hat einmal mehr deutlich gemacht, dass es anscheinend an Kenntnissen moderner Erscheinungsformen von Antisemitismus fehlt, die überhaupt erst Grundlage zur Ermittlung von Tatmotiven sein können.“
Daniel Vymyslicky
Mitarbeiter RIAS NRW
„Die Ereignisse in Geilenkirchen zeugen zum einen von bestehenden „blinden Flecke“ in der Bekämpfung von Antisemitismus durch die Justiz. Zum anderen wird aber auch deutlich, welch wichtige Rolle eine starke und wachsame Zivilgesellschaft vor Ort spielen kann. Von Anfang an bemühten sich Initiativen und engagierte Einzelpersonen darum, die Tat als das zu bezeichnen, was sie war: ein antisemitisches Hassverbrechen. Gerade abseits von urbanen Ballungsgebieten kommt diesem Engagement besondere Bedeutung zu.“
Wolfgang Robertz
Vertreter der Adhäsionsklägerin (Stadt Geilenkirchen)
„Bereits kurz nach der unglaublich brutalen Schändung unseres jüdischen Friedhofs in Geilenkirchen war mir klar, dass eine derartige Tat große Verunsicherung insbesondere in jüdischen Gemeinschaften hervorrufen wird. Daher war es mir wichtig, dass sich die Stadt Geilenkirchen aktiv im Verfahren einbringt und damit auch ein deutliches Zeichen der Solidarität setzt. Ich kann andere Kommunen nur dazu aufrufen, bei ähnlich gelagerten Fällen ebenfalls den Weg der Adhäsionsklage zu gehen.“
Mit der Veröffentlichung der Broschüre zielt RIAS NRW darauf ab, über Antisemitismus und dessen strafrechtliche Bekämpfung im Bundesland zu informieren, auf dabei bestehende Problematiken hinzuweisen und die Perspektiven von Betroffenen in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken.
Die Broschüre steht auf der Website des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) unter https://report-antisemitism.de/rias-nrw/ kostenfrei zum Download zur Verfügung.
RIAS NRW ist eine landesweite Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Nordrhein-Westfalen. Der erste Jahresbericht von RIAS NRW zu antisemitischen Vorfällen in NRW im Jahr 2022 wird am 20. Juni 2023 der Öffentlichkeit vorgestellt.
Bei inhaltlichen Rückfragen zur Broschüre können Sie sich gerne per Mail (presse@rias-nrw.de) oder Telefon (0211-822 66 03 12) an uns wenden.
Antisemitische Vorfälle in Berlin 2022 Kein Rückgang antisemitischer Gewalt in Berlin 2022
10. Mai 2023
RIAS BerlinBerlin (10. Mai 2020) – Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin verzeichnete 848 antisemitische Vorfälle in Berlin im Jahr 2022. Insgesamt sind dies knapp 20 Prozent weniger Vorfälle, jedoch blieb die Anzahl der Gewaltvorfälle auf dem Niveau des Vorjahres. Darunter war erneut ein Fall extremer Gewalt, bei dem zwei Personen verletzt wurden. Dies geht aus dem heute in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin vorgestellten Bericht „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2022“ hervor.
Angriffe und Anfeindungen richteten sich gezielt gegen Juden und Jüdinnen – immer wieder mit Bezug auf Israel
RIAS Berlin erfasste 2022 21 antisemitische Angriffe und einen Fall extremer Gewalt. In Spandau wurden zwei Männer von einer Gruppe aus 5–10 Personen angegriffen. Die Angreifenden warfen den Betroffenen vor, „Free Israel“ gerufen zu haben und attackierten sie mit Baseballschlägern, Messern und Pfefferspray. Die beiden Verletzten wurden ins Krankenhaus eingeliefert, ein Mann musste stationär behandelt werden. Antisemitische Angriffe ereigneten sich auf der Straße, im öffentlichen Nahverkehr, an Gedenkorten und auf Gedenkveranstaltungen, im Café, sogar in einer Schule. Mehreren Personen wurde die Kippa vom Kopf gerissen, sie wurden geschlagen, angespuckt, auf dem Fahrrad bedrängt und bedroht. Eine Person, die auf Hebräisch telefonierte, wurde angerempelt. Oft gingen den Angriffen antisemitische Beschimpfungen voraus.
In den sozialen Medien wird gegen jüdische Personen und Institutionen gehetzt
Auch auf den sozialen Plattformen werden Jüdinnen und Juden kontinuierlich antisemitisch angefeindet, beschimpft und bedroht. Ein jüdischer Social-Media-Nutzer wurde dort wiederholt als „Judenschwein“ beschimpft. Einer jüdischen Nutzerin wurde als „Maßnahme gegen Judenhass“ empfohlen, dass Jüdinnen und Juden sich „verziehen“ sollten. 2022 stellten Vorfälle, die sich im Internet ereigneten (483) wie im Vorjahr die Mehrzahl dar. Der Großteil der antisemitischen Anfeindungen im Internet richtete sich gegen jüdische und israelische Institutionen.
Antisemitische Reaktionen auf aktuelle politische Konflikte: 76 antisemitische Vorfälle mit Bezug auf den russischen Angriffskrieg
Zahlreiche Vorfälle, die RIAS Berlin 2022 dokumentierte, nahmen Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So wurde eine mangelnde Solidarität mit Russland kritisiert, wie in einem Social-Media-Kommentar unter dem Post einer jüdischen Organisation: „Als Dankeschön für die Befreiung hetzen viele westliche Juden jetzt zum Krieg gegen die Russen (Befreier) auf.“ Andere Kommentator_innen warfen den Angesprochenen dagegen eine unzureichende Unterstützung der Ukrainer_innen vor. In einer E-Mail am 4. November an eine israelische Einrichtung kommentierte der Absender wie folgt: „(...) ich bin empört, dass Sie Hilfe für die Ukrainer verweigern. Gerade Sie und Ihr Volk müssten doch wissen, was es heißt ungerechter Gewalt hilflos ausgesetzt zu sein. Ihr Verhalten ist asozial.“ Auch wurden Verschwörungsmythen artikuliert, denen zufolge Jüdinnen und Juden für den Krieg verantwortlich oder dessen Profiteure sind.
RIAS Berlin dokumentierte 848 antisemitische Vorfälle, darunter einen Vorfall extremer Gewalt, 21 Angriffe, 31 gezielte Sachbeschädigungen, 24 Bedrohungen, 751 Fälle verletzenden Verhaltens, die unter anderem 36 Versammlungen umfassen, sowie 20 Massenzuschriften.
Der Bericht „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2022“ kann online unter https://report- antisemitism.de/documents/Antisemitische-Vorfaelle-Berlin-2022.pdf eingesehen werden. Melden Sie sich für Presseanfragen gerne unter presse@rias-berlin.de oder 030 81 79 85 818.
Stimmen zum Bericht
Benjamin Steinitz
Projektleiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin
„Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wurde sofort in antisemitische Erzählungen integriert. Das zeigt die enorme Anpassungsfähigkeit von Antisemitismus. Besorgniserregend sind die vielen Fälle antisemitischer Gewalt. Wöchentlich werden Berliner Juden und Jüdinnen gezielt angefeindet, im Netz oder auf der Straße. Wie schon im vergangenen Jahr wurden uns die polizeilich erfassten antisemitischen Straftaten nicht zur Verfügung gestellt. Ich gehe daher davon aus, dass die Gesamtheit antisemitischer Vorfälle in Berlin deutlich höher liegt als in unserem Bericht dargestellt.“
Sigmount Königsberg
Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
„Unverändert ist festzustellen, dass in öffentlichen Diskursen Antisemitismus von der Mehrheitsgesellschaft immer noch relativiert, bagatellisiert oder gar negiert wird. So habe ich es selbst bei einem Gesprächsabend erlebt, als ich über den Antisemitismus bei der documenta 15 referierte. Obwohl Bilder sehr stark an die des nationalsozialistischen Hetzblattes “Der Stürmer” erinnerten, wurde von Anwesenden der Judenhass bestritten und stattdessen Zensur vorgeworfen. Man redete viel mehr über den Antisemitismus-Vorwurf als über Antisemitismus selbst.“
Dr. Anastassia Pletoukhina
Vorsitzende des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk und Direktorin der Jewish Agency in Berlin
„Die Relativierungen der Shoa und die Schuldabwehr in der Mitte der deutschen Gesellschaft sind nach wie vor erschreckend und für viele Juden und Jüdinnen bedrohlich. Die Verbreitung von Judenhass, Israelfeindlichkeit und Fehlinformationen im Netz bleibt häufig ungemeldet. Auch, weil Algorithmen antisemitische Aussagen nicht erkennen. Damit nimmt die Sichtbarkeit und Akzeptanz der antisemitischen Aussagen im digitalen Raum unkommentiert zu.“
Apl. Prof. Dr. Samuel Salzborn
Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus
„Antisemitische Online-Vorfälle wirken über das Digitale weit hinaus: Sie schüchtern Jüdinnen und Juden ein, sie wirken massiv verletzend für die Betroffenen – aber sie können auch Auswirkungen auf antisemitisches Verhalten gegen Jüdinnen und Juden außerhalb des digitalen Raumes haben. Deshalb ist es enorm wichtig, Online-Vorfälle auch anzuzeigen: zur strafrechtlichen Verfolgung, aber auch, um weiterer Radikalisierung vorzubeugen. Hier ist ein Appell an jede*n wichtig, der/die antisemitische Vorfälle im digitalen Raum wahrnimmt, auch Strafanzeige zu erstatten – denn ohne eine Anzeige erlangen die Ermittlungsbehörden oft keine Kenntnis vom Vorfall.“
Zahl antisemitischer Vorfälle in Bayern auf hohem Niveau
27. März 2023
RIAS BayernZahl antisemitischer Vorfälle in Bayern auf hohem Niveau
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern dokumentierte im vergangenen Jahr 422 antisemitische Vorfälle im Freistaat. 2021 waren es 456. Antisemitismus äußerte sich 2022 etwa im Kontext von verschwörungsideologischen Protesten, des 50. Jahrestags des Olympia- Attentats und der Debatte um Antisemitismus im Kulturbereich.
Erstmals seit 2019 wurde wieder ein Fall extremer Gewalt bekannt: In der Silvesternacht 2022/2023 soll eine Person versucht haben die ehemalige Synagoge im oberfränkischen Ermreuth in Brand zu setzen. RIAS Bayern dokumentierte außerdem drei Angriffe, 13 Bedrohungen, 30 gezielte, insbesondere gegen Gedenkzeichen und -orte gerichtete Sachbeschädigungen, 25 Massenzuschriften und 350 Fälle von verletzendem Verhalten. In letztere Kategorie fallen antisemitische Vorfälle, die oft keinen Straftatbestand erfüllen.
„Antisemitismus zeigte sich 2022 in Bayern weiterhin als relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen, das heißt als eine grässliche gesellschaftliche Normalität. Insbesondere wenn es um tiefverankerte ‚Triggerpoints‘ für antisemitische Ressentiments, etwa um Israel, geht, bricht sich der Antisemitismus Bahn. Sehr häufig wird Antisemitismus im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Schoah ausgelebt. Wie sehr sich bestimmte politische oder gesellschaftliche Gruppen auch voneinander abgrenzen mögen, so zeigt der Antisemitismus nach und wegen der Schoah, dass sie ein jeweils unterschiedlich begründeter Schlussstrichwunsch eint“, sagte RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı.
Während verschwörungsideologische Proteste öffentlich weniger thematisiert wurden als zu Beginn der Coronapandemie, dokumentierte RIAS Bayern mit 161 Vorfällen im Kontext derartiger Versammlungen deutlich mehr antisemitische Inhalte als 2022 mit 119 Vorfällen.
Öffentliche Resonanz fand 2022 der 50. Jahrestag des Münchner Olympia-Attentats. In diesem Kontext wurden RIAS Bayern 17 antisemitische Vorfälle bekannt. So zeigte etwa ein Security-Mitarbeiter israelischen Sportlern auf dem Olympia-Gelände den Hitlergruß. Auch antisemitische Leserbriefe wurden in bayerischen Zeitungen abgedruckt.
Bundesweit diskutiert wurde das Theaterstück „Vögel“, nachdem jüdische Studierendenverbände im Zuge einer Aufführung in München das Stück kritisiert hatten. In diesem Kontext dokumentierte RIAS Bayern 23 antisemitische Vorfälle, so erhielt etwa der Verband jüdischer Studenten in Bayern antisemitische Zuschriften.
In 50 Prozent der Fälle war ein bestimmter politisch-weltanschaulicher Hintergrund der Täter:innen nicht zu erkennen. Oftmals handelt es sich um Vorfälle, bei denen außer etwa der abschätzig intendierten Aussage „Du Jude!“ keine weiteren Informationen vorliegen, anhand derer ein bestimmter politischer Hintergrund ersichtlich wird. Bei den Fällen mit einem bestimmbaren politischen Hintergrund steht an erster Stelle mit 100 Vorfällen das verschwörungsideologische Milieu, wobei hier die Abgrenzung zum Rechtsextremismus oft schwierig zu bestimmen ist.
RIAS Bayern weist darauf hin, dass von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist. Die Abnahme an bekannt gewordenen Vorfällen bedeutet nicht, dass „der Antisemitismus“ entsprechend weniger wurde.
Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden.
RIAS Bayern existiert seit 2019, befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.
Zur Veröffentlichung des Jahresberichts 2022 von RIAS Bayern äußerten sich:
Ulrike Scharf
Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales (förderndes Ministerium von RIAS Bayern) und Schirmherrin des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD, Träger von RIAS Bayern):
„In Bayern ist kein Platz für Antisemitismus. Wir sagen: Null Toleranz gegenüber Judenhass! Als Sozialministerium unterstützen wir den Kampf gegen Antisemitismus mit konkreten Projekten. Jeder Vorfall muss ernst genommen werden, jeder Vorfall muss ans Licht der Öffentlichkeit. Die Aufklärung durch RIAS Bayern ist dabei unverzichtbar. Ich danke RIAS Bayern für diese Grundlagenarbeit an unserer Demokratie!“
Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern:
„83 Prozent der von RIAS Bayern dokumentierten Vorfälle wurden als verletzendes Verhalten kategorisiert – ein Großteil bewegte sich unter der Schwelle des Strafrechts. Dass, was RIAS Bayern als ‚relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen‘ technisch richtig beschreibt, treibt mich in hohem Maße um. Es zeigt eine Geisteshaltung, die, ohne in den strafrechtlichen Bereich zu rutschen, jüdisches Leben nicht zu Deutschland zählt. Dagegen gilt es sich jeden Tag einzusetzen!“
Ludwig Spaenle
Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe und Schirmherr des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD, Träger von RIAS Bayern):
„Die Recherche- und Informationsstelle Bayern leistet durch den jährlichen Bericht einen wichtigen Beitrag dazu, dass antisemitische Vorfälle in der Gesellschaft auch wirklich wahrgenommen werden. Die steigenden Zahlen der gemeldeten Fälle wie vor allem auch die hohe Anzahl von antisemitisch motivierten Straftaten belegen, dass die Kultur des Hinschauens in unserer Gesellschaft dringend geboten ist. Staat und Gesellschaft dürfen nicht nachlassen, gegen Judenhass und Antisemitismus mit Nachdruck anzugehen.“
Michael Movchin
Vorsitzender des Verbands jüdischer Studenten in Bayern (VJSB):
„Der RIAS-Jahresbericht 2022 zeigt, dass es auch in Bayern keine antisemitismusfreien Räume gibt. Die steigende Verbreitung von Verschwörungserzählungen und politischen Querfronten birgt eine erhebliche Gefahr für unsere Demokratie und jüdisches Leben in diesem Land. Ich bin dankbar dafür, dass dem Judenhass ausgesetzte Personen sich vertrauensvoll an RIAS wenden können, selbst dann, wenn es sich nicht um strafrechtlich relevante Taten handelt.“
Pressekontakt: Felix Balandat, presse@rias-bayern.de
Zur Veröffentlichung (PDF): „Antisemitische Vorfälle in Bayern 2022“
Antisemitismus prägt den Alltag deutscher Jüdinnen_Juden. Bundesverband RIAS veröffentlicht Analyse zu jüdischen Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland.
28. Februar 2023
Berlin, 28. Februar 2023
Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) hat über 150 Interviews mit jüdischen Gemeinden und Einzelpersonen in ganz Deutschland ausgewertet. Die Analyse der zwischen 2017–2020 durchgeführten Interviews liegt erstmals der Öffentlichkeit vor.Antisemitismus ist alltagsprägend
Antisemitismus ist für Jüdinnen_Juden in Deutschland ein alltagsprägendes Phänomen, dies zeigt die Publikation „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017–2020“, welche der Bundesverband RIAS am 28. Februar 2023 veröffentlicht. Die Befragten berichten von antisemitischen Vorfällen beim Zahnarzt, bei der Abschlussfeier an der Schule oder bei der Wohnungssuche. Für Jüdinnen_Juden in Deutschland hat dies grundlegende Auswirkungen, etwa darauf, wie offen sie sich als jüdisch zu erkennen geben.
Wahrnehmung von Antisemitismus unterscheidet sich
Die Auswertung kommt zum Ergebnis, dass Jüdinnen_Juden Antisemitismus zum Teil ganz anders wahrnehmen als die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Besonders deutlich wird dies bei Fragen der Sicherheit. Viele Befragte berichteten nicht nur von antisemitischen Vorfällen, sondern auch von Entsolidarisierung angesichts solcher Vorfälle. „[D]as bringt einen in eine ganz isolierte Situation“, so beschreibt ein Interviewpartner die Situation nach dem rechtsextremen Terroranschlag in Halle und Wiedersdorf 2019.
Jüdische Perspektiven müssen berücksichtigt werden
Der Bundesverband RIAS setzt sich dafür ein, dass Betroffenenperspektiven systematisch berücksichtigt werden. Mit der Publikation Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017–2020 liegt eine Analyse von sechs Aspekten vor, die für Betroffene von Antisemitismus besonders relevant sind: die Auswirkungen des Terroranschlags in Halle und Wiedersdorf auf Jüdinnen_Juden, die Folgen von Antisemitismus im Wohnumfeld der Betroffenen, die Effekte von israelbezogenem Antisemitismus sowie individuelle Umgangsweisen. Darüber hinaus wird untersucht, inwieweit politisch-weltanschauliche Hintergründe eine Rolle spielen und wie sich das Verhältnis zu den Strafverfolgungsbehörden darstellt.
Für Rückfragen oder Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an Marco Siegmund, Referent für Öffentlichkeitsarbeit unter: presse@report-antisemitism.de oder 0176 345 451 55
Stimmen zur Veröffentlichung der Publikation „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017–2020“
Daniel Poensgen
Wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband RIAS und Autor der Analyse:
„Die systematische Berücksichtigung jüdischer Perspektiven auf Antisemitismus ist für dessen Bekämpfung unerlässlich. Was für die Mehrheitsgesellschaft vermeintlich politische Debatten über Israel sind, betrifft Jüdinnen_Juden in Deutschland ungewollt in ihrem Alltag: Sie werden beleidigt, bedroht, müssen sich rechtfertigen und erfahren Entsolidarisierungen. Hieß es nach dem Terroranschlag von Halle und Wiedersdorf von Politiker_innen, eine solche Tat sei unvorstellbar gewesen, zeigen die Interviews, dass Jüdinnen_Juden eine derartige Tat fürchteten. Die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft muss in ihrem Bemühen, Antisemitismus zu bekämpfen, derartige Stimmen nicht nur ernst, sondern zu ihrem Ausgangspunkt nehmen.“
Michaela Fuhrmann
Leiterin für Politische Beziehungen, Jüdische Gemeinde Frankfurt a.M.:
„Antisemitismus gehört leider zum Alltag vieler jüdischer Menschen. Diese Publikation zeigt noch einmal sehr deutlich, wie vielschichtig und virulent er ist. Ob in Form des klassischen Antisemitismus, des sekundären Antisemitismus oder des israelbezogenen Antisemitismus, ob in offener oder latenter Form – Antisemitismus hat viele Ausdrucksformen, die aber für nichtjüdische Menschen oft nicht wahrnehmbar sind. Daher ist es umso wichtiger, jüdische Perspektiven auf den Antisemitismus zu berücksichtigen und ihnen die notwendige Aufmerksamkeit zu geben. Nur so kann die dringende Sensibilisierung für dieses gesamtgesellschaftliche Problem erfolgen und Antisemitismus erfolgreich bekämpft werden.“
Aron Schuster
Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST):
„Jüdinnen und Juden sind von Antisemitismus und Mehrfachdiskriminierung betroffen. Die Erkenntnis, dass es einer Sichtbarmachung jüdischer Perspektiven bedarf, ist eine neue Entwicklung. Umso wichtiger ist es, dass dieses Wissen andere erreicht. Publikationen wie die Vorliegende tragen dazu bei, dass Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft für die andauernde Bedrohung zu sensibilisieren. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), als sozialer Dachverband der jüdischen Gemeinden stärkt die jüdische Identität und das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft seit Jahrzehnten. Während RIAS-Meldestellen das Ausmaß des Antisemitismus erfasst, sorgen die ZWST gemeinsam mit der Beratungsstelle OFEK dafür, dass es immer mehr geschützte Räume und professionelle Beratung gibt, um mit diesen Erfahrungen umzugehen.“
Sabena Donath
Direktorin der Bildungsabteilung, Zentralrat der Juden in Deutschland:
„Die Publikation des Bundesverbands liefert eine systematische Dokumentation der Lebensrealität von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Dies ist insofern ein Meilenstein auf dem Weg zur Entkräftung mehrheitsgesellschaftlicher Zerrbilder, als dass aus den Befunden konkrete Inhalte für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit abgeleitet werden können. Klar ist: Es bedarf auch künftig der Verankerung jüdischer Perspektiven auf institutioneller Ebene: in der (sozial-)wissenschaftlichen Forschung, in Schulcurricula und den verschiedensten Kontexten außerschulischer Bildung. Mit der entstehenden Jüdischen Akademie des Zentralrats der Juden in Deutschland schaffen wir dafür den geeigneten Ort.“
Abwehrreflexe verhindern Auseinandersetzung mit Antisemitismus
15. November 2022
RIAS BayernAbwehrreflexe verhindern Auseinandersetzung mit Antisemitismus
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern unterstützt jüdische Studierendenverbände in ihren Forderungen nach einer Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Inszenierung des Theaterstücks ‚Vögel‘. Nach Einschätzung von RIAS Bayern enthält die Aufführung in einem Münchner Theater antisemitische Aussagen, die im Lichte der antiisraelischen Stoßrichtung des Werkes zu verstehen sind. Die reflexhafte Abwehr der Kritik verhindert eine inhaltliche Auseinandersetzung.
Nachdem jüdische Studierende eine Inszenierung des Stücks ‚Vögel‘ von Wajdi Mouawad am Münchner Metropoltheater besucht hatten, veröffentlichten die jüdischen Studierendenverbände VJSB und JSUD einen offenen Brief, in dem sie ihr Entsetzen über antisemitische Darstellungen in dem Werk ausdrücken.
„Auf Grundlage der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus und unter Berücksichtigung des stückimmanenten Kontexts sind diverse Passagen der Aufführung als antisemitisch einzustufen“, sagt RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı. So sagt etwa eine jüdische Hauptfigur in „Vögel“: „Wenn Traumata Spuren in den Genen hinterließen, die wir unseren Kindern vererben, glaubst du, unser Volk ließe dann heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die es selbst erlitten hat?“
Hier wird die Situation von Palästinenser:innen mit der Verfolgung der Juden und damit der Schoah gleichgesetzt, die Ermordung der europäischen Juden relativiert. Gleichzeitig wird die Existenz transgenerationaler Traumata durch die Schoah infrage gestellt.
In dem Stück finden sich weitere ähnliche, ungebrochene Aussagen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Juden tendenziell rassistisch und in erster Linie verantwortlich für palästinensisches Leid seien.
In Reaktion auf den offenen Brief verteidigten unter anderem das Kultureferat der Stadt München, der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude und der Intendentat des Metropoltheaters Jochen Schölch die Inszenierung gegen die Kritik.
„In den Aussagen finden sich Kernelemente der Abwehr, die den kritisierten Antisemitismus bagatellisieren und den ‚Antisemitismusvorwurf‘ zum eigentlichen Skandal machen wollen. Die viel zitierte Freiheit der Kunst ist ein Scheinargument, dass leider häufig zu hören ist, wenn es um Antisemitismus beziehungsweise um sogenannte ‚Israelkritik‘ geht. Könnte es keine inhaltliche Kritik an Kunstwerken geben, wären Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften im Ganzen obsolet. Eine Auseinandersetzung mit kulturellen Erzeugnissen kann und muss auch inhaltlich sein. Weiter ist die Rede von der Kunstfreiheit und einer Komplexität, denen immanent sei, dass auch „Verletzungen passieren“ könnten. Es ist angesichts einer immer wieder behaupteten Sensibilität für Betroffene erstaunlich, dass Jüdinnen und Juden ihre 'Verletzungen' bitte aushalten mögen“, sagt Annette Seidel-Arpacı.
„Jochen Schölch nennt die Kritik ein 'moralisches Fallbeil'. Zu einem Fallbeil gehört eine Hinrichtung und damit ein Henker. Hier klingt eine Täter-Opfer-Umkehr an: Die Betroffenen von Antisemitismus werden zu Tätern, er selbst beziehungsweise das Theater zu Opfern einer zu unrecht gegen sie gerichteten Kampagne“, so Seidel-Arpacı weiter.
Auch bei der von Christian Ude geäußerten Unterstellung, den jüdischen Studierendenverbänden ginge es nicht um Antisemitismus, sondern sie wollten mit einem Antisemitismusvorwurf um den 9. November herum ein „Reizthema“ setzen, handelt es sich um eine Verschiebung.
Solche Unterstellungen eines hintergründigen Plans, dem das Benennen von Antisemitismus lediglich – und bewußt – vorgeschoben sei, lehnen sich an das antisemitische Motiv der jüdischen Lüge, Intrige und Uneigentlichkeit an.
Die Abwehrreflexe im Zuge der Kritik an „Vögel“ verhindern eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Solche Reflexe sind in allen gesellschaftlichen Milieus gang und gäbe, auch, wie hier, im sich aufgeklärt wähnenden Kulturbereich. Je angesehener die Kritisierten, desto eher schlägt dieser Reflex in einen Angriff auf den Überbringer der schlechten Nachricht um: Die Kritiker:innen und vor allem die Betroffenen des Antisemitismus.
Antisemitismus kennt vielfältige Ausprägungen, was nicht zuletzt die antisemitischen Darstellungen auf der documenta15 zeigten. Im September hat RIAS Bayern eine Analyse veröffentlicht, die sich mit dem Post-Schoah-Antisemitismus, dem Antisemitismus nach der Schoah, auseinandersetzt. Darin wird auch aufgezeigt, wie sich Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr mit israelbezogenem Antisemitismus in akademischen Kreisen und dem Kulturbereich verbinden.
Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter https://www.rias-bayern.de oder unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden. RIAS Bayern befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.
Zur Veröffentlichung (PDF): „Abwehrreflexe verhindern Auseinandersetzung mit Antisemitismus“
Jahresbericht 2021 des Bundesverbands RIAS e.V.: Sieben antisemitische Vorfälle pro Tag: Bundesverband RIAS stellt Bericht „Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2021“ vor
28. Juni 2022
Berlin, 28. Juni 2022
Die RIAS-Meldestellen haben für das Jahr 2021 bundesweit 2.738 antisemitische Vorfälle erfasst. Das sind im Schnitt über sieben Vorfälle pro Tag – an jedem sechsten Tag wurde ein antisemitischer Angriff bekannt. Dies geht aus dem heute in Berlin veröffentlichten Bericht „Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2021“ des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus hervor. Der Bericht kann unter http://report-antisemitism.de/publications/ eingesehen werden.Angriffe und Extreme Gewalt
RIAS hat 2021 mehr Vorfälle mit einem hohen Gewaltpotential erfasst als im Vorjahr, darunter 6 Fälle extremer Gewalt und 63 antisemitische Angriffe. Zu den Fällen extremer Gewalt zählten unter anderem ein Angriff auf einen jüdischen Teilnehmer einer Mahnwache für Israel und gegen Antisemitismus in Hamburg, bei dem der Betroffene schwer verletzt wurde. Im August wurde in Berlin festgestellt, dass ein jüdisches Gemeindehaus beschossen worden war. Zwei Fälle extremer Gewalt mit Todesfolge wurden mit antisemitischen Verschwörungsmythen legitimiert.
Antisemitismus ist Alltag
Antisemitismus ist für Jüdinnen_Juden in Deutschland weiterhin ein alltagsprägendes Phänomen. So wurden dem Bundesverband RIAS 128 Vorfälle im Wohnumfeld der Betroffenen bekannt. Diese führen häufig zu einer dauerhaften Verschlechterung der Lebensqualität. Ein Betroffener schilderte gegenüber dem Bundesverband RIAS, dass er im Oktober vor seiner Wohnungstür Geräusche hörte. Am nächsten Tag stellte er fest, dass die an seiner Tür angebrachte Mesusa – eine Kapsel, die einen Tora-Auszug enthält – gestohlen worden war. 2021 waren insgesamt 964 Einzelpersonen von antisemitischen Vorfällen unmittelbar betroffen, 518 davon waren jüdisch oder israelisch.
Gesellschaftliche Gelegenheitsstrukturen
Zwei Anlässe prägten das Vorfallgeschehen im Jahr 2021: Die Coronapandemie sowie die Eskalation des arabisch-israelischen Konflikts im Mai. Fast ein Drittel aller RIAS bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle standen im Zusammenhang mit der Coronapandemie. Hierbei handelte es sich überwiegend um Vorfälle verletzenden Verhaltens wie Schmierereien, Aussagen auf Demonstrationen oder in adressierten Online-Kommentaren. Die Zahl Schoa-relativierender Selbstviktimisierungen, beispielsweise wenn Gegner_innen der Coronamaßnahmen sogenannte Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ trugen, stieg im Vergleich zum Vorjahr an.
Im Mai 2021 kam es zudem bundesweit zu einem starken Anstieg antisemitischer Vorfälle mit Bezug zur neuerlichen Eskalation des arabisch-israelischen Konflikts. 60 % aller im Monat Mai erfassten Vorfälle (315 von 518) hatten einen Bezug zu diesem Konflikt. Dies bedeutete für Betroffene ein besonders hohes Bedrohungspotenzial: Allein in der Woche ab dem 10. Mai dokumentierten die RIAS-Meldestellen zehn Angriffe, 16 gezielte Sachbeschädigungen und 14 Bedrohungen in diesem Kontext. Antisemitische Bedrohungen fanden häufig online in Sozialen Medien statt und richteten sich gegen erkennbare Jüdinnen_Juden sowie gegen Personen, die ihre Solidarität mit Israel ausdrückten. RIAS dokumentierte 2021 mehr antisemitische Vorfälle aus dem verschwörungsideologischen Spektrum sowie aus jenem des antiisraelischen Aktivismus als noch im Vorjahr. Nach wie vor wurden die meisten Vorfälle jedoch dem Rechtsextremismus zugeordnet. In den Bericht flossen die dokumentierten Vorfälle von acht landesweiten Meldestellen ein, Vorfälle aus dem übrigen Bundesgebiet dokumentiert der Bundesverband selbst.
Stimmen zum Jahresbericht 2021
Benjamin Steinitz
Geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle und Straftaten in Deutschland ist nach wie vor groß. Nur durch die zivilgesellschaftliche Dokumentation, welche auch Unterstützung für Betroffene vermittelt, ist es möglich das Dunkelfeld zu erhellen. Mittlerweile erfolgt diese Arbeit in der Mehrheit der Bundesländer vor Ort. Unser Bericht zeigt, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland nach wie vor unter dem Vorwand, Kritik an Israel äußern zu wollen, angegriffen und angefeindet werden. Staat und Zivilgesellschaft müssen den Betroffenen von Antisemitismus den Rücken stärken, auch indem sie Antisemitismus klar benennen und kritisieren. Die IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus ist ein passendes Instrument, um die vielfältigen Formen des Antisemitismus sichtbar zu machen. Politisch motivierte Scheindebatten um ihre Legitimität lenken hingegen davon ab, welche Folgen Antisemitismus für Betroffene hat“
Daniel Poensgen
wissenschaftlicher Referent beim Bundesverband RIAS:
„Angesichts der Coronapandemie und des arabisch-israelischen Konflikts entstanden Gelegenheitsstrukturen, in denen Menschen es als legitim erachteten, ihre antisemitischen Haltungen noch offener zu artikulieren und Jüdinnen_Juden anzugreifen und anzufeinden. Dabei gibt es durchaus Unterschiede: Vorfälle mit Bezug zur Coronapandemie stellten trotz inhaltlicher Verschiebungen das ganze Jahr über eine Art Grundrauschen in Deutschland dar. Im Mai 2021 hingegen kam es zu einen sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle mit Stereotypen des israelbezogenen Antisemitismus, zum Teil waren diese Vorfälle sehr gewaltvoll: Synagogen wurden beschädigt, Jüdinnen_Juden sowie politische Gegner_innen angegriffen. Diese Entwicklung ließ schnell wieder nach, zeigt aber das Potenzial des israelbezogenen Antisemitismus für gewaltvolle antisemitische Eskalationen“
Dr. Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:
„Die stetig steigende Zahl antisemitischer Vorfälle macht seit einigen Jahren eine Enthemmung in Teilen der Bevölkerung sichtbar. Antisemitische Haltungen werden immer häufiger ohne Scheu offen artikuliert, sowohl im Netz als auch auf der Straße. Das wurde etwa bei den Demonstrationen der Corona-Leugner und Impfgegner deutlich. Diese Enthemmung ist ein gefährlicher Nährboden, denn aus Worten werden Taten. Die erschreckend hohe Zahl extremer antisemitischer Gewalttaten im Berichtsjahr 2021 ist daher kein Zufall. Wir brauchen die langfristige politische Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie flächendeckend Fortbildung bei Polizei und Justiz, um den Antisemitismus in der Gesellschaft zu erkennen, zu ahnden und endlich wieder zurückzudrängen.“
Marina Chernivsky
Geschäftsführerin von OFEK e.V., Beratungsstelle bei antise- mitischer Gewalt und Diskriminierung:
„Der Anstieg und die Zuspitzung antisemitischer Vorfälle bundesweit zeigt die Virulenz und gesellschaftliche Normalität des Antisemitismus. Der Bericht unterstreicht die Präsenz des Post-Schoa-Antisemitismus wie auch des israelbezogenen Antisemitismus in allen Teilen der deutschen Gesellschaft. Diese Befunde decken sich weitgehend mit wissenschaftlichen Studien, aber auch mit den Berichten der Betroffenen. Jüdinnen_Juden erleben allzu oft, dass ihre Perspektiven nicht ernst genommen werden. Die einheitliche, bundesweite Erfassung antisemitischer Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze ist daher eine wichtige Grundlage für die Sichtbarmachung des Antisemitismus und seiner Wirkung auf die Betroffenen.“
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutsch- land und den Kampf gegen Antisemitismus:
„Um Antisemitismus gezielt zu bekämpfen, brauchen wir ein möglichst umfassendes Lagebild, das auch einen elementaren Baustein der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben bildet – ich freue mich sehr, dass der Bundesverband RIAS als eines der wichtigsten Vorhaben meiner Amtszeit so erfolgreich dazu beiträgt und sich die Zahl der Meldestellen, die sich am Jahresbericht 2021 beteiligt haben, im Vergleich zum Vorjahr sogar verdoppelt hat. Der Bericht zeigt, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches und vielgestaltiges Phänomen ist und immer wieder neuen Anlässen angepasst wird, im letzten Jahr vor allem den so genannten Corona-Protesten und dem arabisch-israelischen Konflikt. Judenhass bedroht unsere Demokratie als Ganze, auch deshalb müssen wir dagegen fest zusammenstehen und Wehrhaftigkeit beweisen.“
Der Bundesverband RIAS e.V. wurde im Oktober 2018 gegründet. Er verfolgt das Ziel, bundesweit eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten und die Interessen von Trägern und Projekten regionaler Meldestellen für antisemitische Vorfälle gegenüber der Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung zu vertreten.
Mehr antisemitische Vorfälle in Bayern dokumentiert
25. April 2022
RIAS BayernMehr antisemitische Vorfälle in Bayern dokumentiert
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) dokumentierte 2021 im dritten Jahr in Folge mehr antisemitische Vorfälle. 447 Fälle wurden im Freistaat erfasst, ein Zuwachs von 82 Prozent im Vergleich zu 2020. Besonders auffällig zeigte sich Antisemitismus im Kontext von Coronaprotesten, antiisraelischen Versammlungen und Direktnachrichten im Internet.
Ein Jude wurde am Münchner Marienplatz beschimpft und bespuckt, im oberbayerischen Kolbermoor wurde auf einem Stromkasten die Parole „Juden stecken hinter Corona“ hinterlassen und auf einer antiisraelischen Versammlung in München wurden die israelischen Streitkräfte mit Wehrmachtssoldaten verglichen.
„Insbesondere die Vorfälle im Alltag und das nahezu reflexartige Ausleben von Ressentiments auf der Straße, im Wohnumfeld und sogar im Bekanntenkreis zeugen von einer alltäglichen ‚Normalität‘, die unerträglich ist“, sagte RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı bei der Vorstellung des RIAS-Jahresberichts für 2021.
RIAS Bayern dokumentierte drei Angriffe, 15 Bedrohungen, 21 gezielte Sachbeschädigungen, 32 Massenzuschriften und 376 Fälle von verletzendem Verhalten. In letztere Kategorie fallen antisemitische Vorfälle, die oft keinen Straftatsbestand erfüllen. Antisemitismus zeigte sich in Bayern insbesondere als relativ niedrigschwelliges Alltagsphänomen.
Inhaltlich trat er am häufigsten als Post-Schoah-Antisemitismus auf. Dabei handelte es sich oft um Verhöhnungen der Opfer der Schoah im Kontext der Coronapandemie, etwa durch das Tragen von „gelben Sternen“ bei Coronaprotesten. Ein starkes Wachstum von 45 auf 155 Fälle wurde im Online-Bereich festgestellt. Hierbei handelt es sich häufig um antisemitische Beleidigungen bis hin zu Bedrohungen in Direktnachrichten in sozialen Netzwerken.
Bei 61 Prozent der Fälle ist ein bestimmter politisch-weltanschaulicher Hintergrund der Täter:innen nicht zu erkennen. Oftmals handelt es sich um Vorfälle, bei denen außer etwa der abschätzig intendierten Aussage „Du Jude!“ keine weiteren Informationen vorliegen, anhand derer ein bestimmter politischer Hintergrund ersichtlich wird. Bei den Fällen mit einem festgestellten politischen Hintergrund steht an erster Stelle mit 78 Vorfällen das verschwörungsideologische Milieu. Bei 42 Vorfällen ist ein rechtsextremer Hintergrund bekannt geworden, wobei der antiisraelische Aktivismus mit 36 Fällen nur knapp darauf folgt.
RIAS Bayern weist darauf hin, dass von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist. Der Anstieg von 82 Prozent an bekannt gewordenen Vorfällen bedeutet nicht automatisch, dass „der Antisemitismus“ um 82 Prozent zugenommen hat. Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter https://www.rias-bayern.de oder unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden. RIAS Bayern existiert seit 2019, befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.
Stimmen zur Veröffentlichung
Ulrike Scharf
Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, förderndes Ministerium von RIAS Bayern:
„In Bayern ist kein Platz für Antisemitismus. Wir sagen: Null Toleranz gegenüber Judenhass! Als Sozialministerium unterstützen wir den Kampf gegen Antisemitismus mit konkreten Projekten. Jeder Vorfall muss ernst genommen werden, jeder Vorfall muss ans Licht der Öffentlichkeit. Die Aufklärung durch RIAS Bayern ist dabei unverzichtbar. Ich danke RIAS Bayern für diese Grundlagenarbeit an unserer Demokratie!“
Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern:
"Antisemitismus wird von den Strafverfolgungsbehörden nicht immer erkannt. Es bleibt so oft den jüdischen Betroffenen überlassen, die Vorfälle anzuzeigen und einzuordnen. Das darf nicht sein. Auch wenn mit den RIAS-Meldestellen ein nahezu bundesweit aktives, niedrigschwelliges Erfassungssystem installiert ist, so müssen wir dennoch mit einer enorm hohen Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle rechnen, die gar nicht erst gemeldet werden. Sei es, weil die Betroffenen sich keine Hoffnung machen, dass die Täter gefasst werden, weil sie nicht glauben, dass sie bestraft werden oder weil sie kein Vertrauen in die Polizei setzen, dass die Vorfälle dort ernst genommen werden. Daher war es ein wichtiger Schritt, dass neben der Gründung von RIAS Bayern auch Antisemitismus-Beauftragte an den bayerischen Staatsanwaltschaften berufen wurden. Vieles hat sich diesbezüglich schon verbessert, aber wir müssen gemeinsam noch besser werden! Und das können wir auch. Denn eins ist klar: Die 447 antisemitischen Vorfälle, die RIAS Bayern 2021 erfasst hat, sind 447 zu viel!"
Ludwig Spaenle
Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe und Schirmherr des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD, Träger von RIAS Bayern):
„Rund 450 antisemitische Vorfälle in Bayern, die bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern 2021 gemeldet wurden, und die deutliche Zunahme gegenüber dem Vorjahr machen mich betroffen. Auch die antisemitischen Straftaten in Bayern, die die Polizei registriert, nehmen zu. Das ist Anlass genug, nicht nur zu reagieren, sondern aktiv zu handeln. Wir müssen noch mehr als bisher auf Gruppen, Organisationen und Einrichtungen in Bayern zugehen. Wir müssen sie für Antisemitismus sensibel machen und über Möglichkeiten dagegen vorzugehen informieren. Straftäter müssen konsequent juristisch verfolgt werden. Und wir brauchen ein Gesamtkonzept gegen Antisemitismus.“
Alexandra Dratva
Vorstandsmitglied des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD, Träger von RIAS Bayern):
„Ich habe in meiner Jugend selbst Antisemitismus erlebt und hatte keine Ansprechperson, an die mich wenden konnte. RIAS Bayern bietet durch ihre vertrauliche Arbeit mit einem Fokus auf die Perspektive der Betroffenen ein niedrigschwelliges zivilgesellschaftliches Angebot, das dazu beiträgt, das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle zu erhellen. Mir ist es dabei wichtig, dass der Kampf gegen Antisemitismus als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen und nicht der jüdischen Bevölkerung überlassen wird.
Zur Veröffentlichung (PDF): „Antisemitische Vorfälle in Bayern 2021“
Antisemitismus auf antiisraelischen Versammlungen weit verbreitet
1. Oktober 2021
RIAS BayernAntisemitismus auf antiisraelischen Versammlungen weit verbreitet
Auf den antiisraelischen Versammlungen in Bayern 2021 war israelbezogener Antisemitismus stets präsent, wie eine Broschüre der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern zeigt.
Im Mai 2021 kam es zu massiven Kampfhandlungen zwischen der israelischen Armee und palästinensischen Terrororganisationen. Im Zuge dessen wurden auch in Bayern zahlreiche Versammlungen mit Bezug zum Nahostkonflikt durchgeführt.
Wie aus der nun erschienenen Broschüre „‚From the river to the sea‘ – Israelbezogener Antisemitismus in Bayern 2021“ der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern hervorgeht, hat die Einrichtung bei allen 22 beobachteten Versammlungen antisemitische Inhalte festgestellt. Hinzu kamen, abseits der Versammlungen, eine gezielte Sachbeschädigung, eine Bedrohung, neun Fälle von verletzendem Verhalten und eine Massenzuschrift, die sich in antisemitischer Weise auf Israel bezogen.
So wurde am 22. Mai 2021 auf einer Kundgebung in Passau auf Arabisch die Parole „Juden, erinnert euch an Khaybar, Palästina kommt zurück!“ gerufen. Khaybar war der islamischen Überlieferung nach eine von Juden besiedelte Oase, die von Mohammed erobert wurde. Die Broschüre dokumentiert auch anhand zahlreicher Fotos weitere typische Fälle von israelbezogenem Antisemitismus: zum Beispiel die Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus, die Darstellung Israels als rassistischer Apartheidsstaat und Vernichtungsfantasien gegenüber dem jüdischen Staat.
RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı sagt: „Der Antisemitismus zeigte sich einmal mehr als wandelbares Phänomen, das an aktuelle politische Entwicklungen anknüpft und sich in verschiedensten Milieus artikuliert. Dass Antisemitismus nie weit entfernt ist, wenn Israel im Fokus der Weltöffentlichkeit steht, ist nicht überraschend. Denn der israelbezogene Antisemitismus ist eine der gesellschaftlich kaum geächteten und somit attraktiven Ausdrucksformen des Antisemitismus nach der Schoah.“
Die RIAS-Bayern-Veröffentlichung geht außerdem der Frage nach, was israelbezogener Antisemitismus ist und wie er sich in verschiedenen politischen Milieus äußert. In einem eigenen Kapitel beschreiben bayerische Jüdinnen und Juden, wie sie die antiisraelischen Versammlungen einschätzen und welche Erfahrungen sie während der jüngsten Welle antiisraelischer Agitation machen mussten.
Die Broschüre ist online als PDF abrufbar, Printexemplare können kostenfrei unter info@rias-bayern.de bestellt werden.
Stimmen zur Veröffentlichung
Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern:
„In einem besorgniserregenden Ausmaß hat sich in Deutschland eine ablehnende Haltung gegenüber Israel breitgemacht, die häufig nichts anderes ist als verkappter Antisemitismus. Besonders beunruhigend ist dabei die Tatsache, dass die Menschen, die ihre überzogene Kritik an Israel äußern, ihren eigenen Antisemitismus gar nicht bemerken und den Vorwurf, sie äußerten sich antisemitisch, mit Empörung von sich weisen. Broschüren wie die vorliegende von RIAS Bayern sind ein wertvoller Baustein für Aufklärung und Fortbildung. Ich wünsche der Publikation viele Leser und bin zuversichtlich, dass wir mit vereinten Kräften auch den israelbezogenen Antisemitismus erheblich zurückdrängen können!“
Carolina Trautner
Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales:
„Die antisemitischen Ausschreitungen im Mai 2021 haben mich sehr erschüttert. In dieser informativen Broschüre verdeutlicht RIAS Bayern, was israelbezogener Antisemitismus ist und wie dieser in unserer Gesellschaft zum Ausdruck kommt. RIAS Bayern leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für diese Problematik. Wir müssen unsere demokratische Gesellschaft und insbesondere auch die jungen Menschen stark machen gegen Antisemitismus, in all seinen unterschiedlichen Formen. Die von uns geförderten Maßnahmen und Projekte im Bereich der Radikalisierungsprävention setzen genau da an.“
Meldestelle registriert leichten Anstieg von antisemitischen Vorfällen in Brandenburg
10. Juni 2021
RIAS BrandenburgMeldestelle registriert leichten Anstieg von antisemitischen Vorfällen in Brandenburg
Anstieg von antisemitischen Vorfällen im Zusammenhang mit der Verbreitung von Verschwörungsmythen
Im vergangen Jahr dokumentierte RIAS Brandenburg 141 antisemitische Vorfälle. Im Vergleich zum Vorjahr wurden der Meldestelle vier Vorfälle mehr gemeldet. Mit sechs antisemitischen Angriffen blieb das Ausmaß körperlicher Gewalt in Brandenburg im Vergleich zum Vorjahr konstant. Die Zahl der Bedrohungen sank leicht auf 18 Fälle 2020 gegenüber 29 Fällen 2019. Gleiches gilt für die Zahl gezielter Sachbeschädigungen gegen jüdische Einrichtungen sowie Gedenkstätten und Gedenkorte. Hier waren es 2020 13 Fälle gegenüber 17 Fällen 2019. Die Zahl der Vorfälle verletzenden Verhaltens stieg hingegen auf 102 Fälle gegenüber 82 Fällen 2019.
Hierzu erklärt Peter Schüler, Leiter der Fachstelle Antisemitismus:
„Antisemitische Vorfälle bleiben in Brandenburg auf einem hohen Niveau. Besondere Sorge bereitete uns im letzten Jahr die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit der Corona-Krise, die uns auch gegenwärtig weiterhin begleiten“.
Für das Jahr 2020 bewirkte die Corona-Krise Einschränkungen des öffentlichen Lebens, aber auch eine Verbreitung von Verschwörungserzählungen und Protesten gegen staatliche Coronamaßnahmen auf der Straße. 19 antisemitische Vorfälle wiesen 2020 einen Bezug zur Coronakrise auf, 13 davon im Rahmen von Versammlungen.
„Wir beobachten eine Zunahme von antisemitischen Stereotypen und Symbolen sowie Vergleichen und Verharmlosungen des Nationalsozialismus, als Reaktionen auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“, so Dorina Feldmann, Mitarbeiterin von RIAS Brandenburg und der Fachstelle Antisemitismus. „Diese Tendenz verbirgt die Gefahr Anfeindungen gegenüber Jüdinnen und Juden, jüdischen Einrichtungen sowie solchen, die als Projektionen ausgemachte Feind_innen wie etwa Politiker_innen, die Presse oder die Polizei zu normalisieren“.
Mit jeweils der Hälfte des Gesamtanteils waren die häufigsten Erscheinungsformen des Antisemitismus im vergangen Jahr der Post-Schoa-Antisemitismus, also Formen des Antisemitismus, die sich positiv auf den Nationalsozialismus und der Abwehr von Erinnerung an diesen beziehen und antisemitisches Othering. So bezogen sich beispielsweise mehrere Vorfälle im Januar auf den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Der Anteil der Vorfälle, die den Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus zugerechnet werden konnten, stieg von acht auf knapp 18 Prozent. Auch bei Vorfällen mit der Erscheinungsform israelbezogener Antisemitismus gab es einen starken Anstieg mit elf Vorfällen 2020 gegenüber einem Vorfall 2019.
Ein Großteil der Vorfälle der Gesamtheit (31,9 %) ist eindeutig dem rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Hintergrund zuzuordnen. Eine Zunahme von Vorfällen konnte außerdem im verschwörungsideologischen Milieu dokumentiert werden. Über der Hälfte aller Vorfälle (56,7 %) konnte keinem politischen oder weltanschaulichen Hintergrund eindeutig zugeordnet werden.
RIAS Brandenburg ist ein Projekt der Fachstelle Antisemitismus Brandenburg, die beim Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien angesiedelt ist und durch das Handlungskonzept „Tolerantes Brandenburg“ gefördert wird.
Den ganzen Bericht können sie [hier als PDF laden](/documents/RIAS Brandenburg - Antisemitische Vorfälle 2020.pdf)
Den ganzen Bericht können sie hier als PDF laden
Mehr antisemitische Vorfälle in Bayern
3. Mai 2021
RIAS BayernMehr antisemitische Vorfälle in Bayern
Für das Jahr 2020 hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) 239 antisemitische Vorfälle im Freistaat erfasst, 55 mehr als im Vorjahr. Besonders besorgniserregend ist der Anstieg von verschwörungsideologisch geprägten Vorfällen im Zuge der Coronapandemie. Das geht aus einem Jahresbericht hervor, den RIAS Bayern am Montag in München vorstellte.
RIAS Bayern dokumentierte einen Angriff, zehn Bedrohungen, 13 gezielte Sachbeschädigungen, 27 Massenzuschriften und 188 Fälle von verletzendem Verhalten. Auffällig ist die hohe Zahl von 108 Vorfällen, die einen Bezug zur Coronapandemie hatten. So wurde etwa ein Aushang an der Universität Bayreuth, der über Coronamaßnahmen informierte, mit den Worten „Jew World Order“, eine Variation des verschwörungsideologischen Begriffs von einer angeblichen „Neuen Weltordnung“ („New World Order“), beschmiert.
„2020 äußerte sich Antisemitismus im Rahmen von Coronademonstrationen offener als sonst in der Öffentlichkeit. Antisemitismus ist als verbindendes Element der verschwörungsideologischen Szene zu betrachten, in der sich Menschen aller politischen Couleur zusammenfinden“, sagte RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı. „Gleichzeitig muss der alltägliche Antisemitismus, der auch vor Corona da war und der ein Fundament für die antisemitischen Inhalte auf den Demos bildet, im Blick behalten werden“, so Seidel-Arpacı.
Auch bedingt durch die Coronaproteste spielte sich Antisemitismus mit 100 Fällen am häufigsten auf der Straße ab. Die Zahl der Offline-Vorfälle insgesamt nahm von 134 auf 194 Fälle um 45 Prozent zu. Den größten Zuwachs verzeichnete der moderne Antisemitismus, der sich verstärkt in Verschwörungserzählungen mit Coronabezug äußerte. Hier wurden mit 81 Vorfällen mehr als doppelt so viele Fälle wie im Vorjahr registriert. In 128 (54 Prozent) der bekannt gewordenen Vorfälle spielte der antisemitische Bezug auf den Nationalsozialismus und die Ermordung der europäischen Juden eine Rolle. Wie bereits 2019 liegt dieses Motiv den meisten antisemitischen Vorfällen zugrunde.
139 der bekannt gewordenen 239 Fälle (58 Prozent) konnten eindeutig einem bestimmten politischen Hintergrund zugeordnet werden. Mit 78 registrierten Fällen stammte ein Drittel aller Fälle aus dem verschwörungsideologischen Milieu. Diese Kategorie machte 2019 mit zehn Vorfällen nur gut fünf Prozent aus. Während 2019 46 Fälle mit einem rechtsextremen/rechtspopulistischen Hintergrund bekannt geworden sind (25 Prozent), waren es 2020 42 Fälle (18 Prozent). Anders als 2019 standen antisemitische Vorfälle mit einem rechtsextremen/rechtspopulistischen Hintergrund damit 2020 nicht mehr an erster, sondern an zweiter Stelle hinter den Vorfällen mit einem verschwörungsideologischen Hintergrund (33 Prozent).
RIAS Bayern weist darauf hin, dass von einem großen Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle auszugehen ist. Der Anstieg von 30 Prozent an bekannt gewordenen Vorfällen bedeutet nicht automatisch, dass Antisemitismus um 30 Prozent zugenommen hat.
Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder per Telefon unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden. RIAS Bayern existiert seit 2019, befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.
Zur Veröffentlichung des Jahresberichts 2020 von RIAS Bayern äußerten sich:
Carolina Trautner
Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales und Schirmherrin des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD), dem Träger von RIAS Bayern:
„Ich danke RIAS Bayern für die wichtige Dokumentation der antisemitischen Vorfälle in Bayern, die uns auf erschreckende Weise zeigt, wo wir weiter mit der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus ansetzen müssen. Gerade in der jetzigen Corona-Krise geben antisemitische Verschwörungsideologien vermeintlich einfache Erklärungen und Antworten. Dem müssen wir entschieden entgegentreten, denn die Grundpfeiler unserer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft dürfen nicht ins Wanken geraten.“
Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern:
„Den Antisemitismus der Corona-Leugner halte ich für brandgefährlich, weil sich hier Milieus von Rechts bis Links verbinden. Leider können wir nicht davon ausgehen, dass dieser Hass mit dem Ende der Pandemie verschwindet. Wir brauchen ein konsequentes Vorgehen von Polizei und Justiz gegen alle radikalen Kräfte. Auch die genaue Erfassung der antisemitischen Vorfälle ist wichtig. Daher bin ich sehr dankbar für die Arbeit von RIAS Bayern.“
Ludwig Spaenle
Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung und Schirmherr des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD), dem Träger von RIAS Bayern:
„Die Zahl antisemitischer Straftaten hat in Deutschland auf 2275 und in Bayern auf 353 weiter deutlich zugenommen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Auch unterhalb der Ebene der strafrechtsrelevanten Taten müssen wir eine erschreckende Entwicklung von Judenfeindschaft zur Kenntnis nehmen, wie der Bericht von RIAS Bayern zeigt. Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zum Schutz vor Corona und das Internet sind Treiber dieser Entwicklung. Staat und Gesellschaft müssen dagegen vorgehen. Im Alltag müssen wir zu einer Kultur des Hinschauens und der Solidarität finden. Bei Straftaten ist Repression durch Polizei und Justiz gefragt. Langfristig aber sind Wissen und Bildung der nachhaltigste Weg. Denn Wissen und Bildung ändern das Bewusstsein.“
Alexandra Poljak
Vorstandsmitglied des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD), Träger von RIAS Bayern:
„Der Jahresbericht 2020 zeigt: Antisemitismus ist ein alltagsprägendes Phänomen. Neben einer konsequenten strafrechtlichen Ahndung ist auch jeder Einzelne gefragt, antisemitischen Äußerungen in seinem Umfeld zu widersprechen. Im Kampf gegen Antisemitismus müssen zivilgesellschaftliche Initiativen weiter gestärkt werden.“
Pressekontakt: Felix Balandat, presse@rias-bayern.de
Antisemitismus in Sachsen – Studie des Bundesverband RIAS e.V. vorgestellt
23. Februar 2021
Bundesverband RIAS e.V.Antisemitismus in Sachsen: Für Betroffene Alltag, von Behörden häufig ignoriert – Studie des Bundesverband RIAS e.V. vorgestellt
Dresden, 23. Februar 2021
Jüdische Sächs_innen berichten von einer häufig gleichgültigen Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber offenem Antisemitismus. Im Kontext vieler antisemitischer Vorkommnisse auf Versammlungen in Dresden wird zudem eine starke Diskrepanz zwischen der polizeilichen Statistik und den Einschätzungen der Zivilgesellschaft deutlich. Diese Bestandsaufnahme leistet die „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen“, die der Bundesverband RIAS e.V. am heutigen Dienstag vorstellte.Die Studie setzt sich zusammen aus einer Analyse polizeilicher und zivilgesellschaftlicher Daten zu antisemitischen Vorfällen und Straftaten im Bundesland und einer Befragung jüdischer Communities vor Ort. Die „Problembeschreibung“ ist unter report-antisemitism.de/publications einzusehen.
Insgesamt 19 leitfadengestützte Interviews mit 23 Vertreter_innen jüdischer Gemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Akteur_innen führte der Bundesverband RIAS e.V. in Sachsen durch. Die Befragten berichteten dabei von sämtlichen Formen des Antisemitismus im Freistaat – sowohl in Hinblick auf die inhaltlichen Ausprägungen als auch auf die Art der Vorfälle, welche bis zu extremer Gewalt reicht. Sie erwähnten vielfältige Milieus als Träger_innen von Antisemitismus in Sachsen, allen voran, jedoch rechtspopulistische und rechtsextreme Akteur_innen. Antisemitismus ist, wie in anderen Bundesländern auch, eine den Alltag von sächsischen Juden und Jüdinnen prägende Erfahrung.
Einige Interviewte berichteten von einer teilnahmslosen Haltung der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft bei offen antisemitischen Äußerungen. Sie äußerten infolge schlechter Erfahrungen und geringer Erwartungshaltungen deutliche Vorbehalte gegenüber der Polizei. Hingegen ist die Vermeidung in der Öffentlichkeit als jüdisch erkennbar zu sein, eine verbreitete Umgangsstrategie der Befragten.
Zusätzlich wertete der Bundesverband RIAS e.V. für den Zeitraum zwischen 2014 und 2019 insgesamt 712 antisemitische Vorfälle und Straftaten – von verbalen Anfeindungen über gezielte Sachbeschädigungen bis hin zu Gewalttaten – aus. Im Schnitt wurden in Sachsen jede Woche fast drei antisemitische Vorfälle bekannt, über die Hälfte davon in Chemnitz, Dresden und Leipzig. Gerade hier zeigte sich, wie sehr eine sensibilisierte Zivilgesellschaft die Sichtbarkeit von antisemitischen Vorfällen begünstigt. Die Diskrepanz zwischen zivilgesellschaftlichen und polizeilichen Erhebungen zeigt sich insbesondere im Kontext antisemitischer Inhalte auf Versammlungen unter freiem Himmel: Allein in der Landeshauptstadt wurden 33 solche antisemitischen Vorfälle bekannt, von denen lediglich drei auch in der polizeilichen Statistik auftauchten.
Stimmen zur Veröffentlichung der „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen“
Benjamin Steinitz
geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Es gibt neben Berlin keine andere deutsche Stadt, in der über viele Jahre hinweg so regelmäßig Versammlungen mit offen antisemitischen, rassistischen, demokratie- und medienfeindlichen Inhalten zu beobachten sind, wie in der sächsischen Landeshauptstadt. Nicht nur anlässlich des Jahrestags der Bombardierung Dresdens, sondern auch im Umfeld von PEGIDA-Versammlungen werden regelmäßig Bagatellisierungen, aber auch strafbare Leugnungen der Schoa sowie antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet. Auch unsere Untersuchung bildet hierzu nur einen Ausschnitt ab. Sie verdeutlicht auch die Wichtigkeit einer systematischen und kontinuierlichen zivilgesellschaftlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle im Freistaat.“
Dr. Nora Goldenbogen
Vorsitzende des Landesverbands Sachsen der Jüdischer Gemeinden:
„Für Jüdinnen und Juden kommt die Bedrohung in Sachsen aus mehreren Richtungen, allem voran aber natürlich durch den Schulterschluss von Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Ebenso besorgniserregend ist für unsere Gemeinden das spürbare Beschweigen dieser Bedrohung in Teilen der Gesellschaft. Gerade hier muss die Zivilgesellschaft, aber auch die Politik noch proaktiver und ausdauernder Position gegen Antisemitismus beziehen. Präventionsprojekte gegen Antisemitismus müssen dringend vervielfacht und dauerhaft gefördert werden.“
Dr. Thomas Feist
Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für das Jüdische Leben:
„Die vorliegende Studie öffnet den Blick auf die Herausforderungen im Bereich der Antisemitismusprävention ebenso wie für die Anforderungen der im Koalitionsvertrag vereinbarten Einrichtung einer niedrigschwelligen Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus und psychosozialer Beratungsstelle für Betroffene. Ich bin mir sicher, dass die nun veröffentlichte Studie eine gute Grundlage für die weitere Arbeit der Staatsregierung ist und auch der parlamentarischen Arbeit damit eine gute, faktenbasierte Informationsquelle zur Verfügung steht.“
Zsolt Balla
Landesrabbiner von Sachsen; Mitglied des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Zu oft wurden unsere Erfahrungen mit Antisemitismus bagatellisiert. Zudem wussten wir nicht wo wir uns hinwenden können und haben so viele unserer Erlebnisse für uns behalten. Als Gründungsmitglied des Bundesverbands RIAS e.V. weiß ich, dass RIAS fest an der Seite der Betroffenen steht und unsere Sorgen ernst nimmt. Nur wenn wir anfangen unsere alltäglichen Erfahrungen konsequent an unsere Freunde von RIAS zu melden, wird sich die allgemeine Situation auch irgendwann verbessern.“
Grit Hanneforth
Geschäftsführerin des Kulturbüro Sachsen e.V.:
„Wir beobachten seit einigen Jahren, wie ausgehend von der gut organisierten extremen Rechten im Bundesland, antisemitische Vorfälle immer weiter zunehmen. Die Proteste gegen die Maßnahmen der Corona-Pandemie haben antisemitische Denkmuster noch einmal befeuert. Der Freistaat Sachsen hat gerade erst begonnen mit einer ernsthaften Auseinandersetzung mit diesem Thema. Sowohl von staatlicher, wie auch von zivilgesellschaftlicher Seite müssen wir Antisemitismus in den nächsten Jahren konsequent zurückdrängen.“
Broschüre zu antisemitischen Verschwörungserzählungen und Corona
18. Januar 2021
RIAS BayernBroschüre zu antisemitischen Verschwörungserzählungen und Corona
Verschwörungserzählungen haben sich im Zuge der Coronapandemie in Bayern weit verbreitet. Dabei spielt Antisemitismus eine wichtige Rolle, wie eine neue Broschüre der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) zeigt.
Am 9. Mai 2020 wurde auf einer „Coronademo“ in München eine Fotomontage gezeigt, auf der Menschen von Polizisten gewaltsam „zwangsgeimpft“ werden. Auf den Uniformen ist ein an den Davidstern angelehntes Emblem mit der Inschrift „Zion“ zu sehen. RIAS Bayern hat allein zwischen dem 1. Januar und dem 31. Oktober 2020 58 derartige antisemitische Vorfälle mit einem verschwörungsideologischen Hintergrund dokumentiert. 46 davon wurden auf Kundgebungen und Demonstrationen bekannt, die sich meist gegen die tatsächlichen oder imaginierten staatlichen Maßnahmen zum Infektionsschutz richteten.
In der Broschüre „‚Das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen‘ – Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona“ geht RIAS Bayern den Fragen nach, warum Antisemitismus so eine große Rolle im verschwörungsideologischen Milieu spielt, warum Verschwörungserzählungen für bestimmte Menschen attraktiv sein können und wie man darauf reagieren kann. In einem ausführlichen Glossar beleuchten die Verfasser anhand von Beispielen von bayerischen „Coronademos“ die geläufigsten Verschwörungserzählungen und ihre Verbindungen zum Antisemitismus: Von der „Adrenochrom“-Erzählung, die als eine modernisierte Form der mittelalterlichen Ritualmordlegende zu betrachten ist, bis zur Vorstellung von einer „Zionist Occupied Government“ (ZOG), einer „zionistisch besetzten Regierung“.
RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı sagte: „Die Denkstruktur von Verschwörungserzählungen funktioniert analog zu jener des Antisemitismus. Eine vermeintliche kleine, geheim agierende Elite, die für „das Volk“ Böses, für sich selbst aber Profit, Macht und Kontrolle wolle, steuere die Geschicke der Welt. Entweder sind also Verschwörungserzählungen ohnehin schon antisemitisch, oder sie sind aufgrund dieser strukturellen Gleichheit sehr anschlussfähig für offenen Antisemitismus, den Wahn von der „jüdischen Weltverschwörung“. Wir beobachten mit Sorge eine Radikalisierung im verschwörungsideologischen Milieu. Dies ist besonders bedenklich, da Antisemitismus dazu drängt, auch zur physischen Tat zu schreiten.“
Die Broschüre ist als PDF online abrufbar, Printexemplare können unter info@rias-bayern.de bestellt werden.
Neuer Träger für Antisemitismus-Meldestelle RIAS Bayern
13. Januar 2021
RIAS BayernNeuer Träger für Antisemitismus-Meldestelle
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) ist zum 1. Januar 2021 in die Trägerschaft eines neugegründeten Vereins übergegangen. RIAS Bayern nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf und unterstützt Betroffene von Antisemitismus in Bayern. Für die Schirmherrschaft des neuen Trägervereins „Verein für Aufklärung und Demokratie e.V.“ (VAD) konnten Sozialministerin Carolina Trautner und Ludwig Spaenle, Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, gewonnen werden. Die Aufbauphase von RIAS Bayern fand unter dem Dach des Bayerischen Jugendrings (BJR) statt.
„Der Verein für Aufklärung und Demokratie wird, auch im Einklang mit dem Bundesverband RIAS e.V., das unabhängige Netz von Akteuren, die sich Antisemitismus entgegenstellen, weiter vergrößern. Dabei liegt uns insbesondere der Austausch mit der jüdischen Gemeinschaft in Bayern am Herzen“, sagte Alexandra Poljak, Vorstandsmitglied des VAD.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, erklärte: „Die Covid-19-Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuniger. Judenhass und Holocaustrelativierung grassieren im Netz und auf der Straße. Das zeigt: Die Erfassung antisemitischer Vorfälle ist noch wichtiger geworden. Für die Arbeit in neuer Trägerschaft wünsche ich RIAS Bayern viel Erfolg!“
Carolina Trautner, Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales und Schirmherrin des VAD, sagte: „Die erschreckende Anzahl antisemitischer Vorfälle unterstreicht die Notwendigkeit von RIAS Bayern. Daher unterstütze ich die wichtige Arbeit der Meldestelle auch ideell als Schirmherrin über den neu gegründeten zivilgesellschaftlichen Verein und bedanke mich beim Bayerischen Jugendring, insbesondere dem Präsidenten, Matthias Fack, für die engagierte Aufbauarbeit.“
Auch Ludwig Spaenle, Antisemitismusbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, begrüßte als Schirmherr die neue Trägerschaft: „Die niederschwellige Anlaufstelle für antisemitische Vorfälle konnte im Freistaat unter dem Dach des Bayerischen Jugendrings ihre Arbeit aufnehmen und professionell weiterentwickeln. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Recherche- und Informationsstelle sage ich aufrichtigen Dank. Nun steht die Stelle durch den ,Verein für Aufklärung und Demokratie e.V.‘ auf eigenen organisatorischen Füßen. Ich danke ausdrücklich dem Bayerischen Jugendring für seine Starthilfe und den engagierten Mitgliedern und Vorständen des neu gegründeten Vereins für ihre künftige Arbeit. Ich freue mich auf die enge Zusammenarbeit zugunsten einer Gesellschaft, in der Jüdinnen und Juden gern leben mögen und ohne Beeinträchtigung ihren Alltag gestalten können.“
RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı bedankte sich beim BJR für die hervorragende Unterstützung beim Aufbau und freut sich darüber, dass die Stelle nun von einem neuen zivilgesellschaftlichen Verein getragen wird.
BJR-Präsident Matthias Fack sagte rückblickend auf die Aufbauphase: „Wir freuen uns, dass es in einem großen Kraftakt in weniger als zwei Jahren gelungen ist, den Aufbau einer zivilgesellschaftlichen Meldestelle erfolgreich umzusetzen. Das Projekt leistet heute einen nachhaltigen Beitrag im Kampf gegen Antisemitismus. Ohne die gute und stets zielorientierte Zusammenarbeit aller Beteiligten wäre dieser wichtige Schritt in der noch jungen Geschichte von RIAS Bayern nicht so schnell möglich gewesen.“
Europäische Kommission und die IHRA veröffentlichen Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus
8. Januar 2021
Bundesverband RIAS e.V.Europäische Kommission und die International Holocaust Remembrance Alliance veröffentlichen Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus
Read english text version below or download as pdf
Ein heute vorgestelltes „Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ zeigt, in welchen Bereichen innerhalb der Europäischen Union und des Vereinigten Königreichs die Arbeitsdefinition Antisemitismus von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren genutzt wird.
Im Mai 2016 bezeichnete ein Politiker im katalanischen Parlament den Präsidenten der jüdischen Gemeinde Barcelonas als fremden Agenten einer „zionistischen Lobby“, welche die Agenda des Parlaments bestimme. Nachdem im Dezember 2017 die US-Regierung entschied, die US-Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, griffen mehrere Personen mit Brandbomben eine Synagoge in Göteborg an. Im November 2020 nannte der Direktor eines staatlichen Museums in Ungarn den jüdischen Schoa-Überlebenden George Soros als „liberalen Führer“, der Europa in eine „Gaskammer“ verwandle und Menschen kontrolliere, als wäre sie Bauern auf einem „weltweiten Schachbrett“.
Diese Beispiele aus dem Handbuch verdeutlichen: Antisemitismus prägt das alltägliche Leben von Jüdinnen und Juden in Europa und kommt in allen politischen Spektren vor. Die IHRA-Definition hilft dabei, antisemitische Erscheinungsformen in unterschiedlichsten Kontexten zu erkennen: im öffentlichen Leben, in sozialen Medien, Schulen, am Arbeitsplatz, in den Medien und im religiösen Bereich.
Das Handbuch erläutert und veranschaulicht alle Dimensionen der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus anhand von 22 antisemitischen Vorfällen und Straftaten in ganz Europa. Basierend auf 71 Datensätzen aus 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich präsentiert das Handbuch zudem 35 Good-Practice-Beispiele für die praktische Anwendung der Definition in den Bereichen Strafverfolgung, Justiz, Bildung, staatliche Förderung, Sport und Zivilgesellschaft. Zu diesem Zweck befragten die Autor_innen des Handbuchs jüdische Gemeinden, Vertreter_innen der Zivilgesellschaft, Mitglieder der Arbeitsgruppe Antisemitismus der Europäischen Kommission sowie Expert_innen der IHRA und der EU-Grundrechteagentur.
Das von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene und gemeinsam mit der International Holocaust Remembrance Alliance mit Unterstützung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft herausgegebene Handbuch wurde vom Bundesverband RIAS erstellt. Das Handbuch kann auf der Webseite des Bundesverbands RIAS unter https://report-antisemitism.de/documents/IHRADefinition_Handbook.pdf und auf der Webseite der Europäischen Union unter https://data.europa.eu/doi/10.2838/72276 heruntergeladen werden.
Stimmen zur Veröffentlichung des Handbuchs zur praktischen Anwendung der IHRA-Definition von Antisemitismus:
Benjamin Steinitz
Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS e.V. und Mitautor:
„Die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus ist essentiell für zivilgesellschaftliche Bemühungen zur Bekämpfung von Antisemitismus, da sie alle unterschiedlichen Facetten des heutigen Antisemitismus beschreibt, einschließlich jener Formen, die sich gegen Israel als jüdisches Kollektiv richten. Die konsequente Verwendung dieser Definition in der Ausbildung von Polizei und Justiz sowie von Lehrkräften und anderem Personal des öffentlichen Dienstes würde die Sensibilität für aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus verbessern und so einen gemeinsamen Bezugsrahmen mit den jüdischen und zivilgesellschaftlichen Wahrnehmungen von Antisemitismus herstellen.“
Katharina von Schnurbein
Beauftragte der Europäischen Kommission für die Bekämpfung von Antisemitismus und die Förderung jüdischen Lebens:
„Die rechtlich nicht bindende Arbeitsdefinition der IHRA bietet eine gute Grundlage um die gängigen zeitgenössischen Formen des Antisemitismus zu erkennen. Antisemitismus ist eine Gefahr für die jüdische Bevölkerung und unsere demokratische Grundordnung. Das Handbuch wird staatlichen Organen und zivilgesellschaftlichen Organisationen auf ganz praktische Weise helfen was die Prävention und Reaktion auf antisemitische Vorfälle, aber auch Opferschutz, Datenerhebung oder die Wahrnehmung von antisemitistischer Ressentiments betrifft.“
Michaela Küchler
Vorsitzende der IHRA und Sonderbeauftragte des Auswärtigen Amtes für Beziehungen zu jüdischen Organisationen, Holocaust-Erinnerung, Antisemitismus-Bekämpfung und internationale Angelegenheiten der Sinti und Roma:
„Die Arbeitsdefinition des Antisemitismus der IHRA hilft uns, zu einem gemeinsamen Verständnis des Antisemitismus zu gelangen. Sie hat vor allem unter politischen Entscheidungsträgern das Bewusstsein dafür geschärft, dass dieses gefährliche Phänomen in allen Gesellschaften vorkommt. Es bleibt jedoch noch viel zu tun, um Institutionen ebenso wie jeden einzelnen für die Existenz des Antisemitismus zu sensibilisieren. Die IHRA-Arbeitsdefinition kann dabei als Instrument der Aufklärung und Anleitung zum Handeln sehr hilfreich sein. Das vorliegende Handbuch vereint bewährte Verfahren und Beispiele dafür, wie man tätig werden kann.“
Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus:
„Nach intensiver Vorbereitungszeit ist mit dem Praxishandbuch für die IHRA-Definition nun eine Anwendungshilfe vorgelegt worden, die sowohl die Nutzung innerhalb der EU skizziert als auch die Definition erklärt und verdeutlicht und damit einen echten Mehrwert liefert. Ich freue mich, dass dieses hilfreiche Handbuch nun die Anwendung der IHRA-Definition erleichtert.“
English version:
European Commission and International Holocaust Remembrance Alliance publish a Handbook for the Practical Use of the IHRA Working Definition of Antisemitism
A new handbook illustrates where and how the International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) Working Definition of Antisemitism is already being implemented by European, national or regional authorities and civil society organisations in the European Union and the United Kingdom: The Handbook for the Practical use of the IHRA Working Definition of Antisemitism was presented by the Federal Association of Departments for Research and Information on Antisemitism (Bundesverband RIAS) on Friday.
In May 2016, addressing the Catalonian parliament a politician called the president of Barcelona’s Jewish community a “foreign agent” from an alleged “Zionist lobby” that defines the Parliament’s agenda. In December 2017, after US government’s decision to move the US embassy in Israel from Tel Aviv to Jerusalem, individuals threw firebombs at the synagogue in Gothenburg. In November 2020, a Hungarian official and museum director called Jewish Shoah survivor George Soros a “liberal leader”, accused Soros of turning Europe into a “gas chamber” and claimed that he controls people as if they were pawns on a “worldwide chessboard”.
These examples – included in the Handbook – illustrate: Antisemitism shapes everyday life of Jews in Europe and occurs in all political spectrums. The IHRA Working Definition of Antisemitism helps recognising manifestations of antisemitism in various contexts, including public life, social media, schools, the workplace, media and the religious sphere.
The Handbook explains and illustrates all dimensions of the IHRA Working Definition of Antisemitism based on 22 antisemitic incidents and criminal offenses across Europe. Based on 71 data sets from 27 EU Member States and the UK, the Handbook presents 35 good-practice examples of the definition’s practical application in the areas of law enforcement, judiciary, education, government funding, sports, and civil society. For this purpose, the Handbook authors surveyed Jewish communities, representatives of civil society, members of the European Commission’s antisemitism working group, and experts from IHRA and the EU Fundamental Rights Agency.
The Handbook commissioned by the European Commission and published jointly with the International Holocaust Remembrance Alliance, with support of the German Presidency of the Council of the European Union, was prepared by the Bundesverband RIAS which conducted the research. You can find the Handbook on the website of the Bundesverband RIAS under https://report-antisemitism.de/documents/IHRADefinition_Handbook.pdf or on the website of the European Union under https://data.europa.eu/doi/10.2838/72276.
European Commission and International Holocaust Remembrance Alliance publish a Handbook for the Practical Use of the IHRA Working Definition of Antisemitism
Benjamin Steinitz
Bundesverband RIAS Executive Director and Co-author
“The IHRA Working Definition of Antisemitism is essential for civil society efforts combating antisemitism, since it describes all of the different facets of present-day antisemitism, including those forms that target Israel conceived as a jewish collectivity. Consistently using this definition for training police and judiciary, as well as teachers and other public service personel would improve sensitivity for current manifestations of antisemitism and ensure a common frame of reference with Jewish and civil society perceptions of antisemitism.”
Katharina von Schnurbein
European Commission coordinator on combating antisemitism and fostering Jewish life:
“The non-legally binding IHRA working definition of antisemitism serves as a basis for recognizing and addressing all forms of contemporary antisemitism. Antisemitism constitutes a threat to the Jewish community and to democratic values. In a very practical way, this handbook will help state authorities and civil society way to prevent and address antisemitic incidents, support victims, improve data collection of incidents, and increase awareness.”
Michaela Küchler
IHRA chairwomen and Federal Foreign Office Special Representative for Relations with Jewish Organisations, Issues Relating to Antisemitism, International Sinti and Roma Affairs, and Holocaust Remembrance:
“The IHRA Working Definition of Antisemitism helps to reach a common understanding of antisemitism. It has raised awareness, especially among policymakers, that this dangerous phenomenon exists in all societies. However, we still have much work to do in terms of sensitizing individuals and institutions to the existence of antisemitism. The IHRA Working Definition of Antisemitism can serve as a useful educational tool in this regard - and for action. This handbook assembles good practices and examples for action.”
Felix Klein
Federal Government Commissioner for Jewish Life in Germany and the Fight against Antisemitism:
“After intensive preparations, the practitioners’ handbook on the IHRA definition is now ready to use. By outlining the definition’s use in the EU as well as explaining and illustrating the definition, the manual provides genuine added value. I am very pleased that this helpful manual will now make it easier to apply the IHRA definition.”
Gemeinsame PM zur bevorstehenden Urteilsverkündung im Halle-Prozess
18. Dezember 2020
Bundesverband RIAS e.V.Gemeinsame Pressemitteilung zur Urteilsverkündung im Halle-Prozess am 21. Dezember 2020
„Im Gerichtssaal werde ich ständig daran erinnert, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind.“ – Talya Feldman, Überlebende des Halle-Attentats im Schlusswort am OLG Naumburg
„Alle, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einsetzen, sollten den Nebenkläger*innen für ihren Mut und ihr gesellschaftliches Engagement dankbar sein.”
Zur Urteilsverkündung im Prozess zum mörderischen antisemitisch, rassistisch und misogyn motivierten Attentats in Halle (Saale) stellen der Verband der Opferberatungsstellen, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V., OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung sowie die prozessbegleitenden Dokumentations- und Rechercheplattformen NSU Watch, Zentrum für demokratischer Widerstand e.V. – democ.de und Belltower News die Forderungen der Überlebenden des Attentats durch die gemeinsame Veröffentlichung ihrer Schlussworte in den Mittelpunkt. Und sie erinnern an eine der zentralen Bitten der Überlebenden: dass die Berichterstattung auf die Namensnennung des Täters verzichtet und dabei dem Beispiel der neuseeländischen Medien zum Christchurch Attentat folgt.
„Wir wollen, dass jede und jeder einzelne Überlebende gehört wird. Denn eine effektive Strafverfolgung nach und Prävention von weiteren rechtsterroristisch, antisemitisch und rassistisch motivierten Attentaten und Angriffen ist nur möglich, wenn die Perspektiven der Überlebenden und Betroffenen im Mittelpunkt stehen: für die Ermittlungsbehörden, die Justiz, die mediale Berichterstattung und die Gesellschaft “, betont Antje Arndt vom Vorstand des VBRG e.V. und Projektleitung der Mobilen Opferberatung in Sachsen-Anhalt. „Dazu gehört auch, dass die Strafverfolgungsbehörden – die Polizeien der Länder und das BKA sowie die Justiz – Konsequenzen aus ihren Fehlern nach den mörderischen Attentaten in Halle und Hanau sowie nach dem Mord an Walter Lübcke ziehen. Dies gilt sowohl für die mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Überlebenden als auch die mangelnde Bereitschaft und Kompetenz, die on- und offline Netzwerke der Täter auszuermitteln.“
„Die Überwindung der extremtraumatischen Wirkung eines solchen Attentats hängt eng damit zusammen, wie das Umfeld, die Ermittlungsbehörden, die Gesellschaft, Politik und Medien darauf reagieren und wie die Tat aufgearbeitet wird“, sagt Marina Marina Chernivsky, Vorstandsmitglied und Geschäftsführung von OFEK e.V. „Dies kann nur gelingen, wenn die vielen einzelnen Entscheidungsträger*innen und die hiesige Gesellschaft die Bereitschaft entwickeln, Antisemitismus und Rassismus sowie die Bedrohung durch die rechten Strukturen nicht nur einzusehen, sondern auch zu durchdringen und entsprechend zu handeln. Der Prozess in Magdeburg hat hier leider viele Leerstellen und Kompetenzlücken offenbart.“
„Nach dem Anschlag und während des Prozesses gab es zwischen Angehörigen unterschiedlicher Betroffenengruppen eine unglaublich wichtige Solidarisierung. So gelang es, die antisemitische und rassistische Ideologie des Täters, die auf Einschüchterung bis hin zur Vernichtung abzielt erfolgreich zu konterkarieren“, erinnert Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS e.V. „Alle, die sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einsetzen, sollten den Nebenkläger*innen für ihren Mut und ihr gesellschaftliches Engagement dankbar sein.“
„Das Netzwerk der Solidarität, das die Überlebenden des mörderischen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus in Halle, Hanau und Mölln aufgebaut haben, ermutigt viele Menschen, deren Leben durch Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt für immer beeinträchtigt ist, nicht aufzugeben und sich gemeinsam zur Wehr zu setzen,“ sagt Antje Arndt. Dies gelte auch für die solidarischen Initiativen, Projekte und Einzelpersonen, die den Prozess zum Halle-Attentat, die Überlebenden und Hinterbliebenen in Hanau und im OLG Frankfurt-Verfahren zum Mordversuch an Ahmed I. und Dr. Walter Lübcke begleiten.
Auf den folgenden Websites der Projekte und Initiativen, die den Prozess in den letzten vier Monaten begleitet und dokumentiert haben, finden Sie die Schlussstatements von Überlebenden des Anschlags auf die Synagoge und den Kiez Döner am 9. Oktober 2020 in Deutsch und Englisch:
Kontakt für weitere Informationen
Antje Arndt, Mitglied im Vorstand des VBRG e.V. und Projektleitung der Mobilen Opferberatung in Sachsen-Anhalt: arndt@mobile-opferberatung.de
Angriff zerstört Fenster der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen
23. November 2020
SABRA & Bundesverband RIAS e.V.Angriff mit einer Steinplatte zerstört Fenster der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen am helllichten Tag
Gegen 12:30 Uhr am Freitag, den 20. November, warf ein unbekannter Täter eine große Steinplatte auf ein Fenster der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen. Rabbiner Shmuel Aronov befand sich zur Tatzeit in den Räumlichkeiten der Kultus-Gemeinde, um sich auf den Schabbat vorzubereiten. Glücklicherweise kam durch den gezielten Angriff keine Person zu Schaden.
Eine Aufzeichnung der Videoüberwachung der Gemeinde zeigt, wie das mehrere Kilo schwere Wurfgeschoss an der schusssicheren Fensterscheibe abprallt und diese komplett zersplittert. Die Überwachungskamera der Gemeinde zeigt den Täter, zudem dabei, wie er ungestört Anlauf nahm und nach der Tat wegrannte. Bereits Tage zuvor wurde ein Betonblock auf ein Fenster der Essener Kultus-Gemeinde geworfen und verursachte einen geringen Sachschaden.
Sophie Brüss
Referentin der Düsseldorfer Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit SABRA, die zur Jüdischen Gemeinde Düsseldorf gehört
„Wir sind schockiert über diese Tat. Der Vorfall reiht sich ein in eine besorgniserregende gesellschaftliche Entwicklung, die wir alle spüren. Dass der Täter am helllichten Tag, an einer vielbefahrenen Straße, die Zeit findet, einen sichtlich schweren Gegenstand ungestört gegen das Fenster der Kultus-Gemeinde zu schleudern und unerkannt zu entkommen, macht mich fassungslos und hat mich aber nicht überrascht.“
Dr. Oded Horowitz
Vorstandsvorsitzender des Landesverbands
„Wir sind in Gedanken bei den Mitgliedern der Jüdischen Kultusgemeinde Essen, bei Rabbiner Aronov, der den Anschlag miterlebte, sowie bei der Gemeindevertretung. Wir erwarten eine lückenlose Aufklärung des Vorfalls sowie die Bestrafung des Angreifers. Darüber hinaus appellieren wir an die Landesregierung und die zuständigen Behörden, endlich für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens zu sorgen, bevor es zu Schlimmerem kommt.“
Benjamin Steinitz
Geschäftsführer des Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.
stellt hierzu fest: „Jüdische Einrichtungen sind seit Jahrzehnten ständiges Ziel für gewaltbereite Antisemit_innen unterschiedlichster politischer Couleur. Neben der Bedrohung durch Rechtsextreme, werden die Angriffe auf Beter_innen, Bedrohungen und gezielte Sachbeschädigungen gegen die Gemeinden auch immer wieder mit Bezugnahmen auf den Islam oder den Nah-Ost-Konflikt kommentiert.“
Beide Angriffe auf die Jüdische Kultus-Gemeinde Essen reihen sich ein in eine Reihe von bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen in den vergangenen Wochen, die sich gegen Juden und Jüdinnen in ihrem Wohnumfeld richteten oder sich im direkten Umfeld von jüdischen Einrichtungen zutrugen.
Berlin, 30. September: Gemeindemitglieder entdeckten, dass ein_e unbekannte Täter_in auf die Mesusa am Eingang der Berliner Synagoge Tiferet Israel in Berlin ein Hakenkreuz geschmiert hatte.
Hamburg, 4. Oktober: Ein Militärkleidung tragender Mann griff einen jüdischen Studenten mit einem Klappspaten vor der Eimsbütteler Synagoge in Hamburg an und verletzte ihn schwer.
Erfurt (Thüringen), 9. Oktober: Ein Beifahrer eines vorbeifahrenden Autos rief den Teilnehmenden einer Solidaritäts- und Gedenkveranstaltung vor der Erfurter Synagoge zum Jahrestag des rechtsextremen Anschlags in Halle „Drecksjuden“ zu.
Mönchengladbach (Nordrhein-Westfalen), 1. November: Ein_e unbekannte Täter_in beschmierte den Davidstern im Eingangsbereich der Jüdischen Kultusgemeinde in Mönchengladbach mit einer klebrigen, gelben Substanz.
Dortmund (Nordrhein-Westfalen), 7. & 9. November: Ein_e unbekannte Täter_in beschmierte die Tür und einen Tisch ein Restaurants von jüdischen Inhaber_innen mit Hakenkreuzen sowie dem Schriftzug „Juden Gasthaus“.
Zeitz (Sachsen-Anhalt), 10. November: Ein_e Unbekannte_r schmierte in großen grünen Buchstaben das Wort "Juden" an ein Mehrfamilienhaus. Einer der Bewohner ist durch das Tragen einer Kippa als Jude erkennbar und war bereits 2017 Betroffener eines Angriffs in der Stadt.
Göttingen (Niedersachsen), 15. November: Ein von der Polizei ermittelter Täter legte an dem so genannten Mitzvah Day auf dem Hof der Synagoge in Göttingen mehrere auf Blättern aufgezeichnete Hakenkreuze, sowie ein Drohschreiben ab, in dem er darauf verwies, dass die „Polizei die Menschen nicht schützen“ werde, ab.
München (Bayern), 20. November: Eine Frau stellte ihren Koffer absichtlich am St.-Jakobs-Platz in unmittelbarer Nähe zum Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern ab. In der Folge wurde ein Bombenalarm ausgelöst.
Studie zu Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen vorgestellt
7. September 2020
Bundesverband RIAS e.V.Studie zu Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen vorgestellt: Interviews mit Betroffenen, 1.611 Straftaten und 209 dokumentierte Vorfälle zwischen 2014 – 2018 zeigen Antisemitismus als alltagsprägende Kontinuität für Jüdinnen und Juden
Düsseldorf, 7. September 2020
Im Rahmen eines Fachtages in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf wurde heute im Beisein der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, durch den Bundesverband RIAS e.V. und die Servicestelle SABRA die Studie „Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen. Wahrnehmungen und Erfahrungen jüdischer Menschen“ vorgestellt. Israelbezogener Antisemitismus ist demzufolge eine dominierende Form des Antisemitismus in NRW. Hierin weicht die untersuchte Wahrnehmung von Betroffenen, aber auch die Ergebnisse zivilgesellschaftlicher Dokumentation deutlich von der polizeilichen Kriminalstatistik ab, die Antisemitismus vornehmlich im Phänomenbereich Rechtsextremismus verortet.Die Studie „Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen. Wahrnehmungen und Erfahrungen jüdischer Menschen“ wurde im Auftrag der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen durch SABRA – Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit, Beratung bei Rassismus und Antisemitismus gemeinsam mit Bagrut – Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins e.V., der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. und dem Bundesverband RIAS e.V. erstellt. Die Studie kann digital hier eingesehen werden.
Hierfür wurden zwischen Juli und Dezember 2019 Interviews mit 59 jüdischen Akteur_innen aus ganz Nordrhein-Westfalen geführt. Die Interviews zeigen, dass die Mehrzahl der Befragten sowie der Personen aus ihrem Umfeld im Alltag mit Antisemitismus konfrontiert sind. Dieser äußert sich in verletzendem Verhalten, Bedrohungen, aber auch vereinzelt in antisemitischen Angriffen. Alle Befragte erwähnten die Zunahme des israelbezogenen Antisemitismus, insbesondere in Verbindung mit antisemitischen Demonstrationen und Ausschreitungen im Sommer 2014.
Von 209 antisemitischen Vorfällen zwischen 2014–2018, die durch zivilgesellschaftliche Initiativen bekannt gemacht und in der Studie analysiert wurden, waren lediglich 54 Fälle auch in der PMK-Statistik aufgeführt: Etliche Vorfälle und Straftaten, die nach Einschätzung des Bundesverbandes RIAS antisemitisch waren, wurden entweder polizeilich nicht bekannt oder nicht als antisemitisch bewertet. Dies verweist auf eine Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen Jüdinnen und Juden sowie den staatlichen Sicherheitsbehörden und die Notwendigkeit einer systematischen zivilgesellschaftlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle in Nordrhein-Westfalen.
Stimmen zur Veröffentlichung der Studie „Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen. Wahrnehmungen und Erfahrungen jüdischer Menschen“:
Sophie Brüss
Referentin für Antidiskriminierungsarbeit, SABRA:
„Die von uns in Kooperation mit der kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und dem „Bildungsverein“ bagrut e.V. erarbeitete Studie zeigt, dass Antisemitismus kein Rand- sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das kulturell tief verwurzelt ist und auch in die Institutionen wie z.B. Justiz oder Schule greift. Um Jüdinnen und Juden zu schützen und ihr Vertrauen in staatliche Institutionen und in die Zivilgesellschaft zurückzugewinnen, ist es umso wichtiger, tiefgreifende, umfassende und nachhaltige Maßnahmen zu ergreifen. Diese sollten im Idealfall dazu führen, dass Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen angstfrei und offen ihre jüdische Identität ausleben können und als selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft gesehen werden.“
Benjamin Steinitz
Geschäftsführer, Bundesverband RIAS e.V.:
„Die Studie zeigt: Antisemitismus ist in Nordrhein-Westfalen ein enorm vielschichtiges, für die Betroffenen häufig ein alltagsprägendes Phänomen. Das wird in den Schilderungen der Interviewpartner_innen deutlich – es zeigt sich aber auch an der großen Zahl von 1.766 antisemitischen Straftaten und Vorfällen in nur fünf Jahren. Jeden Tag wird eine antisemitischer Vorfall in Nordrhein-Westfalen bekannt. Das Land Nordrhein-Westfalen benötigt dringend eine zivilgesellschaftliche Meldestelle, die Betroffene unterstützt und antisemitische Vorfälle aus Betroffenenperspektive kontinuierlich nach den vom Bundesverband RIAS entwickelten Standards dokumentiert!“
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Antisemitismus-Beauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen:
„Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich: der Anteil antisemitischer Vorfälle im sogenannten Dunkelfeld ist riesig. Beschimpfungen, Schmähungen und Übergriffe werden in der Polizeistatistik nicht vollumfänglich erfasst, prägen aber den Alltag vieler Jüdinnen und Juden in unserem Land. Um diese Vorfälle ans Licht zu bringen und die Präventionsarbeit gegen Antisemitismus mit zielgerichteten Angeboten zu stärken, braucht es einen umfassenden Überblick über die antisemitischen Gefährdungen und deren Ursachen. Zentral ist dafür die Einrichtung einer leicht erreichbaren Anlaufstelle für betroffene Menschen. Eine Meldestelle zu antisemitischen Vorfällen in Nordrhein-Westfalen ist deshalb notwendig, die wir gemeinsam mit Partnern aus der Zivilgesellschaft und der Landesregierung umsetzen.“
Abraham Lehrer
Vorsitzender, Synagogengemeinde Köln, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:
„Ein niedrigschwelliges Meldesystem für antisemitische Vorfälle ist seit langem überfällig. Betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus unseren Gemeinden haben immer wieder über die fehlende Möglichkeit geklagt, sich jemandem zu öffnen oder geeignete Unterstützung und Hilfe in Ihrem Bemühen der Verarbeitung zu erhalten. Sowohl der Zentralrat der Juden in Deutschland, aber auch die Synagogen-Gemeinde Köln wurden von ihren Mitgliedern häufig auf diesen Missstand hingewiesen. SABRA und Bundesverband RIAS sind mit Unterstützung und Beteiligung der Jüdischen Organisationen in diese Lücke gesprungen und leisten hier in NRW und bundesweit eine vorbildliche Arbeit.“
Inna Goudz
Geschäftsführerin, Landesverband der jüdischen Gemeinden von Nordrhein:
„Die vom Bundesverband RIAS e.V. und SABRA durchgeführte und vorgestellte Studie zeigt das erschreckende Ausmaß des in Nordrhein-Westfalen vorhandenen Antisemitismus. Hier wird schwarz auf weiß bestätigt, was die in unserem Verband zusammengeschlossenen Jüdischen Gemeinden uns seit langem berichten: Jüdische Menschen fühlen sich nicht mehr sicher und sind vermehrt antisemitischen Angriffen verschiedenster Art ausgesetzt. Die Studie zeigt aber auch, dass es von großer Bedeutung ist, jüdische Einrichtungen und Institutionen in die Strukturen zur Bekämpfung von Antisemitismus einzubeziehen. Dies unterstützen wir als Landesverband ausdrücklich und fordern die Politik auf entsprechend zu reagieren.“
Antisemitismus floriert in der Coronakrise
16. Juli 2020
RIAS BayernAntisemitismus floriert in der Coronakrise
Im ersten Halbjahr 2020 registrierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) 116 antisemitische Vorfälle - im Vergleich zu 83 Fällen im Vorjahreszeitraum ein Anstieg um 40 Prozent. In 51 Fällen spielte die Coronapandemie eine Rolle.
RIAS Bayern dokumentierte im Freistaat zehn gezielte Sachbeschädigungen, fünf Bedrohungen, neun Massenzuschriften und 92 Fälle verbalen und schriftlichen verletzenden Verhaltes. In letztere Kategorie fielen zum Beispiel 44 Versammlungen, 18 Fälle im Rahmen von Übergriffen und Auseinandersetzungen von Angesicht zu Angesicht und 15 Schmierereien oder Beschädigungen.
Fast die Hälfte der Vorfälle hatte einen Bezug zur Coronapandemie. So wurde am 20. Mai im Englischen Garten in München ein Fußballtrainer, der eine Jacke des jüdischen Sportvereins TSV Maccabi München trug, als „jüdischer Dreckskerl“ beleidigt und Juden in diesem Zusammenhang für Corona verantwortlich gemacht.
Mit dem Aufkommen der ‚Coronarebellen‘ stieg die Zahl bekannt gewordener antisemitischer Vorfälle aus dem verschwörungsideologischen Spektrum auf 28 (2019: 4). RIAS Bayern dokumentierte auf 37 Versammlungen, die sich gegen tatsächliche oder imaginierte Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie richteten, antisemitische Vorfälle. Auf einer ‚Coronademo‘ am 9. Mai in München wurde etwa eine Fotomontage gezeigt, auf der Menschen von Uniformierten gewaltsam ‚zwangsgeimpft‘ werden. Das Emblem auf den Uniformen und den Autos der fiktiven Impfeinheit ist an einen Davidstern angelehnt und trägt die Inschrift ‚ZION‘. Auf mindestens acht Veranstaltungen wurden ‚Judensterne‘ getragen und so die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus verharmlost.
„Die von uns beobachteten Verharmlosungen der Schoah sind ein Schlag ins Gesicht der jüdischen Bevölkerung Bayerns, für die die Schoah Familiengeschichte ist“, sagte RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı. „Besorgniserregend ist insbesondere die Zunahme des Antisemitismus aus dem verschwörungsideologischen Spektrum. Das antisemitische Grundmuster – die Vorstellung einer geheimen, reichen Gruppe, die die Welt beherrscht und die Menschen ins Unglück stoßen will – ist auf den Coronademos weit verbreitet und kann leicht in expliziten Antisemitismus umschlagen. Oftmals reichen jedoch Chiffren wie ‚New World Order‘, ‚Zionisten‘ oder ‚Rothschilds‘, und es ist klar, wer gemeint ist: ‚die Juden‘.“
Auch im ersten Halbjahr 2020 war München, wo RIAS Bayern seinen Sitz hat, mit 50 bekannt gewordenen Fällen der geografische Schwerpunkt antisemitischer Vorfälle. Die erhobenen Zahlen spiegeln jedoch nur einen Ausschnitt des alltäglichen Antisemitismus wider. Die Recherche- und Informationsstelle RIAS Bayern nahm 2019 ihren Betrieb auf. Es ist davon auszugehen, dass mit steigender Bekanntheit in Zukunft auch mehr antisemitische Vorfälle gemeldet und bekannt werden. Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder per Telefon unter 0162 2951 961 gemeldet werden.
Keine Verharmlosung von Antisemitismus und Rassismus – sogenannte „Corona-Proteste“ schüren Hetze und sind Ausgangspunkte für rechte Gewalt!
17. Juni 2020
Bundesverband RIAS e.V.Innenministerkonferenz muss Betroffene von Verschwörungsideologien und extrem rechter Feindeslisten besser schützen.
Berlin, 17. Juni 2020
Von Mittwoch an findet in Erfurt die 212. Sitzung der Innenministerkonferenz statt. Diese tagt in einer gesellschaftlichen Situation, in der eine von Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus geleitete Protestbewegung die staatlichen Maßnahmen gegen die Coronapandemie zum Ausgangspunkt für antisemitische Verschwörungsmythen sowie rassistische Hetze und Gewalt nimmt, warnen Vertreter_innen des Bundesverbandes Mobile Beratung (BMB), des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) sowie des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS).Bundesweit finden seit Anfang April Demonstrationen und Kundgebungen gegen die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie statt. Auch wenn die Beteiligung an diesen Versammlungen zuletzt rückläufig war, bleiben sie gefährlich: Unter dem Deckmantel der Kritik an pandemiebedingten Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten werden extrem rechte Verschwörungsmythen sowie antisemitische, antidemokratische und rassistische Botschaften verbreitet. „Alleine zwischen Februar und April haben die Opferberatungsstellen mehr als 100 Vorfälle von sogenannten Corona-Rassismus registriert – darunter Gewalttaten gegen Menschen im Wohnumfeld, beim Einkaufen oder am Rand der sogenannten Corona-Proteste und massive Bedrohungen von sogenannten politischen Gegner_innen und Journalist_innen,” sagt Kai Stoltmann vom VBRG. Die Expert_innen der Mobilen Beratungsteams beraten zum Umgang mit Verschwörungsmythen und analysieren die Entwicklungen der extremen Rechten und der rechtsoffenen Versammlungen im Kontext der Corona-Pandemie (siehe BMB-Analysepapier).
„Antidemokratische und antisemitische Narrative, verkleidet als legitimer Protest, werden auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft vertreten – das erinnert an die als ‚Sorgen und Ängste‘ getarnten antidemokratischen, autoritären und rassistischen Einstellungsmuster während der Mobilisierungen gegen Geflüchtete ab 2015“, warnt Bianca Klose vom Vorstand des BMB. „Die Innenministerkonferenz sollte nicht die Fehler von damals wiederholen und sich denen zuwenden, die am lautesten schreien – sondern jene schützen, die von Antidemokraten als Feinde markiert werden und von Abwertung, Hetze und Verschwörungsmythen betroffen sind.“
Antisemitische Stereotype bei den Demonstrationen beobachten auch die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus: „Die im Rahmen der Proteste verbreiteten Verschwörungsmythen sind anschlussfähig an offenen Antisemitismus und gehen in zahlreichen beobachteten Versammlungen einher mit der antisemitischen Relativierung der Schoa in Form einer Selbstviktimisierung“, sagt Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS. Nicht nur auf der Straße, sondern auch online sei zudem eine immer offenere Verknüpfung von Verschwörungsmythen und Antisemitismus bis hin zur Schoa-Relativierung zu beobachten, die mit konkreten Bedrohungen gegen Jüdinnen_Juden vor Ort einhergingen. „Zudem berichten uns Betroffene aus unterschiedlichen Bundesländern, dass sie in Alltagssituation wie beim Spazierengehen mit dem Hund für die Corona-Pandemie verantwortlich gemacht und beschimpft worden seien,“ so Steinitz.
„Insbesondere in Ostdeutschland beobachten wir, dass extreme Rechte, Neonazis und AfD-Funktionäre – wie schon bei den rassistischen Mobilisierungen gegen Geflüchtete in 2015 – auch bei den sogenannten ‚Corona-Protesten‘ den Kern der Organisator_innen darstellen,“ sagt Kai Stoltmann vom VBRG. Der offene Rechtsextremismus zeige sich nicht zuletzt auch in der Verbreitung von sogenannten Feindeslisten durch Telegram-Gruppe von Widerstand 2020: „Hier wurden 25.000 Adressen von angeblichen politischen Gegner_innen geteilt, die auf diese Weise schon in den vergangenen Jahren mehrfach von extremen Rechten bedroht wurden,“ so Stoltmann. „Umso notwendiger ist es, dass die Innenministerkonferenz endlich effektive Maßnahmen für einen verbesserten Schutz der Betroffenen von Feindeslisten beschließt – das machen nicht zuletzt auch der Mord an Walter Lübcke und der Nordkreuz-Komplex deutlich.“
RIAS-Meldestelle zieht erste Bilanz: 137 antisemitische Vorfälle in Brandenburg im Jahr 2019
4. Mai 2020
RIAS BrandenburgRIAS-Meldestelle zieht erste Bilanz: 137 antisemitische Vorfälle in Brandenburg im Jahr 2019
Für das Jahr 2019 erfasste die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Brandenburg 137 antisemitische Vorfälle. Mit 23 Fällen fanden die meisten Vorfälle in der Landeshauptstadt Potsdam statt.
Hierzu erklärt Dorina Feldmann, Mitarbeiterin der Fachstelle Antisemitismus und Zuständige für das RIAS-Monitoring:
„Ein Drittel der Vorfälle im Jahr 2019 wurde durch RIAS Brandenburg dokumentiert. Dies veranschaulicht deutlich die Wirkung des Monitorings: Nach einem Jahr konnte das Hellfeld in Brandenburg erheblich ergänzt werden. Viele antisemitische Vorfälle bleiben jedoch weiterhin im Dunkeln.“
Der Leiter der Fachstelle Antisemitismus, Peter Schüler, erklärt dazu:
„Antisemitismus ist und bleibt in Brandenburg ein alltagsprägendes Problem, das belegen die Zahlen des Berichts.“
Elf Vorfälle richteten sich gegen Gedenkorte und Gedenkstätten, sechs gegen Synagogen oder Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinden,ein Vorfall gegen einen jüdischen Friedhof – also gegen Orte, an denen jüdische Tradition gelebt oder an vergangenes jüdisches Leben erinnert wird. Über die Hälfte aller Vorfälle wies Bezüge zum Nationalsozialismus auf. Der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums, Julius H. Schoeps warnt:
„Feststellungen, wie in der jüngsten Umfrage der Zeit, wonach die Hälfte der Deutschen einen “Schlussstrich” der Geschichte wünscht, machen deutlich, wie wichtig es ist, allen Formen von Antisemitismus entgegenzutreten.“
Den ganzen Bericht können sie hier nachlesen.
Mehr Angriffe auf Jüdinnen_Juden, weniger Fälle insgesamt: Antisemitismus bleibt in Berlin bedrohlich
29. April 2020
RIAS BerlinAntisemitismus in Berlin weiterhin alltagsprägend: RIAS Berlin-Bericht über das 1. Halbjahr 2019
Berlin (29. April 2020) – Weiterhin bleibt antisemitische Gewalt in Berlin gerade für Jüdinnen_Juden eine reale Gefahr, auch wenn sich die Gesamtzahl antisemitischer Vorfälle 2019 auf 881 verringerte. Dies geht aus dem Bericht „Antisemitische Vorfälle 2019“ hervor, den die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) heute veröffentlichte.
Mit 881 antisemitischen Vorfällen dokumentierte RIAS Berlin 2019 19 % weniger Vorfälle als im Vorjahr, als die Meldestelle 1.085 Vorfälle erfasste. Für Jüdinnen_Juden hat sich die Bedrohungssituation in Berlin dennoch nicht entspannt: Im vergangenen Jahr 2019 waren mit 213 fast genauso viele jüdische oder als jüdisch wahrgenommene Menschen von antisemitischen Vorfällen betroffen wie im Vorjahr (220). Die Anzahl der erfassten Angriffe auf Jüdinnen_Juden und als solche wahrgenommene Menschen erhöhte sich sogar von 19 auf 25. Auch die Zahl der registrierten antisemitischen Bedrohungen stieg deutlich um 28 % auf 59 Fälle, während im Internet 25 % Vorfälle weniger dokumentiert wurden. Der vollständige Bericht ist online hier zu lesen.
Im Jahr des Terroranschlags auf die Synagoge in Halle (Saale) ging auch in Berlin eine große Gefahr für Jüdinnen_Juden durch den Rechtsextremismus aus: Mit 29 % können diesem Milieu erneut die meisten Vorfälle zugeordnet werden. Auch absolut stieg trotz insgesamt rückläufiger Tendenz die Anzahl rechtsextremer antisemitischer Vorfälle von 251 (2018) auf 258 an. Die am häufigsten erfasste Erscheinungsform des Antisemitismus war die Ablehnung der Erinnerung an die Schoa oder positive Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus.
Täglich wurden in der Bundeshauptstadt über zwei antisemitische Vorfälle bekannt. Häufiger noch als 2018 feindeten die Täter_innen jüdische Personen in deren persönlichen Umfeld an: Beispielsweise wurde im Oktober ein 70-Jähriger beim Spazierengehen mit seinem Hund im Bezirk Pankow zuerst antisemitisch beschimpft und dann angegriffen. Auf ihrem Heimweg von der Synagoge wurde im Bezirk Mitte im Juni eine Gruppe von orthodoxen Synagogenbesucher_innen aus einem Auto heraus beschimpft. Ebenfalls in Mitte hielten im November drei Männer einen Israeli fest, der in der U-Bahn am Telefon Hebräisch sprach, beschimpften ihn und folgten ihm, als er sich losriss und ausstieg.
Hierzu erklärte RIAS Berlin-Projektleiter Benjamin Steinitz: „Weiterhin beobachten wir, dass Täter_innen auf die bloße Anwesenheit hebräischer Sprache, jüdischer Symbole oder religiös konnotierter Kleidung antisemitisch und potentiell gewalttätig reagieren. Der Rückgang von Online-Vorfällen scheint leider nur eine Momentaufnahme gewesen zu sein: Gerade in den letzten Wochen kam es zu einer Reihe gezielter Störungen von Online-Angeboten jüdischer Gruppen.“
Zu einem für das Sicherheitsempfinden von Jüdinnen_Juden besonders heiklem Vorfall kam es Anfang Oktober unmittelbar vor Jom Kippur an der Synagoge in der Oranienburger Straße: Ein mit einem Messer bewaffneter Mann stieg über die Absperrung vor der Synagoge und rief „Allahu akbar“, wobei die anwesende Polizei ihn am weiteren Vorgehen hinderte. Nicht zuletzt Vorfälle wie dieser zeigen die nach wie vor große Gefahr, die von antisemitischer Gewalt – auch aus nicht-rechtsextremen Spektren – ausgeht.
Weitere O-Töne:
Bianca Klose
Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und Geschäftsführerin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V.
„Antisemitismus äußerte sich in Berlin 2019 besonders häufig in der Bekämpfung der Erinnerung an die Shoah. Wir als Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin bemerken diese Tendenz an der steigenden Anzahl von Gedenkstätten und Museen, die wir seit nunmehr zwei Jahren zum Umgang mit diesen Herausforderungen beraten. Rechtsextreme und rechtspopulistische Angriffe auf die kritische Gedenkkultur sind immer auch Angriffe auf zentrale Säulen des demokratischen Miteinanders. Wir sind als Gesellschaft gefordert, die Frage, was und wie heute erinnert wird, mit einer klaren Haltung gegen jeden Antisemitismus zu verbinden.“
Lorenz Korgel
Ansprechperson des Landes Berlin für Antisemitismus:
„Die gegenwärtige Konjunktur antisemitischer Verschwörungstheorien mit Bezug zur Corona-Pandemie macht deutlich, dass der Antisemitismus insbesondere in Krisensituationen immer wieder belebt wird und dann neue wachsende Dynamiken entfalten kann. Die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Beobachtungsstellen wie RIAS Berlin bleibt umso wichtiger. In Gesprächen mit der jüdischen Community wurde mir deutlich, dass Jüdinnen und Juden die unabhängige und nicht-staatliche Erfassung antisemitischer Vorfälle sehr wichtig ist. Die Realität bleibt jedoch: auch die RIAS Berlin-Zahlen können nur einen Teil des Dunkelfeldes erhellen. Die Stadtgesellschaft darf nicht nachlassen, Antisemitismus in allen seinen Formen zu ächten!“
Sigmount Königsberg
Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin:
„Der Anschlag auf die Hallenser Synagoge am Jom Kippur traf uns ins Mark, nicht zuletzt, weil auch Mitglieder unserer Gemeinde dort waren. Bereits der versuchte Messerangriff auf die Synagoge in der Oranienburger Straße am 4.10. verunsicherte uns, vor allem, weil der Täter aus uns nicht nachvollziehbaren Gründen am nächsten Tag auf freien Fuß gesetzt wurde. Auffällig ist, dass bei antisemitischen Vorfällen seitens offizieller Stellen oft von ‚Einzeltätern‘ die Rede ist, als ob der Hass vom Himmel fallen würde. Hier wäre eine sorgfältigere Einordnung wünschenswert, denn Antisemitismus kommt nicht aus dem Nichts, sondern ist im gesellschaftlichen Umfeld eingebettet.“
Bundesverband RIAS e.V. stellt Studie zu Antisemitismus in Sachsen-Anhalt vor
28. April 2020
Bundesverband RIAS e.V. stellt Studie zu Antisemitismus in Sachsen-Anhalt vor – positive Bezüge auf den NS oder Relativierungen der Schoa sind dominierende Formen
Magdeburg, 28. April 2020
Nicht erst seit dem rechtsextremen Terroranschlag in Halle (Saale) im Oktober 2019 ist Antisemitismus für Jüdinnen und Juden in Sachsen-Anhalt alltagsprägend. Das geht aus einer Befragung jüdischer Gemeinden hervor, die der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. heute vorstellte.Die„Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“ wurde vom Bundesverband RIAS e.V. im Auftrag der Landesregierung Sachsen-Anhalt erstellt. Sie setzt sich zusammen aus einer Analyse von polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Daten zu antisemitischen Vorfällen und Straftaten im Bundesland und einer Befragung jüdischer Communities vor Ort.
Der Bundesverband RIAS e.V. führte im vergangenen Sommer 14 leitfadengestützten Interviews mit jüdischen Akteur_innen und Vertreter_innen staatlich geförderter Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Die Befragten gaben an, subtile und unterschwellige Formen von Antisemitismus mit Bezug zur Schoa oder zu Israel würden ihren Alltag prägen. Die Bereitschaft, antisemitische Erfahrungen anzuzeigen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen zu melden, wird von den Befragten als niedrig bewertet. Aufgrund des Terroranschlags im Oktober in Halle ergeben sich neue Herausforderungen für die jüdischen Gemeinden, wie eine schriftliche Nachbefragung offenbarte.
Für den Zeitraum 2014 und 2018 wertete der Bundesverband RIAS e.V. zudem 334 antisemitische Vorfälle – von verbalen und schriftlichen Anfeindungen über Bedrohungen, gezielten Sachbeschädigungen bis hin zu körperlichen Angriffen – aus, von denen 270 auch polizeilich registriert wurden. In der überwiegenden Mehrheit der 334 strafbaren und nichtstrafbaren Vorfälle (63 %) wurde die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen angegriffen oder es fand ein positiver Bezug auf den Nationalsozialismus statt.
Die „Problembeschreibung“ mündet in die Empfehlung, auch in Sachsen-Anhalt eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle und damit eine leichtere Erreichbarkeit für Betroffene einzurichten.
Stimmen zur Veröffentlichung der „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“:
Dr. Reiner Haseloff
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt:
„Auch in Sachsen-Anhalt haben wir ein Antisemitismusproblem - und zwar bereits lange vor dem Terroranschlag von Halle. Dagegen werden wir entschieden vorgehen. Deshalb werden wir die Empfehlung des Bundesverbandes RIAS aufgreifen und auch in Sachsen-Anhalt eine Meldestelle für die Betroffenen einrichten. Darüber hinaus wird die Landesregierung ein ‚Aktionsprogramm gegen Antisemitismus‘ auf den Weg bringen.“
Benjamin Steinitz
geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Aus den Interviews entnehmen wir, dass die jüdische Community sich mit ihren Erfahrungen und Bedürfnissen weitgehend alleine gelassen und wenig ernst genommen fühlte. Gerade nach dem rechtsextremen Anschlag an Yom Kippur sind vor allem die staatlichen Stellen Sachsen-Anhalts gefragt, ihre Haltungen aus der Vergangenheit auf den Prüfstand zu stellen und konsequent gegen jede Form des Antisemitismus vorzugehen.“
Max Privorozki
Vorsitzender des Landesverbands Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt:
„Der Antisemitismus in allen seinen Facetten ist ein Problem nicht nur für die jüdische Gemeinschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft. Wenn sowohl die Zivilgesellschaft als auch die staatlichen Stellen es auch so empfinden, können wir mit vorsichtigem Optimismus in die Zukunft schauen.“
Dr. Wolfgang Schneiß
Ansprechpartner für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus:
„Die Ergebnisse, die die ‚Problembeschreibung‘ zutage fördert, tun weh. Das müssen sie auch. Antisemitismus als Alltagserfahrung, das Gefühl der Betroffenen, mit ihren Erfahrungen im Wesentlichen alleine gelassen zu werden, hunderte von Vorfällen ganz unterschiedlicher Ausprägung, die Polizei und zivilgesellschaftliche Akteure seit Jahren beobachten – das wollen wir auch in Sachsen-Anhalt nicht hinnehmen. Notwendig ist eine breite gesellschaftliche Reaktion gegen Antisemitismus und jede Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.“
Jutta Dick
Direktorin der Moses Mendessohn Akademie Halberstadt:
„Das Land hat in den ersten Wochen und Monaten nach dem Anschlag in Halle tatsächlich mehr Unterstützung auf den Weg gebracht, wofür wir dankbar sind. Es ist nun wichtig diese Arbeit zu verstetigen, so müssen die Bildungsangebote für Jugendliche und Erwachsene unbedingt weiter ausgebaut werden.“
Jahresbericht 2019 des Bundesverbands RIAS e.V.: Mehr als 1.200 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern
28. April 2020
Berlin, 6. Mai 2020
In Bundesländern, in denen sie aktiv sind, zeichnen zivilgesellschaftliche Meldestellen für antisemitische Vorfälle ein präzises Bild über die Verbreitung von Antisemitismus im Alltag. Das ist das Ergebnis des ersten Berichts des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V.Insgesamt dokumentierten die vier 2019 aktiven Meldestellen RIAS Bayern, RIAS Berlin, RIAS Brandenburg und LIDA Schleswig-Holstein 1.253 antisemitische Vorfälle. Die öffentliche Wahrnehmung des Themas Antisemitismus war 2019 stark geprägt durch den rechtsextremen Terroranschlag auf eine Synagoge an Jom Kippur in Halle (Saale). Doch auch in den Regionen, in denen die Meldestellen bislang aktiv sind, gab es einen Fall extremer Gewalt – ein solcher Fall wurde in Bayern dokumentiert. In Berlin versuchte ein Mann zudem, mit einem Messer in eine Synagoge einzudringen. Diese Vorfälle zeigen, dass von antisemitischen Täter_innen eine potentiell tödliche Bedrohung ausgeht. Der vollständige Bericht ist hier einzusehen.
Der Bericht identifiziert einige überregionale Entwicklungen bezüglich der Ausprägungen des Antisemitismus in den abgedeckten Bundesländern. So gehörten zu den am meisten verbreiteten Erscheinungsformen des Antisemitismus in Bayern, Berlin, Brandenburg und Schleswig Holstein 2019 der Post-Schoa-Antisemitismus, der mit unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Schoa und Antisemitismus einhergeht, sowie das antisemitische Othering, in dem Jüdinnen_Juden als nicht zum eigenen Kollektiv dazugehörend markiert werden. In allen Bundesländern konnten die Meldestellen den politischen Hintergrund der Vorfälle in fast der Hälfte der Fälle nicht eindeutig bestimmen – ein Hinweis darauf, dass Antisemitismus auch in nicht explizit politischen Milieus weit verbreitet ist und einzelne Stereotype von unterschiedlichen politischen Spektren verwendet werden.
Durch die einheitlichen und wissenschaftlich fundierten Arbeitsstandards der Meldestellen, die seit 2018 im Bundesverband RIAS e.V. koordiniert werden, sind aber auch Unterschiede zwischen den Bundesländern feststellbar: So spielt der israelbezogene Antisemitismus bei den in Brandenburg dokumentierten Vorfällen fast gar keine Rolle, während es in gut einem Drittel aller in Berlin erfassten Vorfälle antisemitische Bezüge zu Israel gibt.
In allen vier Bundesländern waren laut Bericht niedrigschwellige Formen des Antisemitismus stark verbreitet, wie z.B. verletzende Bemerkungen oder Schmierereien. Antisemitismus kann Betroffenen potentiell in jeder alltäglichen Situation begegnen – er ist für Jüdinnen_Juden eine alltagsprägende Erfahrung.
Stimmen zum ersten Bericht des Bundesverbands RIAS e.V.
BenjaminSteinitz
Geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
„Der heute präsentierte erste Bericht über zivilgesellschaftlich dokumentierte antisemitische Vorfälle in Deutschland verdeutlicht auch die Wirksamkeit unserer Bemühungen beim Aufbau der Anlaufstellen in den einzelnen Bundesländern seit der Gründung des Bundesverbands im Herbst 2018. Wir erhoffen uns von diesem Bericht auch Impulse für den Aufbau weiterer zivilgesellschaftlicher Meldestellen, die dringend notwendig sind, um den Betroffenen vor Ort Gehör zu schenken. 2019 wurden bundesweit drei Fälle extremer antisemitischer Gewalt bekannt – das zeigt, wie drängend unsere Aufgabe ist, gerade auch alltägliche Formen des Antisemitismus, als gesellschaftliches Grundrauschen, möglichst genau abzubilden.“
Dr. Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland:
„Im Alltag von Jüdinnen und Juden ist Antisemitismus allgegenwärtig. Wir brauchen ein umfassendes Bild des Judenhasses, um ihn gezielt bekämpfen zu können. Daher appelliere ich an alle Betroffenen, antisemitische Vorfälle zu melden. Jeder Fall von Antisemitismus – möge er noch so unbedeutend erscheinen – sollte dokumentiert werden. Jeder gemeldete Vorfall ist ein weiteres Puzzleteil, das das Bild vervollständigt. Wir dürfen uns an Antisemitismus niemals gewöhnen. Die im Bundesverband RIAS zusammengeschlossenen Meldestellen leisten eine wichtige Arbeit, um Antisemitismus sichtbar zu machen. Gleichzeitig vermitteln die Meldestellen auch Beratungs- und Unterstützungsangebote. Die Meldestellen unter dem Dach des Bundesverbands RIAS brauchen weiterhin unsere volle Unterstützung.“
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus:
„Es gibt keinen harmlosen Antisemitismus. Darum ist es so wichtig, die bundesweite Erfassung antisemitischer Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze voranzubringen. Dies ist eines der wichtigsten Vorhaben meiner Amtszeit, und ich bin froh, dass es gelungen ist, unter meiner Schirmherrschaft den Bundesverband RIAS ins Leben zu rufen. Er leistet hervorragende Arbeit und trägt entscheidend dazu bei, das Phänomen des Antisemitismus in der Gesellschaft sichtbarer zu machen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn nun möglichst rasch in allen Bundesländern entsprechende zivilgesellschaftliche Strukturen geschaffen werden.“
Judith Porath
Vorstandsmitglied des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt:
„Das von einem mörderischen Antisemitismus und Rassismus motivierte Attentat in Halle (Saale) macht die Dimension der Bedrohung durch Antisemitismus überdeutlich. Aus der Beratungspraxis wissen wir, wie sehr der Alltag der Betroffenen von massiven antisemitisch motivierten Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Körperverletzungen beeinträchtigt ist – insbesondere dann, wenn die Strafverfolgungsbehörden das Tatmotiv anzweifeln und die Täter_innen bei halbherzig geführten Ermittlungsverfahren straffrei davon kommen.“
Antisemitismus war 2019 in Bayern Alltag
23. April 2020
Antisemitismus war 2019 in Bayern Alltag
Für das Jahr 2019 hat die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) 178 antisemitische Vorfälle im Freistaat erfasst. Damit kam es nahezu jeden zweiten Tag zu einem dokumentierten antisemitischen Vorfall. Besonders besorgniserregend ist eine antisemitisch motivierte schwere Körperverletzung, die sich unter den dokumentierten Vorfällen befindet. Das geht aus dem Jahresbericht 2019 hervor, den RIAS Bayern heute in München veröffentlichte.
RIAS Bayern dokumentierte neben der schweren Körperverletzung neun Angriffe, elf gezielte Sachbeschädigungen, acht Bedrohungen, 28 Massenzuschriften und 121 Fälle in der Kategorie verletzendes Verhalten. In letztere fielen etwa 14 Versammlungen, 35 Fälle im Rahmen einer Auseinandersetzung von Angesicht zu Angesicht und 33 Fälle von öffentlich präsentierten antisemitischen Botschaften.
Der Angriff auf einen Münchner Rabbiner und seine Söhne im Sommer 2019 und insbesondere der Anschlag an Jom Kippur in Halle schockierten die Öffentlichkeit. Hierzu sagte RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı: „Antisemitismus war für Jüdinnen und Juden in Bayern 2019 leider ein prägendes Thema. Wir haben im Kontakt mit den jüdischen Gemeinden und Einzelpersonen eine starke Verunsicherung registriert. Die uns bekannt gewordenen Vorfälle ereigneten sich häufig an öffentlichen Orten, an denen sich die Betroffenen in ihrem Alltag regelmäßig aufhalten, wie etwa beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Arbeit“. Angesichts der nicht abschätzbaren Folgen der Corona-Krise warnte Seidel-Arpacı davor, dass Antisemitismus, insbesondere durch die vermehrte Verbreitung von Verschwörungserzählungen im Internet, noch wirkmächtiger werden könnte.
Die erhobenen Zahlen spiegeln nur einen kleinen Ausschnitt des alltäglichen Antisemitismus wider. RIAS Bayern nahm 2019 den Betrieb auf. Es ist davon auszugehen, dass mit steigender Bekanntheit in Zukunft auch mehr antisemitische Vorfälle gemeldet und bekannt werden. Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder per Telefon unter 0162 2951 961 gemeldet werden.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, kommentierte: „Der RIAS-Bericht zeigt, wie häufig Juden im Alltag mit Antisemitismus konfrontiert sind. Die Übergriffe verletzen und belasten uns. Sie hinterlassen den Eindruck, dass wir nicht dazugehören und nicht erwünscht sind. Die Statistik von RIAS Bayern trägt dazu bei, ein umfassendes Bild des Antisemitismus zu zeichnen. Sie verzeichnet auch judenfeindliche Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsschwelle liegen und ergänzt die Polizeiliche Kriminalstatistik. Organisationen wie RIAS Bayern sind unverzichtbar, um Antisemitismus gezielt bekämpfen zu können. Sie brauchen weiterhin unsere volle Unterstützung.“
Ludwig Spaenle, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, erklärte: „Gegen Antisemitismus und Judenhass müssen wir als Gesellschaft und Staat energisch vorgehen. Gefragt sind von uns aktive Solidarität mit Jüdinnen und Juden, Prävention gegenüber antisemitischen Einstellungen und Handlungen sowie staatliche Repression gegen Straftäter. Dabei ist die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern ein wichtiges Element.“
RIAS Bayern ist beim Bayerischen Jugendring (BJR) angesiedelt, mit dessen Unterstützung die Stelle derzeit in einen eigenständigen Verein überführt wird. Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales fördert die Einrichtung. RIAS Bayern beteiligt sich an der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, der bundesweit ein Netzwerk von Meldestellen für antisemitische Vorfälle aufbaut.
Zur Veröffentlichung (PDF): „Antisemitische Vorfälle 2019“
Brauchtum mit antisemitischen Einschlag:
2. April 2020
Brauchtum mit antisemitischen Einschlag: Judasfeuer in der Kritik
Kurz vor Ostern werden auch heute noch in Teilen Bayerns sogenannte „Judasfeuer“ entzündet, die in einer antisemitischen Tradition stehen. Der Brauch, bei dem teilweise Puppen in Menschengestalt verbrannt werden, dient der symbolisch-rituellen „Bestrafung“ der biblischen Figur Judas Iskariot für seinen Verrat an Jesus Christus. Judas Iskariot wird in antijudaistischer Tradition christlicher Prägung mit „den Juden“ identifiziert. Dies geht aus einer aktuellen Veröffentlichung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) hervor.
„Aufgrund von Corona werden in diesem Jahr wohl kaum Judasfeuer stattfinden. Somit eine Gelegenheit, sich mit der antisemitischen Tradition der Feuer auseinanderzusetzen. Vielen Menschen, die die Feuer veranstalten oder daran teilnehmen mag der antisemitische Hintergrund des Judasfeuers gar nicht bewusst sein. Auf diese Leerstelle wollen wir aufmerksam machen“, sagte RIAS-Bayern-Leiterin Dr. Annette Seidel-Arpacı.
Die „Judasfeuer“, die nicht mit traditionellen Osterfeuern zu verwechseln sind, konzentrieren sich auf die Gegend zwischen Donauwörth, Ingolstadt, Augsburg, Landsberg am Lech und München sowie Teile Unterfrankens. Dabei handelt es sich seltener um kirchliche Veranstaltungen. Ein Großteil der Feuer wird von christlichen Laien, oft Jugendlichen, die in örtlichen Vereinen organisiert sind, veranstaltet.
Ein „Judasfeuer“ im polnischen Pruchnik sorgte 2019 für weltweite Empörung, Anlass für die Recherche- und Informationsstelle hier weiter nachzuforschen. In Pruchnik wurde eine Puppe mit der Bezeichnung „Judas 2019“ verbrannt, die mit Hakennase und orthodox-jüdischer Kopfbedeckung und Haartracht entsprechend stereotyper antisemitischer Vorstellungen gestaltet war. Die „Judasfeuer“ in Bayern finden laut RIAS Bayern zwar nicht mit einer derartigen antisemitischen Markierung statt, gründen aber auf derselben Tradition. Noch im 20. Jahrhundert wurden in Bayern die Feuer teilweise „Jud“ oder „Judenfeuer“ genannt.
RIAS Bayern nimmt Meldungen über antisemitische Vorfälle auf und unterstützt Betroffene von Antisemitismus in Bayern. Die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus ist beim Bayerischen Jugendring (BJR) angesiedelt und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales finanziert.
Zur Veröffentlichung (PDF): „Das Judasfeuer – Ein antisemitischer Osterbrauch in Bayern“
Gemeinsam gegen Antisemitismus ZWST, Beratungsstelle OFEK und Bundesverband RIAS vereinbaren neue Kooperation
30. Januar 2020
Berlin, 30. Januar 2020
Um Betroffenen von Antisemitismus im gesamten Bundesgebiet die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen, wollen drei zentrale Akteure der Antisemitismusbekämpfung enger kooperieren: Am heutigen Donnerstag unterzeichneten die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST), die Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e.V. und der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) e.V. eine entsprechende Kooperationsvereinbarung.Die Kooperation regelt die Dokumentation und Veröffentlichung von antisemitischen Vorfällen, die Sensibilisierung und den Austausch mit den jüdischen Institutionen sowie die Verweisberatung und Begleitung von Betroffenen. So kann der Bundesverband RIAS e.V. Ratsuchende, die sich über das bundesweite Meldeportal www.report-antisemitism.de an ihn wenden und weiterführende Beratung benötigen, zukünftig auch an OFEK e.V. vermitteln. Zusammen mit dem bundesweit agierenden Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der ZWST wollen die Partner Qualitätsstandards entwickeln, die auch in der präventiv-pädagogischen Arbeit genutzt werden können.
O-Töne
Aron Schuster
Direktor der ZWST
„Auch 75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz gehören Stigmatisierungen, Beleidigungen, Belästigungen und nun auch tätliche Angriffe zum Alltag der jüdischen Community in Deutschland und Europa.“
Marina Chernivsky
Geschäftsführerin von OFEK e.V.
„In ganz Deutschland sollen Betroffene von antisemitischen Vorfällen auf gut funktionierende Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten zurückgreifen können. Die Kooperation zwischen dem Bundesverband RIAS e.V. und OFEK e.V. kann helfen, verlässliche Unterstützungsangebote auszubauen.“
Benjamin Steinitz
Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS e.V.
„Beim Kampf gegen Antisemitismus kommt es darauf an, geschlossen aufzutreten. Eine gute Koordination zwischen jüdischen wie nichtjüdischen Beratungseinrichtungen auf Bundes- und Landesebenen ist deswegen unabdingbar.“
Antisemitismus ist in Bayern Alltag
15. Oktober 2019
RIAS BayernAntisemitismus ist in Bayern Alltag
96 Vorfälle sind der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) seit ihrem Bestehen bekannt geworden worden. „Wir gehen von einer weit größeren Dunkelziffer aus. Die antisemitischen Denkmuster des Attentäters von Halle finden wir bei vielen der registrierten Vorfälle. Es ist nur die Frage, inwieweit dieses Denken auch in die Tat umgesetzt wird“, warnt Annette Seidel-Arpacı, Leiterin von RIAS Bayern.
Der Attentäter von Halle leugnet unter anderem den Holocaust. Auch RIAS sind 40 Vorfälle bekannt geworden, bei denen die Abwehr der Schoah eine Rolle spielt. Der Attentäter macht Juden für alles Böse in der Welt verantwortlich. Dieses Element des Antisemitismus hat RIAS Bayern in 14 Fällen registriert. Ein eindeutiger politischer Hintergrund ist jedoch in vielen Fällen nicht zu bestimmen. 17 Vorfälle wurden mit dem Hintergrund „rechts“, sechs mit dem Hintergrund „links“ erfasst. Über 40 Prozent der Vorfälle bewegen sich nach Einschätzung von RIAS Bayern unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. „Das ist kein Grund zur Erleichterung. Denn diese Zahl zeigt auch, wie weit Antisemitismus im Alltag, in der Mehrheitsgesellschaft verankert ist“, so Seidel-Arpacı.
Antisemitismus zieht sich in die Gegenwart
Im strafbaren Bereich sind RIAS Bayern am häufigsten antisemitische Beleidigungen und Fälle von Volksverhetzung bekannt geworden, aber auch eine Bedrohung und mehrere Körperverletzungen. Dass es zu massiver Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Bayern auch nach 1945 kommen konnte, zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte: 1970 starben bei einem ungeklärten Brandanschlag auf das jüdische Altenheim in der Münchner Reichenbachstraße sieben Menschen. 1980 erschoss ein Mitglied der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann den Erlanger Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke. 2003 planten Neonazis der „Kameradschaft Süd“ einen Bombenanschlag auf die Grundsteinlegung für das jüdische Gemeindezentrum in München, der von der Polizei vereitelt wurde. 2016 stieß ein Nürnberger einen Mann in das Gleisbett der Nürnberger U-Bahn und versuchte ihn nach eigenen Angaben aus antisemitischer Motivation zu töten. Der Antisemitismus war nach der Schoah nie verschwunden.
Es braucht niedrigschwellige Angebote
„Die Zahlen der ersten sechs Monate belegen den großen Bedarf für die Dokumentation und Bekanntmachung antisemitischer Vorfälle durch eine zivilgesellschaftliche Organisation“, sagt Seidel-Arpacı. Zahlreiche Betroffene und Zeug_innen haben sich zwischen dem 1. April und dem 1. Oktober 2019 unter anderem über das Online-Portal www.rias-bayern.de an die neue zivilgesellschaftliche Stelle gewandt. RIAS Bayern registriert im Gegensatz zur Polizei auch strafrechtlich nicht relevante Vorfälle und ist ein niedrigschwelliges Angebot für Betroffene und Zeug_innen. „Betroffene von Antisemitismus beschäftigt das Erlebte oft sehr. Gerade nach Halle sind viele noch weiter verunsichert. Sie und die wenigen Beratungsstellen in Bayern müssen deshalb stärker unterstützt werden“, so Seidel-Arpacı. RIAS Bayern vermittelt Betroffene bei Bedarf an Beratungseinrichtungen, die zum Beispiel im juristischen oder psychosozialen Bereich aktiv sind.
RIAS Bayern ist aktuell beim Bayerischen Jugendring (BJR) angesiedelt, mit dessen Unterstützung die Stelle in einen eigenständigen Verein überführt wird. Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales finanziert die Einrichtung. RIAS Bayern beteiligt sich an der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus, der bundesweit ein Netzwerk von Meldestellen für antisemitische Vorfälle aufbaut.
Stimmen von Beratungseinrichtungen, mit denen RIAS Bayern zusammenarbeitet:
Anja Spiegler
Opferberatung rechte, gruppenbezogene menschenfeindliche Gewalt bei der Münchner Beratungsstelle BEFORE
„Wir sehen in unserer Beratungspraxis Tag für Tag, wie hoch auch in München die Dunkelziffer bei antisemitischen Diskriminierungen und Angriffen ist. Die Arbeit von RIAS hilft, diesen toten Winkel auszuleuchten und die Erlebnisse von Betroffenen sichtbar zu machen. Die Erfassung von Angriffen und die Vermittlung an Beratungsstellen durch RIAS sind ein wichtiger Beitrag in der Unterstützung von Betroffenen antisemitischer Taten.“
Steffen Huber
Fachlicher Leiter von BUD – Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Bayern
„Durch den spezialisierten Ansatz und das niedrigschwellige Meldesystem von RIAS Bayern ist es möglich, das große Dunkelfeld an einigen Stellen aufzuhellen. Als Opferberatung können wir Betroffene im Bereich Antisemitismus durch die Kooperation mit RIAS besser unterstützen und erreichen. Mit der weiteren Entwicklung von RIAS Bayern wird für uns eine Mehrarbeit entstehen, für die wir ausgestattet sein müssen."
Rechtsextremer Terroranschlag an Jom Kippur
11. Oktober 2019
Gesellschaftliche Zusammenhänge benennen und Betroffenen beistehen
Die Ereignisse in Halle haben die Sorgen der jüdischen Communities in Deutschland bestätigt: Antisemitismus ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht nur eine alltagsprägende Erfahrung, sondern nach wie vor eine potentiell tödliche Bedrohung. Über fünfzig Personen mussten im Innern der Synagoge von Halle am höchsten jüdischen Feiertag stundenlang verharren, nachdem der rechtsextreme Täter versuchte, schwer bewaffnet zu ihnen vorzudringen. Der folgende mörderische Anschlag auf einen Dönerimbiss erfolgte nicht aus Zufall, sondern war rassistisch motiviert. Wir sind erschüttert über den gewaltsamen Tod zweier Menschen. Unsere Trauer und Anteilnahme gilt den Angehörigen und Freunden der Todesopfer sowie den weiteren Verletzten.
Dr. Kai Stoltmann
Mitglied im Vorstand des VBRG
„Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt und rechter Terror sind alltägliche Realität in Deutschland. Die Forderungen nach Schutz der Betroffenen von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus müssen endlich ernstgenommen werden. Es braucht mehr Solidarität und die konsequente Entwaffnung und Strafverfolgung bewaffneter Neonazi-Netzwerke, um eine weitere Eskalation zu verhindern.“
Pascal Begrich
Mitglied im Vorstand des BMB
„Solche Attentate passieren nicht im „luftleeren Raum“. Sie werden von Tätern verübt, die sich bestätigt fühlen von einem politischen Klima, in dem sich die Grenzen des Sagbaren online wie offline immer weiter verschieben und die Feindbildbestimmung zur Normalität der politischen Auseinandersetzung geworden ist. Jede Herabwürdigung von Minderheiten muss ernst genommen werden. Die Auseinandersetzung muss bereits bei den kleinsten Warnsignalen beginnen.“
Benjamin Steinitz
Geschäftsführer Bundesverband RIAS
„Der Terroranschlag von Halle muss tiefgreifende Konsequenzen haben: diese dürfen nicht bei symbolischen Gesten stehen bleiben. Sicherheitsbehörden, Bildungseinrichtungen, Medien, Zivilgesellschaft und Politik haben die Pflicht jede Form des Antisemitismus zu erkennen, zu benennen und zu ächten. Nur so kann das Gefühl in den jüdischen Gemeinschaften `alleine dazustehen´ überwunden werden.“
Das maßgebliche Tatmotiv war allem Anschein nach ein verschwörungsideologischer Antisemitismus, als Teil eines geschlossenen rechtsextremen Weltbildes. In diesem greifen Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus eng ineinander. Alle als bedrohlich wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklungen werden dabei aber letztendlich auf einen vermeintlichen jüdischen Einfluss zurückgeführt. Rechtsextreme Ideologie mündet unweigerlich in Gewalttaten gegen die als Feindbild markierten Gruppen. Aus der ständig wiederholten Erzählung eines permanenten, endzeitlichen „Abwehrkampfes“ gegen eine angebliche „Umvolkung“ ergibt sich das Bestreben nach Bewaffnung, um an einem selbst gewählten „Tag X“ losschlagen und Vernichtungsfantasien in die Tat umsetzen zu können.
Die Erzählung des „Einzeltäters“ und einer „neuen Qualität der Gewalt“ führen daher in die Irre. Die Tat reiht sich ein in eine Liste mehrerer rechtsextremer Anschläge der vergangenen Jahre, die sich in Inszenierung und virtueller Sozialisation der männlichen, weißen Täter gleichen. Zu nennen sind etwa die Anschläge von Utøya und Oslo 2011 sowie die Anschläge auf zwei Moscheen in Christchurch im März 2019 und auf die Synagoge in Pittsburgh 2018. Die Täter bewegen sich in Netzwerken, tauschen sich über Online-Foren aus, unterstützen sich gegenseitig und ahmen einander nach. Sie profitieren von der jeweiligen Aufmerksamkeit und dem zur Verfügung gestellten Erfahrungswissen anderer Täter. Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland hat zudem auch nach 1945 eine jahrzehntelange traurige Tradition- so werden etwa die Morde an Shlomo Lewin und Frida Poeschke 1980 oder die Brandanschläge auf die Synagogen in Lübeck (1994) und Düsseldorf (2000) in der aktuellen Diskussion nahezu ausgeblendet.
Rechtsextreme Diskurse haben eine klare Botschaft an die Betroffenen: ihr seid nicht sicher und ihr gehört nicht dazu. Der Anschlag in Halle hat ein weiteres Mal vor Augen geführt: Antisemitismus und Rassismus töten. Es ist an der Zeit, dies ernst zu nehmen und einzustehen für eine solidarische, offene und vielfältige Gesellschaft, in der alle angstfrei leben können.
Bericht über das erste Halbjahr 2019: Antisemitismus in Berlin weiterhin alltagsprägend
26. September 2019
RIAS BerlinAntisemitismus in Berlin weiterhin alltagsprägend: RIAS Berlin-Bericht über das 1. Halbjahr 2019
Berlin, 26. September 2019 – Der Antisemitismus in Berlin bleibt auf besorgniserregendem Niveau. Jeden Tag erfährt die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) im Schnitt von über zwei antisemitischen Vorfällen, wie aus dem heute veröffentlichten Bericht antisemitischer Vorfälle Januar-Juni 2019 hervorgeht.
Im ersten Halbjahr erfasste RIAS Berlin 2019 insgesamt 404 antisemitische Vorfälle. Damit setzte sich der starke Anstieg des Vergangenen Jahres nicht fort. Dennoch bleibt die Zahl der Fälle mit besonderem Gefährdungspotential für die Betroffenen hoch: So registrierte RIAS Berlin 13 Angriffe und 20 Bedrohungen, mehr als etwa 2016 oder 2017. Der vollständige Bericht kann unter PDF eingesehen werden.
Von Angriffen, Bedrohungen, gezielten Sachbeschädigungen gegen privates Eigentum sowie verbalen und schriftlichen Formen des verletzenden Verhaltens waren insgesamt 110 Einzelpersonen betroffen. So wurde im Januar in Mitte einer Frau, die im Bus am Telefon Hebräisch sprach, von einem Mann die Mütze so gewaltvoll vom Kopf gezogen, dass die Betroffene beinahe von ihrem Sitz fiel. Im Mai wurde in Friedrichshain-Kreuzberg eine weitere Frau, die ebenfalls auf Hebräisch telefonierte, in der U-Bahn als „Yahud“ und „Babymörder“ beleidigt. Im Juni wurden in Pankow ein Kippa tragender Mann und seine Mutter als „Yahudi“ beschimpft und angespuckt.
Insbesondere bei Online-Vorfällen gab es einen deutlichen Rückgang von 40 %. Die Anzahl der Vorfälle von Angesicht zu Angesicht und im öffentlichen Raum (224) ging auf das Niveau von 2017 zurück (221; 2018: 280). Während in fast allen politischen Spektren die Vorfallszahlen zurückgingen, verzeichnete RIAS Berlin eine gleichbleibend hohe Anzahl antisemitischer Vorfälle von rechts (120).
Benjamin Steinitz
RIAS Berlin-Projektleiter
„Trotz der niedrigeren Gesamtzahl von antisemitischen Vorfällen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum prägt das antisemitische Grundrauschen den Alltag in Berlin. So sind weiterhin gerade Personen, die als jüdisch erkennbar sind, von Anfeindungen betroffen. Im Vergleich zu 2016 und 2017 ist die Anzahl von Angriffen und Bedrohungen gestiegen – nach der starken Zunahme 2018 befinden wir uns weiterhin auf einem hohen Niveau.“
Anetta Kahane
Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung
„Der gesellschaftliche Rechtsruck ist eine handfeste Bedrohung für das jüdische Leben in Deutschland – nicht erst seit dem Rechtsterrorismus des NSU. In Zeiten von Todeslisten und konkreten Anschlagsplänen bedarf es von der gesamten Gesellschaft einer klaren Abgrenzung gegen Rechtsextremismus und jede Form von Antisemitismus.“
Bianca Klose
Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und Geschäftsführerin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V.
„Die Halbjahreszahlen von RIAS Berlin zeigen die anhaltend hohe Relevanz von rechten Antisemitismus. Die Vorfälle sind der menschenverachtende Ausdruck des sich fortsetzenden Rechtsrucks in der deutschen Gesellschaft, der durch die rechtspopulistischen Stichwortgeber weiter befeuert wird. Gerade in diesen Zeiten sind alle demokratisch Engagierten gefordert, weiter eine klare Haltung gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus zu zeigen und angesichts der Anfeindungen und Bedrohungen unmittelbare praktische Solidarität mit den Betroffenen zu üben.“
Lorenz Korgel
Ansprechperson des Landes Berlin für Antisemitismus
„Antisemitismus bleibt ein gravierendes Problem, mit dem wir uns in Berlin nicht abfinden dürfen. Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist weiterhin auf einem hohen Niveau. Wenn jetzt die Anzahl gemeldeter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr etwas geringer ausfällt, ist dies keineswegs ein Grund zur Entwarnung. Wir wissen, dass antisemitische Konjunkturen jederzeit und sehr kurzfristig einen drastischen Anstieg der Vorfallzahlen zur Folge haben können. Dank RIAS Berlin können wir diese Entwicklungen besser einschätzen und auch unsere inhaltliche Einordnung von antisemitischen Vorfällen präzisieren.“
MBR Berlin und RIAS Berlin zur Veröffentlichung des „Berlin-Monitor 2019“
21. August 2019
RIAS BerlinStudie zum Antisemitismus in Brandenburg vorgestellt – Gorholt: „Klare Kante gegen Antisemitismus“
15. August 2019
Bundesverband RIAS e.V.Potsdam, 15. August 2019
Brandenburgs Landesregierung wird sich weiter aktiv allen Formen des Antisemitismus entgegenstellen. Das versicherte der Chef der Staatskanzlei, Staatssekretär Martin Gorholt, heute bei der Übernahme der Studie „Problembeschreibung: Antisemitismus in Brandenburg“. Sie soll eine Grundlage für die politische Arbeit und der seit Mai arbeitenden „Fachstelle Antisemitismus Brandenburg“ am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien bilden sowie Anregungen zur Erfassung und Prävention von Antisemitismus bieten.Die Studie wurde in Potsdam von Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. gemeinsam mit der Autorin der Erhebung, Dorina Feldmann, vorgestellt. Das Projekt, in dessen Rahmen regionale Ausprägungen antisemitischer Erscheinungsformen in einzelnen Bundesländern dargestellt werden, wird gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Die „Problembeschreibung: Antisemitismus in Brandenburg“ kann unter report-antisemitism.de/publications eingesehen werden.
In Brandenburg wurden in den vergangenen fünf Jahren 492 antisemitische Vorfälle bekannt, darunter 433 polizeilich registrierte Straftaten. Mit nur wenigen Ausnahmen ordnete die Polizei die antisemitischen Straftaten dem rechten Spektrum zu.
Steinitz sagte, die Studie zeige, „dass die Prävention von Antisemitismus in einem eher ländlich geprägten Bundesland wie Brandenburg vor ganz anderen Herausforderungen steht als beispielsweise in Berlin. Auch die spezifischen antisemitischen Ausdrucksformen unterscheiden sich. So sind in Brandenburg deutlich geringere Auswirkungen des Nahost-Konflikts sowohl bei den angezeigten Straftaten als auch in den Gesprächen mit jüdischen Gemeindemitgliedern festgestellt worden.“
Vielmehr berichten laut Studie Juden in Brandenburg, dass sie Antisemitismus insbesondere in subtiler Form wahrnähmen. Zwar werde die Lage im lokalen Umfeld im Vergleich zu anderen Ländern, Regionen und Städten als insgesamt ´recht positiv´ eingestuft. Gleichzeitig sähen sie sich jedoch mit einer ´beunruhigenden, Ressentiment geladenen Grundstimmung´ und mit ´latent antisemitischen Haltungen oder zumindest mit unsensiblen Umgang mit dem Judentum´ konfrontiert. Das führe dazu, dass sich einige aus Angst vor Anfeindungen öffentlich nicht als jüdisch zu erkennen geben oder sie zögen sich in nicht wenigen Fällen aus der Öffentlichkeit zurück.
Autorin Feldmann stellte fest: „Die Befragung zeigt, dass Antisemitismus, vor allem in subtilen Formen Jüdinnen und Juden alltäglich begegnet. Die Tatsache, dass es einige vermeiden, öffentlich erkannt zu werden, deutet zudem auf ein fehlendes Vertrauen in die Gesellschaft hin. Dieses Vertrauen müssen wir gemeinsam aufbauen.“
Staatssekretär Gorholt sagte: „Antisemitismus ist leider weiterhin ein hochaktuelles Phänomen, dem wir entschieden entgegentreten müssen. Das Monitoring, die Erfassung und Prävention von Antisemitismus sowie die Begleitung und Anregung interreligiöser Prozesse sind hierbei für uns von herausragender Bedeutung. Mein Dank gilt daher der Arbeit von RIAS, des Moses Mendelsohn Zentrums und der Fachstelle Antisemitismus.“
Auch Peter Schüler, Leiter der neuen „Fachstelle Antisemitismus Brandenburg“, betonte: „Die Studie bietet eine Grundlage für die künftige Arbeit. Unser Ziel wird es sein, einerseits die Betroffenen zu stärken, aber auch in Institutionen hinein zu wirken, Erfahrungen mit Antisemitismus sichtbar zu machen und die Verantwortlichen im Umgang damit zu sensibilisieren.“
Träger der Fachstelle ist das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ). Direktor Julius H. Schoeps bekräftigte: „Wir blicken auf 13 Jahre Antisemitismus- und Rechtsextremismus-Forschung am MMZ zurück und wollen dazu beitragen, dass es eine zivilgesellschaftliche Anlaufstelle gibt, an die sich sowohl jüdische und nichtjüdische Betroffene und Ratsuchende wenden können.“
Fachstelle Antisemitismus am MMZ gegründet
13. Mai 2019
RIAS BrandenburgFachstelle Antisemitismus am MMZ gegründet
Zum 1. Mai 2019 wurde am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) in Potsdam die Fachstelle Antisemitismus gegründet. Mit dem Aufbau und der Leitung der Fachstelle wurde Peter Schüler aus Potsdam beauftragt. Schüler ist Diplomphysiker und Rechtsanwalt und seit den frühen 1990er Jahren für Bündnis 90/Die Grünen landes- und kommunalpolitisch aktiv. Er gehörte zu den Initiatoren des Projektes einer neuen Synagoge für die Stadt Potsdam und engagiert sich u.a. als Anwalt für ethno-kulturelle und religiöse Minderheiten.
Die Fachstelle Antisemitismus wird in enger Zusammenarbeit mit der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus* und Rechtsextremismus (EJGF) den Blick auf die Betroffenenperspektive richten und ihre Diskriminierungserfahrungen sichtbar machen, sowie Ratsuchende aus der Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung fachlich beraten.
Zudem wird die Fachstelle ein umfassendes Monitoring von antisemitischen Vorfällen nach den Qualitätskriterien der vom MMZ wissenschaftlich begleiteten Recherche und Informationsstelle Antisemitismus – bundesweite Koordination (RIAS – BK) vornehmen.
„Antisemitismus ist auch in Brandenburg ein gesellschaftliches Querschnittsproblem“, sagte Prof. Julius H. Schoeps, Direktor des MMZ. „Es geht uns darum, Erfahrungen von Betroffenen in allen Formen und Facetten sichtbar zu machen – und die Ausbreitung von Antisemitismus zu verhindern.“
Die Fachstelle der Forderung des Antisemitismusbeauftagten der Bundesregierung, Dr. Felix Klein, nach einem bundeseinheitlichen System zur Meldung antisemitischer Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze in Brandenburg umsetzen. Sie wird eng mit dem Beratungsnetzwerk Tolerantes Brandenburg und der Fachstelle Islam zusammenarbeiten. Prof. Schoeps sieht darin einen Beitrag der Wissenschaft, gesellschaftspolitisch Verantwortung zu übernehmen. „Die Fachstelle Antisemitismus am MMZ einzurichten, entspricht unserem zivilgesellschaftlichen Mandat.“
Die Fachstelle strebt eine enge Kooperation mit den Jüdischen Gemeinden und Einrichtungen an. Außerdem beabsichtigt sie die Kooperation und Vernetzung aller Akteure im Phänomenbereich Antisemitismus, den Ausbau eines umfassenden Meldenetzwerkes von jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen und die Begleitung und Anregung interreligiöser Prozesse im Land Brandenburg
Jahresbericht von RIAS Berlin: Antisemitismus 2018 gewalttätiger und direkter
17. April 2019
RIAS BerlinJahresbericht von RIAS Berlin: Antisemitismus 2018 gewalttätiger und direkter
Häufiger als zuvor nahm Antisemitismus im vergangenen Jahr in Berlin verrohte Formen an. Dies geht aus dem Bericht antisemitischer Vorfälle 2018 hervor, den am heutigen Mittwoch die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) vorstellte.
Besorgniserregend ist der deutliche Anstieg bei Vorfallsarten mit besonderem Gefährdungspotential für die Betroffenen. So hat sich die Anzahl der Angriffe von 18 auf 46 mehr als verdoppelt, die Zahl der Bedrohungen – von 26 auf 46 – ist ebenfalls merklich gestiegen. Insgesamt erfasste RIAS Berlin 2018 1.083 antisemitische Vorfälle in der Hauptstadt – 14 % mehr als im Vorjahr (951). Der vollständige Bericht kann online unter https://report-antisemitism.de/media/bericht-antisemitischer-vorfaelle-2018.pdf eingesehen werden.
Mit 368 Personen waren 73 % mehr Einzelpersonen betroffen als im Vorjahr. Mit 187 war über die Hälfte davon jüdisch, doch auch zahlreiche nichtjüdische Personen, die sich gegen Antisemitismus oder Rechtsextremismus aussprachen, wurden angefeindet.
So wurde im September einem Mann ins Gesicht geschlagen, nachdem er als „Du Jude“ beschimpft wurde und diese Äußerung kritisiert hatte. Ebenfalls im September bewarf ein Spätkaufverkäufer eine jüdische Frau mit Kronkorken, als er ihren Davidstern-Schlüsselanhänger erblickte. Zudem beschimpfte er sie als „Judenschlampe“ und forderte sie auf, den Laden zu verlassen. Im April wurde eine Gruppe von Personen auf dem Weg zur Demonstration „Berlin trägt Kippa“ bespuckt, getreten und mit „Verpisst Euch Ihr Juden“ beschimpft.
Zu dem deutlichen Anstieg von Angriffen und Bedrohungen erklärte RIAS Berlin-Projektleiter Benjamin Steinitz:
„Wir stellen im Vergleich zu den vergangenen Jahren eine zunehmende Bereitschaft fest, antisemitische Aussagen mit konkreten Gewaltandrohungen zu verbinden oder ihnen gar Gewalt folgen zu lassen. Diese Verrohung geschieht jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern auch im Kontext wachsender Zahlen niedrigschwelliger Formen von Antisemitismus, der den Alltag von Betroffenen prägt.“ Insgesamt 831 Fälle von verletzendem Verhalten dokumentierte RIAS Berlin 2018 – ein Anstieg von 22 %. Hierbei handelte es sich um schriftliche oder mündliche Anfeindungen, Propaganda oder Veranstaltungen mit antisemitischen Inhalten.
Weitere O-Töne:
Juna Grossmann
Autorin („Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus“) und Bloggerin („irgendwiejuedisch.com“)
„Aus den Zahlen zu antisemitischen Vorfällen 2018 können wir mehr als deutlich sehen, dass Antisemitismus keinesfalls nur für Jüdinnen_Juden ein Problem darstellt. Antisemitisch motivierte Anfeindungen zielen auch auf Kritiker_innen von Antisemitismus und viele Personen, die sich für eine offene und demokratische Gesellschaft engagieren. Deshalb gilt auch weiterhin: Wegsehen wird nichts ändern. Nur gemeinsam kann man dem entgegentreten. Nur gemeinsam kann man etwas bewirken.“
Bianca Klose
Projektleiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) und Geschäftsführerin des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V.
„Wir erleben, auch das dokumentiert der Jahresbericht von RIAS Berlin, eine Verschiebung vom Sagen zum Tun. Dafür müssen wir nicht weit nach rechts schauen, dafür reicht ein Blick auf die so genannte ‚Mitte‘ der Gesellschaft. Wir erleben eine Zeit der gesellschaftlichen Grenzverschiebung, die auch die Erinnerungskultur an die Verbrechen des Nationalsozialismus unter Druck setzt. Die Politik tut gut daran, Wahrnehmungen von Betroffenen und zivilgesellschaftliche Analysen über Antisemitismus in dieser Stadt nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch entsprechend zu handeln.“
Sigmount Königsberg
Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
„Gerade die gestiegene Gewalt gegen Jüdinnen_Juden zeigt, wie notwendig die Arbeit von RIAS Berlin ist. Sie gibt diesen Menschen eine Stimme, die sonst ungehört bliebe. Der Bericht von RIAS Berlin zeigt, dass die Konzeption des Landes Berlin gegen Antisemitismus dringend notwendig ist und dessen zügige Umsetzung auf oberster Stelle der Agenda stehen sollte. Zudem sollte die Benennung von Claudia Vanoni zur Antisemitismusbeauftragten der Berliner Staatsanwaltschaft zu einer zügigeren Klageerhebung führen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Von Politik und Justiz ist zu gewährleisten, dass jüdische Menschen sich sicher fühlen können.“
O-Töne von Partnerprojekten:
Marina Chernivsky
Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
„Die Permanenz antisemitischer Ressentiments quer durch die Gesellschaft, die steigende Statistik antisemitischer Straftaten und Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze verdeutlichen das antisemitische Potenzial und die steigende Bedrohung. Es bedarf weiterhin einer umfassenden Befähigung politischer und pädagogischer Akteur_innen sowie kontinuierlichen Beratung von Betroffenen.“
Lala Süsskind
Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA)
„Ich bin zutiefst beunruhigt über diese Entwicklung. Antisemitismus ist ein Angriff auf unsere Demokratie und trifft uns alle. Alle Demokrat_innen sind gefordert, sich klar zu positionieren, um dem grassierenden Antisemitismus Einhalt zu gebieten. Dazu zählt auch, dass die Bundesregierung der weit verbreiteten Israelfeindlichkeit eine klare Absage erteilt.“
Meldestelle für antisemitische Vorfälle RIAS Bayern startet niedrigschwelliges Angebot für Betroffene und Zeugen
27. März 2019
RIAS BayernMeldestelle für antisemitische Vorfälle RIAS Bayern startet niedrigschwelliges Angebot für Betroffene und Zeugen
Opfer und Zeugen antisemitischer Vorfälle können sich ab dem 1. April an die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS Bayern) wenden. Die Einrichtung registriert und analysiert Fälle von der Belästigung bis zu strafrechtlich relevanten Handlungen. „Wir wollen das Ausmaß des Antisemitismus in Bayern abbilden. Sei es, dass ein jüdisches Kind in der Schule abfällige Kommentare zu hören bekommt oder Israel als Apartheidstaat bezeichnet wird, wir bieten einen Anlaufpunkt“, sagte Leiterin Annette Seidel-Arpacı bei der Vorstellung von RIAS Bayern am Mittwoch.
Mit dieser niedrigschwelligen Meldestelle wird ein wichtiges Anliegen des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales und des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus erfüllt. Im Bayerischen Jugendring (BJR) haben sie einen wichtigen Partner gefunden. Unter dem Dach des BJR kann RIAS Bayern mit Mitteln des Bayerischen Sozialministeriums zunächst die Arbeit aufnehmen, ab 2020 soll ein zivilgesellschaftlicher Verein als Träger fungieren.Auf Wunsch der Betroffenen oder Zeugen veröffentlicht RIAS Bayern antisemitische Vorfälle und macht Behörden, Politik, Medien und Zivilgesellschaft auf diese aufmerksam. Zentrales Prinzip ist der Vertrauensschutz: Die Meldenden entscheiden, wie mit ihren Informationen umgegangen werden soll. Vorfälle können über die Online-Plattform www.rias-bayern.de und per Telefon gemeldet werden. Die Einrichtung vermittelt verschiedene Beratungsangebote, z.B. im juristischen oder psychosozialen Bereich.
Das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales finanziert die Meldestelle RIAS Bayern mit 381.000 Euro. Sozialministerin Kerstin Schreyer betonte: „Antisemitismus ist ein Problem der gesamten Gesellschaft und in seinen unterschiedlichen Ausprägungen nicht immer leicht zu erkennen. Daher sehe ich in der Arbeit von RIAS Bayern die Möglichkeit, Antisemitismus sichtbar zu machen und dadurch für seine verschiedenen Gesichter zu sensibilisieren. RIAS Bayern ist ein wichtiger Baustein für die Prävention von Antisemitismus in Bayern.“
Für das Jahr 2019 ist RIAS Bayern beim BJR angesiedelt. „Seit seiner Gründung tritt der BJR für eine demokratische und weltoffene Gesellschaft ein. In unserer Verantwortung für das Max Mannheimer Haus in Dachau und auch im Rahmen unseres intensiven Jugendaustauschs mit Israel stellen wir fest: Antisemitismus wird stärker und lauter. Wir freuen uns daher, mit RIAS Bayern einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen Antisemitismus leisten zu können“, sagte BJR-Präsident Matthias Fack.
Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, begrüßt die Einrichtung der Meldestelle. „Die Betroffenen haben manchmal eine Scheu, zur Polizei zu gehen, oder halten den Vorfall für nicht relevant genug, um ihn anzuzeigen. Dennoch leiden sie unter dem, was sie erlebt haben. Daher bietet RIAS eine sehr gute und niedrigschwellige Möglichkeit, jenseits der Behörden Vorfälle zu melden. Das hilft den Betroffenen sehr und verschafft uns ein realistisches Bild über Antisemitismus und seine Erscheinungsformen in Bayern“, sagte er.
RIAS Bayern arbeitet eng mit dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus zusammen. Dessen Vorstandsmitglied Benjamin Steinitz erklärte: „Wir begrüßen, dass RIAS Bayern ihre Arbeit aufnimmt, und freuen uns sehr auf die Kooperation. Aus der Arbeit von RIAS Berlin wissen wir, wie wichtig eine regionale Verankerung und eine Ansprechbarkeit vor Ort für Betroffene und ein funktionierendes Unterstützungsnetzwerk ist. Gleichzeitig bildet der Start von RIAS Bayern einen wichtigen Schritt hin zu einer flächendeckenden und bundesweit einheitlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle.“
Für die Einrichtung einer niedrigschwelligen Meldestelle eingesetzt hatte sich Ludwig Spaenle, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. „Die wachsende Zahl der Straftaten macht diese Meldestelle unverzichtbar. Das Melderegister kann aus meiner Sicht entscheidend dazu beitragen, Antisemitismus in seinen Ausprägungen im Alltag sichtbar zu machen, und liefert einen Ansatz, dagegen anzugehen. Über die Meldestelle hinaus muss es uns aber ein Anliegen sein, dass jüdisches Leben in seiner Vielfalt sichtbar wird“, so Spaenle.
Die Erfassung der Vorfälle orientiert sich an der Antisemitismusdefinition der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken, die Antisemitismus als „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“, beschreibt. Laut der Definition richtet sich Antisemitismus in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Personen, deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus könne auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.
Bundesweite Meldestelle für antisemitische Vorfälle gegründet Bundesverband RIAS vorgestellt
20. Dezember 2018
Berlin, 20. Dezember 2018
Betroffene und Zeug_innen von antisemitischen Vorfällen können diese nun auch bundesweit melden. Der am heutigen Donnerstag vorgestellte Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) wird deutschlandweit einheitlich Daten zu antisemitischen Vorfällen unabhängig von ihrer Strafbarkeit erheben.Betroffene und Zeug_innen von Antisemitismus werden zukünftig direkt vor Ort Unterstützung bekommen. Träger aus Bayern, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen werden das Meldetool www.report-antisemitism.de als erste außerhalb Berlins nutzen. Die Ausweitung auf Träger in weiteren Bundesländern ist für 2019 geplant. In einer Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands werden die zentralen Arbeitsweisen an die neuen Meldestellen vermittelt und kontinuierlich weiterentwickelt.
Der Bundesverband RIAS wird die Erfahrungen und die Meldetechnologie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) nutzen und anderen Bundesländern zur Verfügung stellen. RIAS Berlin existiert seit 2015 in Trägerschaft des Vereins für demokratische Kultur (VDK) e.V. Hierzu sagte Vorstandsmitglied des Bundesverbands RIAS und Projektleiter RIAS Berlin Benjamin Steinitz: „In Berlin wurden uns im Schnitt zwei bis drei antisemitische Vorfälle pro Tag bekannt. Bundesweit gehe ich von einer erheblich höheren Dunkelziffer aus. In den vergangenen Jahren wurden uns immer mehr antisemitische Vorfälle außerhalb Berlins gemeldet. Mit dichteren regionalen Meldenetzwerken werden die neuen Meldestellen ein genaueres Bild der Situationen vor Ort zeichnen können.“
Die Arbeit des Bundesverbands RIAS soll den Einsatz jüdischer und nichtjüdischer Organisationen gegen Antisemitismus vereinen. Dem Vorstand des Verbands gehört neben der stellvertretenden Geschäftsführerin des VDK e.V. Annemarie Benzing und Benjamin Steinitz auch der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, an, der zur Neugründung sagte: „In Berlin hat die Arbeit der Meldestelle beträchtlich dazu beigetragen, das wahre Ausmaß des Antisemitismus sichtbarer zu machen. Von den von RIAS Berlin erarbeiteten Qualitätsstandards können Meldestellen in anderen Bundesländern enorm profitieren. Nicht zuletzt für die Betroffenen von Antisemitismus ist dies ein wichtiger Schritt. Ich hoffe, dass Betroffene von Antisemitismus außerhalb Berlins dieses neue Meldeangebot annehmen und Ihre Erfahrungen berichten.“
Schirmherr des neuen Bundesverbands RIAS wird der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus Dr. Felix Klein. Klein erklärte hierzu: „Es darf in der Gesellschaft keine Gleichgültigkeit gegenüber antisemitischen Vorfällen geben. Betroffene müssen unterstützt und die Öffentlichkeit über das Ausmaß antisemitischer Vorfälle in Deutschland informiert werden. Für eine wirksame Strategie gegen jede Form von Antisemitismus ist eine bundeseinheitliche, zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle unerlässlich.“ Zur Schirmherrschaft Kleins erklärte Steinitz: „Die Schirmherrschaft Dr. Kleins signalisiert uns, dass die Politik unsere Arbeit ernst nimmt. Es ist wichtig, beim Aufbau eines bundesweiten Meldenetzwerks auch auf die Unterstützung der Bundesregierung zählen zu können. Antisemitismus ist ein gesamtdeutsches Problem.“
80. Jahrestag der Novemberpogrome: Überlebende der Schoa und gegenwärtiger Antisemitismus
8. November 2018
RIAS BerlinGemeinsames Pressestatement zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome: Überlebende der Schoa und gegenwärtiger Antisemitismus
Der Umgang der Gesellschaft mit der Vergangenheit der Überlebenden ist essentiell für die Möglichkeiten der Bearbeitung der Traumata. Erfahrungen und Erinnerungen aus der Zeit der Verfolgung prägen ein Leben lang. Welche Auswirkungen haben gegenwärtige Erscheinungen von Antisemitismus und die Berichterstattung darüber für Überlebende der Schoa?
Zur Bewertung und Einordnung antisemitischer Vorfälle mit Bezug zur Schoa und zu Überlebenden erklären:Martin Auerbach
klinischer Leiter von AMCHA Israel
„Für die Betroffenen sind Vorfälle wie diese real erlebte Gewalt. Aber auch für Überlebende in Israel können antisemitische Vorfälle in der Heimat der Vorfahren Traumata reaktivieren und zusätzlich belastend auf ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen einwirken. Gerade im Alter können die Einsamkeit, ausbleibende Beschäftigung und der Rückblick auf das Leben dazu führen, dass traumatisierende Erfahrungen stärker ins Bewusstsein rücken.“
Lukas Welz
Vorsitzender von AMCHA Deutschland
„Die Novemberpogrome sind besonders im Gedächtnis der deutschen Überlebenden der Schoa präsent. Erlebte Gewalt, Versteckt sein, Identitätsverluste sind nur einige der Erfahrungen, die schon Kinder zur Zeit der Verfolgung machen mussten und ihre Identität bis heute prägen können. Wie gesellschaftlich mit diesen Erfahrungen umgegangen wird, ist entscheidend für die Bearbeitung der Traumata. Auf der individuellen Ebene können Schoa-relativierende Äußerungen in Europa für Überlebende in Israel Traumata reaktivieren. Alte Ängste werden dann gegenwärtig, Erinnerungen können so dominant werden, dass sie die Überlebenden immer wieder zum mentalen Durchleben der grausamen Erfahrungen aus der Schoa zwingen.“
Benjamin Steinitz
Projektleiter Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
„Seit Beginn der Arbeit von RIAS Berlin werden immer wieder Vorfälle gemeldet, die Schoa-Überlebende oder ihre Nachkommen betreffen. Neben zahlreichen gezielten Sachbeschädigungen an Erinnerungsorten für die Opfer der Schoa trifft Antisemitismus in Form von Schuldabwehr und Schoa-Relativierungen ebenso Jüdinnen und Juden in ihrem alltäglichen Leben, beim Einkaufen, in der U-Bahn. Mit solchen alltagsprägenden Erfahrungen dürfen Betroffene nicht allein gelassen werden.“
Auswahl gemeldeter Vorfälle mit Bezug zur Schoa und Überlebenden:
Berlin
April 2015
Eine Schoa-Überlebende wurde auf dem Heimweg von der Synagoge in der U-Bahn angefeindet. Aus einer Gruppe Jugendlicher wurde sie laut und verächtlich mit „Schabbat Schalom“ angesprochen, leicht geschubst und angerempelt sowie bedrohlich angeschaut.29. August 2015
Ein Schoa-Überlebender und sein Sohn wurden am Pariser Platz von Teilnehmenden einer antiisraelischen Kundgebung als „Kindermörder“, „Terroristen“ und „Nazis“ beschimpft und geschubst. Im folgenden Gespräch wurde ihnen vorgeworfen, dass sie „die deutsche Geschichte bis heute ausnutzen“ würden.23. Januar 2017
Der Zentralrat der Juden in Deutschland erhielt einen antisemitischen Brief, in dem der_die Absender_in um die Weiterleitung an eine öffentlich bekannte Schoa-Überlebende bat. Im Brief wurde an mehreren Stellen die Schoa geleugnet, zudem enthielt der Text zahlreiche antisemitische Beleidigungen und Verschwörungsmythen. Berlin, 20. Juni 2017: Bei einer Veranstaltung zum Leben in Israel an der Berliner Humboldt-Universität wurde die Schoa-Überlebende Dvora Weinstein von einem Mann angesprochen: „Gerade Sie als eine Holocaust-Überlebende sollten sich schämen, hier zu sitzen und zu rechtfertigen, dass Israel das Gleiche den Palästinensern antut was Ihnen angetan wurde“.Leipzig
23. Juli 2017
Bei einem Flohmarkt in Leipzig erlebten ein junger Mann und seine Mutter, Nachkommin von einem Schoa-Überlebenden, wie ein Mann behauptete, dass es die Schoa nicht gegeben habe und von einer „Holocaust-Keule“ sprach. Mehrere Umstehende verteidigten die antisemitischen Positionen, die man als „andere Meinungen“ akzeptieren müsse.17. Oktober 2017
Während einer Interviewaufzeichnung von MDR „Exakt“ am Synagogen-Denkmal in Leipzig liefen zwei Männer vorbei, von denen einer den Hitlergruß zeigte. Der Interviewte Rolf Isaacsohn, Ehrenvorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig und Schoa-Überlebender, erzählte nach dem Vorfall, dass er schockiert sei und „innerlich zittere“.Hintergrund
AMCHA wurde 1987 als humanitär orientierte Selbsthilfeorganisation von Überlebenden der Schoa in Israel gegründet und betreut derzeit jährlich mehr als 20.000 Überlebende und ihre Familien in Israel. AMCHA Deutschland unterstützt als zivilgesellschaftliche Initiative diese Arbeit und entwickelt eigene Programme zur Dokumentation und Vermittlung der Folgen der Verfolgung und Traumata nach kollektiver Gewalt.
Bericht über das erste Halbjahr 2018: Antisemitismus gewalttätiger und gezielter
25. Oktober 2018
RIAS BerlinBericht über das erste Halbjahr 2018: Antisemitismus gewalttätiger und gezielter
Berlin (25.10.2018) – Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) stellt am Donnerstag den Bericht antisemitischer Vorfälle von Januar bis Juni 2018 vor. Insgesamt wurden 527 Vorfälle in Berlin erfasst. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (514 Vorfälle) blieb die Gesamtzahl erfasster antisemitischer Vorfälle in Berlin konstant auf hohem Niveau. Besonderen Anlass zur Sorge gibt die deutliche Zunahme gemeldeter antisemitischer Angriffe und Bedrohungen. Der vollständige Bericht findet sich unter https://report-antisemitism.de/media/Bericht-antisemitischer-Vorfaelle-Jan-Jun-2018.pdf.
RIAS Berlin wurden jeweils 18 solcher antisemitischen Angriffe und Bedrohungen bekannt, wobei sich die Anzahl der gemeldeten Angriffe im Vergleich zum ersten Halbjahr 2017 verdoppelte und die der Bedrohungen um 50 % anstieg. Fast doppelt so häufig wie im gleichen Vorjahreszeitraum meldeten Jüdinnen_Juden oder Menschen, die als solche von Täter_innen wahrgenommen wurden, antisemitische Erfahrungen (98 Personen). Insgesamt waren 158 Einzelpersonen von antisemitischen Vorfällen betroffen, 68 % mehr als von Januar bis Juni 2017. RIAS Berlin-Projektleiter Benjamin Steinitz erklärt hierzu:
„Die Häufung der gemeldeten Angriffe und Bedrohungen nehmen wir mit Erschrecken wahr. Mehr Betroffene als im vergangenen Jahr wandten sich an uns, weil sie besorgniserregende Erfahrungen machten und uns in diesen schwierigen Situationen das Vertrauen entgegenbrachten. Durch unsere Erhebungen während der letzten vier Jahre entsteht ein differenziertes Bild, wie antisemitische Erfahrungen den Alltag der Betroffenen prägen können.“
Ebenfalls erhöht hat sich die Anzahl der Meldungen von verletzendem Verhalten (von 362 auf 401). Zurückgegangen sind dagegen die gezielten antisemitischen Sachbeschädigungen (von 28 auf 21) und die antisemitischen Massenzuschriften (von 103 auf 69).
Mehrere Vorfälle, darunter auch acht gemeldete Angriffe, richteten sich gegen Menschen, die antisemitische Äußerungen kritisiert hatten, wie etwa eine Jüdin, die am Rande des Straßenfestes „Karneval der Kulturen“ einen Mann aufforderte, seine verschwörungsmythologischen und NS-relativierenden Plakate herunterzunehmen. Als sie eines der Schilder berührte, schlug der Mann sie mit diesem und versuchte sie, als sie auf den Boden fiel, zu treten. Durch das Eingreifen ihrer Begleiterin konnte die Betroffene flüchten.
Im Schnitt verzeichnete RIAS Berlin fast drei Vorfälle pro Tag. Dabei war der Mai 2018 der Monat mit den meisten gemeldeten antisemitischen Vorfällen (142) seit Beginn der RIAS-Erfassung 2015. Eine beträchtliche Rolle dürften hierfür israelfeindliche Mobilisierungen im Zuge der 70-Jahr-Feier des Staates Israels und der Verlegung der US-amerikanischen Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem gespielt haben.
Außerhalb Berlins wurden RIAS Berlin im ersten Halbjahr 2018 insgesamt 263 antisemitische Vorfälle bekannt, darunter 8 Angriffe, 33 gezielte Sachbeschädigungen und 13 Bedrohungen. Für andere Bundesländer ist nach wie vor von einer erheblich größeren Zahl nicht gemeldeter Vorfälle als in Berlin auszugehen. Eine umfassendere Dokumentation antisemitischer Vorfälle außerhalb Berlins wird künftig durch den sich im Oktober gründenden Bundesverband RIAS gewährleistet werden.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) wurde im Januar 2015 durch den Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. gegründet. Sie wird gefördert durch das Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Anti-Diskriminierung und die Amadeu Antonio Stiftung. Ziel von RIAS ist eine zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und die Vermittlung von Unterstützungsangeboten an die Betroffenen.
Sigmount Königsberg
Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin
„Das Monitoring von RIAS Berlin – insbesondere die niedrigschwellige Erfassung antisemitischer Vorfälle – ist die Voraussetzung zur Bekämpfung des Judenhasses. RIAS Berlin schafft die Transparenz, die notwendig ist, damit die Verantwortungsträger zum Einen sich der Problemlage bewusst werden und zum Anderen auch die notwendigen Maßnahmen implementieren – gemäß dem Auftrag des Abgeordnetenhauses an den Senat, ein Konzept zur Antisemitismus-Prävention vorzulegen. Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht nur wegen oder für die Juden zu führen, sondern für die offe-ne, liberale, tolerante demokratische Gesellschaft.“
Lala Süsskind
Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) e.V.
„Antisemitische Vorfälle verharren in Berlin weiter auf konstant hohem Niveau. Traurig genug! Zusätzlich erleben wir einen massiven Anstieg von körperlicher Gewalt gegenüber Personen, die als Jüdinnen und Juden erkennbar sind. Die Dokumentation jedes einzelnen Vorfalls im Halbjahresbericht 2018 durch die Recherche- und Informationsstelle Berlin (RIAS) ist wertvoll, im täglichen Engagement gegen Antisemitismus sind wir jedoch alle gefordert. Denn die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist der Lackmustest für die deutsche Demokratie nach der Shoah.“
Marina Chernivsky
Leitung des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden
„Die Quantität und Qualität der gemeldeten Vorfälle kommt für uns nicht überraschend. Aus unserer eigenen Arbeit mit Betroffenen und Bildungsinstitutionen wissen wir wie alltäglich antisemitische Episoden sind. Diese Bestandaufnahme zeugt also von einer ungebrochenen Kontinuität antisemitischer Ideologien, die Menschen dazu verleiten, ihren Hass offen zu zeigen bzw. auch Gewalt anzuwenden. Es bedeutet auch, dass die Wahrnehmung von Antisemitismus durch die jüdische Bevölkerung nicht nur Ängste abbildet, sondern auf realen Erfahrungen beruht.“
Problembeschreibung veröffentlicht: Antisemitismus in Bayern auf hohem Niveau
14. September 2018
RIAS Bundesweite KoordiantionAntisemitismus in Bayern auf hohem Niveau: Neue Meldestelle soll jegliche Form von antisemitischen Vorfällen erfassen
München (14.9.2018) – Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – bundesweite Koordination (RIAS – BK) veröffentlichte am Freitag, 14. September 2018, die Untersuchung „Problembeschreibung: Antisemitismus in Bayern“. Die Untersuchung beschreibt regionalspezifische Ausprägungen antisemitischer Phänomene. Die Schwerpunkte der Problembeschreibung bilden eine qualitative Untersuchung bayerischer jüdischer Perspektiven auf Antisemitismus und eine Auswertung polizeilicher und zivilgesellschaftlicher Daten zu antisemitischen Vorfällen zwischen 2014 und 2016. Einsehbar im PDF
In 20 Interviews mit jüdischen Akteur_innen aus Bayern zu Ihren Erfahrungen mit Antisemitismus, ihrem Anzeige- und Meldeverhalten sowie zu Umgangsweisen mit Judenfeindschaft haben sämtliche Interviewpartner_innen angegeben, unmittelbar von Antisemitismus betroffen zu sein. Während Befragte aus den bayerischen Metropolregionen und aus Großstädten v.a. solche Milieus als Träger_innen von Antisemitismus benennen, die ihre antisemitischen Einstellungen mit dem Islam legitimieren, sehen sich Befragte aus „Kleinstädten und dem ländlichen Raum“ insbesondere durch Rechtsextreme bedroht und gefährdet. Insbesondere israelbezogener Antisemitismus wird von den Interviewpartner_innen als neuartiges und besonders relevantes Phänomen beschrieben. Von vielen Befragten werden die Demonstrationen vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation Hamas im Sommer 2014 als einschneidendes Erlebnis wahrgenommen.
Der Koordinator von RIAS – BK Benjamin Steinitz erklärte: „Die Befragung jüdischer Akteur_innen und die Analyse der Daten zu antisemitischen Vorfällen ergaben, dass Erfahrungen mit und Sorgen vor Antisemitismus für viele bayerischer Jüdinnen_Juden den Alltag. Dabei kommen die Bedrohungen für Jüdinnen_Juden von verschiedenen Seiten: Antisemitismus ist auch in Bayern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Vielfach wurde dabei der Eindruck geäußert, die Betroffenen stünden alleine mit ihren Erfahrungen da. Es wird eine zentrale Aufgabe der bayerischen Zivilgesellschaft und des Freistaates sein, das Vertrauen der Betroffenen herzustellen, damit sie ihre Erfahrungen melden und anzeigen. Wenn der Kampf gegen Antisemitismus erfolgreich sein soll, müssen die Perspektiven der Betroffenen ernstgenommen und in den Mittelpunkt aller Bemühungen gerückt werden.“
Bericht antisemitischer Vorfälle in Berlin 2017 vorgelegt: Anzahl der Vorfälle bedenklich
18. April 2018
RIAS BerlinBericht antisemitischer Vorfälle in Berlin 2017 vorgelegt: Anzahl der Vorfälle bedenklich
Berlin (18.4.2018) – Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) legte am Mittwoch, 18. April 2018, ihren Bericht antisemitischer Vorfälle für das vergangene Jahr vor.
Insgesamt hat RIAS für 2017 947 antisemitische Vorfälle in Berlin erfasst. Der Projektleiter Benjamin Steinitz erklärte hierzu:
„Es handelt sich um die höchste Zahl seit Beginn unserer Erfassung. Täglich sind in Berlin Menschen mit Antisemitismus konfrontiert. Durchschnittlich werden uns jeden Tag zwei bis drei Vorfälle bekannt. Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es prägt den Alltag Betroffener, die wir nicht alleine lassen dürfen!“
der vollständige Bericht findet sich unter: https://report-antisemitism.de/media/bericht-antisemitischer-vorfaelle-2017.pdf
Wie in den vergangenen Jahren erfasste RIAS auch Vorfälle, die keinen Straftatbestand darstellen. Gerade jene niedrigschwelligen Vorfälle prägen in ihrer Vielzahl den Alltag von Jüdinnen_Juden, entfalten ein bedrohliches Klima und beeinträchtigen die Lebensqualität jüdischer Gemeinschaften Berlins. 2017 waren 245 jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen und in 461 Fällen jüdische oder israelische Institutionen und zivilgesellschaftliche Initiativen betroffen. Besorgniserregend ist, dass die Anzahl der betroffenen Einzelpersonen gegenüber 2016 um 55% höher lag. Hierzu kommentierte der Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Sigmount Königsberg:
„Innerhalb der jüdischen Gemeinschaften in Berlin ist die Sorge vor einem Anstieg des Antisemitismus groß. Ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder auf der Straße – fast alle haben schon einmal in ihrem Alltag Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. Es ist außerordentlich wichtig, dass diese Erfahrungen und Perspektiven wahrgenommen werden. Dass es mit der RIAS eine Anlaufstelle gibt, die ein äußerst niederschwelliges Meldesystem hat, die Betroffenen zuhört und ihre Sichtweisen empathisch aufnimmt, ist in dieser schwierigen Zeit für die Jüdische Gemeinde zu Berlin eine große Unterstützung. Für mich ist RIAS eine unerlässliche Kooperationspartnerin.“
Mehr als doppelt so viele antisemitische Vorfälle in Bildungseinrichtungen erfasst
RIAS wurden 2017 30 antisemitische Vorfälle in Berliner Bildungseinrichtungen bekannt – das entspricht einer Verdopplung zum Vorjahr (2016: 14). Von Angriffen über Sachbeschädigungen, Diskriminierungen von jüdischen Kindern oder Studierenden und antisemitischen Störungen von Veranstaltungen bis hin zu Fällen von antisemitischer Propaganda ereigneten sich an Schulen, Kindergärten, Museen und Universitäten unterschiedlichste Vorfälle.
Bundesweit bekannt wurden mehrere Angriffe und monatelange Anfeindungen auf jüdische Schüler_innen durch Mitschüler_innen. Jedoch gingen antisemitische Äußerungen auch von Dozent_innen und Lehrer_innen aus – so beispielsweise in einer Grundschule im Juli 2017, als eine Lehrerin den Bericht einer siebenjährigen jüdischen Schülerin über ihre Israelreise einzig mit der vorwurfsvollen Bemerkung kommentierte, es sei wichtig, den anderen Kindern zu sagen, dass „die Juden den Palästinensern ihr Land weggenommen“ hätten. Die Antidiskriminierungsbeauftragte der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie Saraya Gomis nimmt die Bildungseinrichtungen hier in die Pflicht:
„Jeder antisemitische Vorfall an einer Schule oder im Kindergarten ist höchst bedauerlich. Die Situation der Betroffenen darf nicht dadurch erschwert werden, dass die Vorfälle halbherzig aufgearbeitet, bagatellisiert oder gar geleugnet werden. Schulen, Kindergärten und andere Einrichtungen müssen eine klare Position gegen Antisemitismus beziehen – nur auf diese Weise kann eine Verbesserung der Situation eintreten.“
Die 947 antisemitischen Vorfälle, die RIAS für 2017 erfasst hat, entsprechen einem Zuwachs von über 60% gegenüber den für 2016 inklusive Nachmeldungen dokumentierten 590 Vorfällen. Vor allem die Meldungen von Fällen verletzenden Verhaltens wie mündliche und schriftliche Anfeindungen oder Propaganda in Form von Schmierereien, Aufklebern und auf Versammlungen haben stark zugenommen (2017: 679; 2016: 366). Hiervon fallen über das Internet kommunizierte und direkt adressierte Anfeindungen, wie E-Mails oder Kommentare in den sozialen Netzwerken, besonders ins Gewicht (2017: 325; 2016: 103). Ein entscheidender Grund für den deutlichen Anstieg liegt auch in der steigenden Bekanntheit des Projekts und im kontinuierlichen Ausbau des Meldenetzwerks innerhalb der jüdischen Communities und der Zivilgesellschaft. Benjamin Steinitz verdeutlichte die Bedeutung eines dichten Meldenetzwerks:
„Dank des Vertrauens unserer Kooperationspartner in unsere Arbeit sind wir imstande, die Reichweite des Problems in Berlin etwas sichtbarer zu machen. Seit Beginn unserer Arbeit haben wir jedes Jahr aufs Neue mehr Vorfälle registriert.“
RIAS registrierte zudem eine unveränderte Anzahl von Angriffen (18) und einen leichten Anstieg bei Bedrohungen (23 gegenüber 20) gegen Einzelpersonen und Institutionen. Die Anzahl der Sachbeschädigungen an Eigentum von Jüdinnen_Juden oder Orten der Erinnerung an die Schoa ging leicht zurück (2017: 42; 2016: 56).
Erstmals Vorfälle außerhalb Berlins erfasst
Erstmals wurden durch RIAS auch Vorfälle außerhalb Berlins erfasst. So erfuhr RIAS von 322 Vorfällen im Bundesgebiet, darunter 18 Angriffe, neun Bedrohungen und 72 Sachbeschädigungen. Da das bundesweite Meldenetzwerk für antisemitische Vorfälle erst im Aufbau begriffen ist, geht RIAS für die Regionen außerhalb Berlins von einer erheblich größeren Zahl nicht gemeldeter Vorfälle aus. Der designierte Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein sagte hierzu:
„Der modellhafte Ansatz von RIAS hat in den vergangenen Jahren einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtung des alltäglichen Antisemitismus in Berlin geleistet. Auch zukünftig und in anderen Bundesländern wird diese Arbeit dringend benötigt, um Maßnahmen gegen Antisemitismus koordinieren zu können.“
RIAS begrüßt Annahme der Arbeitsdefinition Antisemitismus
20. Oktober 2017
RIAS BerlinRIAS begrüßt Annahme der Arbeitsdefinition Antisemitismus
Berlin (20.9.2017) – Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) begrüßt die heutige Empfehlung der Arbeitsdefinition Antisemitismus durch die Bundesregierung. RIAS, ein Projekt des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK), verwendet bereits seit Beginn der Arbeit im Januar 2015 diese Arbeitsdefinition. Die Erfahrung von RIAS zeigt, dass Betroffene von Antisemitismus häufig den Weg zur Polizei scheuen, weil die Strafermittlungsbehörden die antisemitische Spezifik der ihnen widerfahrenen Straftaten in der Vergangenheit nicht erkannten.
Insbesondere das Urteil des Landgerichts Wuppertal im Frühjahr 2015 verunsicherte betroffene Jüdinnen und Juden nachhaltig; in der Folge sank ihre Bereitschaft, antisemitische Straftaten anzuzeigen. Das Gericht bewertete vor dem Hintergrund der damaligen Eskalation des Nahost-Konflikts den Brandanschlag auf die Bergische Synagoge 2014 nicht als antisemitische Tat, sondern als rein politisch motiviert. Zwar darf die Arbeitsdefinition nicht mit einem Rechtsbegriff Antisemitismus verwechselt werden. Doch wäre daran orientiert das „Verantwortlichmachen der Juden als Volk für das (tatsächliche oder unterstellte) Fehlverhalten“ der israelischen Regierung – wie beim Brandanschlag geschehen – eindeutig antisemitisch.
„Die Empfehlung der Bundesregierung ist ein notwendiger Schritt. Nun muss die Arbeitsdefinition Antisemitismus für die Arbeit der Strafermittlungsbehörden nutzbar gemacht werden“, so RIAS-Projektleiter Benjamin Steinitz. Er wünscht sich besonders eine Umsetzung auch auf Landesebene: „Der Regierende Bürgermeister Michael Müller muss jetzt seinen wichtigen Worten Taten folgen lassen: Mit Hilfe der Arbeitsdefinition Antisemitismus kann auch in Berlin wirkungsvoll gegen antisemitische Boykottkampagnen vorgegangen werden!“
Zahl gemeldeter antisemitischer Vorfälle bleibt hoch
22. Februar 2017
RIAS BerlinZahl gemeldeter antismeitischer Vorfälle bleibt hoch
Im Jahr 2016 erfasste die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) 470 antisemitische Vorfälle in Berlin. Die Zahl der registrierten Vorfälle ist damit gegenüber dem Vorjahr (2015: 405 Fälle) um 16 % angestiegen. Dazu erklärt der Projektleiter von RIAS, Benjamin Steinitz:
„Dass uns 2016 erneut mehr antisemitische Vorkommnisse als im Vorjahr gemeldet wurden, besorgt mich zwar, ist aber auch auf die steigende Akzeptanz und Bekanntheit von RIAS innerhalb der jüdischen Gemeinschaften zurückzuführen.“
Von den 470 Vorfällen sind 17 physische Angriffe, 18 Bedrohungen, 53 Sachbeschädigungen an Eigentum von Jüdinnen und Juden oder Orten der Erinnerung an die Schoa, sowie 382 auf Fälle verletzenden Verhaltens. Hierbei handelt es sich um mündlich und schriftlich vorgetragene Beschimpfungen, Diskriminierungen, antisemitische Propagandadelikte und Anfeindungen im Internet. Diese sind zwar nicht immer strafrechtlich relevant, erzeugen aber dennoch ein bedrohliches Klima und können die Lebensqualität von Betroffenen und Berliner Jüdinnen und Juden nachhaltig beeinträchtigen. Der Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Dr. Dirk Behrendt erläutert mit Blick auf den bewusst niedrigschwelligen Ansatz des Projekts:
„Zum Kampf gegen Antisemitismus gehört es zunächst, diesen zu erkennen und zu erfassen. RIAS bringt Licht in einen Dunkelbereich antisemitischen Alltags in Deutschland und zeigt, wie wichtig eine unabhängige, zivilgesellschaftliche Beobachtung antisemitischer Vorfälle ist. Das Projekt leistet damit einen Beitrag zum Kampf gegen Antisemitismus und gilt deshalb auch bundesweit als Vorbild. Jede antisemitische Tat ist ein Angriff auf unsere freie Gesellschaft, auf jede und jeden einzelnen von uns. Und es ist unser aller Pflicht zu widersprechen und uns schützend vor jene zu stellen, die antisemitisch angegriffen werden.“
Von 297 Vorfällen, die sich gegen Menschen oder Institutionen richteten, waren 303 Personen betroffen. Die Zahl der von Antisemitismus Betroffenen hat sich damit gegenüber dem Vorjahr verdoppelt (2015: 151 Betroffene). Bei 132 betroffenen Personen war den Täter_innen bekannt, dass es sich um Jüdinnen oder Juden handelt. Das bedeutet ebenfalls einen deutlichen Anstieg gegenüber 2015 (57). Selbst niedrigschwellige Anfeindungen gegen ihre jüdische Identität können zu starken Verunsicherungen bei den Betroffenen führen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, betont in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung zivilgesellschaftlicher Unterstützungsangebote:
„Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin besteht seit zwei Jahren. Bereits in dieser kurzen Zeit ist deutlich geworden, wie wichtig die Arbeit von RIAS ist. Die jüdische Gemeinschaft, aber auch jeder Bürger hat endlich die Möglichkeit, unbürokratisch antisemitische Vorfälle zu melden. Die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und jüdischen Organisationen ermöglicht ein detaillierteres Monitoring und eine exaktere Problembeschreibung. Wir hoffen, dass diese Arbeit dazu beiträgt, erfolgreicher als bisher gegen die Bedrohung vorzugehen, die Antisemitismus für die Gesamtgesellschaft darstellt.“
Angriffe auf Orte der Erinnerung und des Gedenkens nehmen zu
2016 wurden in Berlin 42 Sachbeschädigungen an Orten der Erinnerung an die Schoa gemeldet. Dies ist mehr als drei Mal so viel wie im Vorjahr (2015: 15 Sachbeschädigungen). Es gab darüber hinaus 53 Fälle von mündlichen und schriftlichen Beschimpfungen und Bedrohungen, Reden auf Versammlungen und Propagandafällen, welche Abwehrhaltungen gegenüber dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zum Motiv hatten. Dies drückte sich in Schoa-Leugnungen oder -Relativierungen, der Verhöhnung der Opfer oder der Figur der Täter-Opfer-Umkehr aus. Insgesamt stand jeder fünfte antisemitische Vorfall 2016 im Zusammenhang mit einer solchen Motivation.
Die Moabiter Initiative „Sie waren Nachbarn“, welche seit 2015 in der Ellen-Epstein-Straße mit einem fünf Meter langen Schild an die Deportationen Berliner Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus erinnert, beklagte im vergangenen Jahr zehn Fälle von Vandalismus und berichtete RIAS von ihren Erfahrungen:
„Seit unserer Gründung im Jahr 2011 haben wir immer wieder antisemitische Beleidigungen und Sachbeschädigungen erfahren. Im Jahr 2016 erlebten wir das häufiger als zuvor. Die Anfeindungen spornen uns jedoch an. Wir lassen uns davon nicht einschüchtern. Derzeit planen wir, den Weg von der Sammelstelle zum Deportationsbahnhof Moabit dauerhaft zu kennzeichnen.“
Seit heute ist auf dem neugestalteten Online-Portal des Projekts (www.report-antisemitism.de ) nicht nur ein ausführlicher Bericht antisemitischer Vorfälle in Berlin 2016, sondern erstmals auch eine Chronik aller Vorfälle einsehbar.
Die folgende Grafik zeigt die Zahl jener Fälle in denen Personen im Jahr 2016 in Face-to-Face Situationen angegriffen, beschimpft oder beleidigt wurden. Aufgegliedert sind die Fälle nach den unterschiedlichen Betroffenen-Gruppen. Weitere Grafiken können auf der Webseite eingesehen und unter Angabe der Quelle: „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS)“ verwendet werden.
RIAS beim VDK e.V. und das „Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment“ der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden vereinbaren eine Kooperation
29. September 2016
RIAS BerlinRIAS beim VDK e.V. und das „Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment“ der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden vereinbaren eine Kooperation
Das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) e.V. und die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) des Vereins für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. schließen eine Kooperation, um Jüdinnen und Juden in Berlin zu ermutigen, antisemitische Vorfälle zu melden und damit sichtbarer zu machen.
Erfahrungen mit Antisemitismus werden von Juden und Jüdinnen nur selten bei der Polizei angezeigt oder bei zivilgesellschaftlichen Organisationen gemeldet. Ihre Erfahrungen bleiben für die nicht-jüdische Bevölkerung weitgehend unsichtbar. Werden sie thematisiert, reagieren Beteiligte häufig abwehrend: Antisemitismus wird bagatellisiert und als »nicht so gemeint« entschuldigt, die Betroffenen als zu empfindlich dargestellt.
Der Direktor der ZWST, Benjamin Bloch ist zuversichtlich, dass diese modellhafte und zukunftsweisende Kooperation ein wichtiger Meilenstein für die Antisemitismusbekämpfung in Deutschland ist. Er erklärt: „Die enge Zusammenarbeit unserer Projekte wird die Unterstützung jüdischer Institutionen, sowohl auf der Ebene der Erfassung antisemitischer Vorfälle als auch im Bereich der Beratung und Begleitung von Betroffenen verbessern.“
Die Geschäftsführerin des VDK e.V., Bianca Klose freut sich über das Zustandekommen der Kooperation mit der ZWST. Sie erklärt: „Die Einbeziehung der Sichtweisen und Expertisen von Juden und Jüdinnen sind für unsere Projekte, die sich gegen Antisemitismus und für die Entwicklung einer demokratischen Kultur einsetzen von elementarer Bedeutung. Die gezielte Ansprache jüdischer Communities und der Aufbau von Vertrauen in zivilgesellschaftliche Angebote ist ein zentrales Anliegen von uns.“
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS), gefördert durch das „Landesprogramm Demokratie. Vielfalt. Respekt. Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ hat im Austausch mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen aus Deutschland und England ein Melde- und Erfassungssystem in Berlin entwickelt und erprobt. Das niedrigschwellige Angebot beruht auf einem mehrsprachigen Online-Portal, über das sich die Betroffenen jederzeit an das Projekt wenden können. Benjamin Steinitz, der Leiter von RIAS erklärt dazu: „Obwohl uns seit dem Start der Online-Meldestelle im Juli 2015 weit über 200 Vorfälle aus Berlin und anderen Bundesländern mitgeteilt wurden, gehen wir davon aus, dass das Dunkelfeld noch immer viel zu groß ist. Deswegen freuen wir uns den in Berlin bereits erfolgreich eingeschlagenen Weg ab sofort gemeinsam mit einem weiteren bundesweit tätigen Partner verfolgen zu können.“
Das Kompetenzzentrum der ZWST, gefördert durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ entwickelt Programme für Community Coaching, Wissenschaftspraxistransfer und politische Bildung. Darüber hinaus qualifiziert das Kompetenzzentrum spezialisierte Fachkräfte und baut eigene Beratungs- und Unterstützungssysteme auf. Marina Chernivsky, die Leiterin des Kompetenzzentrums erläutert: „Antisemitische Kommunikation und konkrete Vorfälle werden oft zum Selbstschutz klein geredet oder als traurige Normalität begriffen. Die mangelnde Anerkennung der Betroffenenperspektive ist oftmals der Grund, warum auch die bestehenden Beratungsangebote nicht in Anspruch genommen werden. Menschen, die Diskriminierung erfahren, wollen nicht als Opfer angesehen werden. Sie haben ihre eigenen Ressourcen und Umgangsstrategien und brauchen Räume für Selbsterfahrung, Austausch und professionelle Unterstützung. Dort wo Erfahrungen geteilt werden, ergeben sich neue Möglichkeiten für ein wirksames und stärkendes Handeln.“ Mit den neuen Angeboten des Kompetenzzentrums rückt nun auch das Empowerment der Betroffenen in den Fokus der ZWST.
„Die Arbeit von RIAS ist sehr wertvoll“ Berliner Stimmen zum 1‑jährigen Bestehen der Online-Meldestelle für antisemitische Vorfälle
30. Juli 2016
RIAS Berlin„Die Arbeit von RIAS ist sehr wertvoll“ – Berliner Stimmen zum 1‑jährigen Bestehen der Online-Meldestelle für antisemitische Vorfälle
Der alltägliche Antisemitismus wird durch die Arbeit von RIAS sichtbarer.
Zahlreiche Betroffene antisemitischer Vorfälle haben sich seit der Gründung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin im Jahr 2015 an das Projekt gewandt. Rund 200 Fälle wurden seit vergangenem Sommer über das mehrsprachige Online-Portal www.report-antisemitism.de und über soziale Medien an RIAS gemeldet.
Das bundesweit erste zivilgesellschaftliche Angebot dieser Art wurde vom Verein für demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK e.V.) gegründet, weil von Antisemitismus betroffene Jüdinnen und Juden ihr Erfahrungen nur selten zur Anzeige bringen. Im ersten Jahr konnten zahlreiche Vorfälle sichtbar gemacht werden, ein Erfolg der Meldestelle, wenngleich ein bedrückender. Positiv zu verzeichnen ist, dass nach Veröffentlichungen von RIAS die Berliner Polizei mehrere Dutzend antisemitische Straftaten aus dem Vorjahr nacherfasst. Die Zahlen von RIAS liegen deutlich über denen der behördlichen Statistik.
„Die Schilderungen der Betroffenen werden auf Grundlage der ‚Arbeitsdefinition Antisemitismus‘¹ bewertet“, sagt Projektleiter Benjamin Steinitz. „Wenn die Berliner Polizei, sich an dieser Arbeitsdefinition bei der Ermittlung antisemitischer Tatmotive orientieren würde, wie es zum Beispiel die englische Polizei tut, dann wäre die Fallzahl auch in der offiziellen Statistik deutlich höher.“
Auch die vielen Meldungen von Vorfällen, die keine strafrechtliche Relevanz haben, belegen den großen Bedarf für die Aufnahme und Bekanntmachung antisemitischer Vorfälle durch eine zivilgesellschaftliche Organisation.
„Die Arbeit von RIAS ist sehr wertvoll für die Bekämpfung des Antisemitismus.“
Anlässlich des einjährigen Bestehens der Online-Meldemöglichkeit stellt Anja Schillhaneck, Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses und Sprecherin für Europa- und Bundesangelegenheiten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, fest:
„Die Arbeit von RIAS ist sehr wertvoll für die Bekämpfung des Antisemitismus. Durch das niedrigschwellige Angebot an Betroffene richtet RIAS ihren Blick auch auf Vorfälle, die entweder nicht bei der Polizei angezeigt werden oder nicht strafrechtlich relevant sind. Das hilft, um das tatsächliche Ausmaß des Antisemitismus in dieser Stadt besser abbilden und analysieren zu können. Nur wenn wir als politische Entscheidungsträger genau wissen, womit wir es zu tun haben, ist eine effektive und zielgerichtete Bekämpfung dieser gefährlichen Ideologie möglich.“
Vom Berliner Senat gefördert – „Meldestelle trägt dazu bei, das Dunkelfeld aufzuhellen“
RIAS wird vom Berliner Senat gefördert und unterstützt nicht nur Betroffene, sondern gibt auch jenen, die sich gegen Antisemitismus engagieren wollen, in Zusammenarbeit mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen, konkrete Ansatzpunkte und Hilfestellungen.
Dazu Dilek Kolat, Berliner Bürgermeisterin und Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen:
„Je mehr wir über antisemitische Vorfälle wissen, desto besser können wir dagegen vorgehen. Deshalb ist die Arbeit von RIAS so wichtig. Die Meldestelle trägt dazu bei, das Dunkelfeld aufzuhellen, hilft Betroffenen und unterstützt die Arbeit der Polizei. Ich wünsche mir, dass das zivilgesellschaftliche Engagement von RIAS in Berlin und darüber hinaus Schule macht.“
„Die Arbeit von RIAS macht klar, wo Antisemitismus beginnt.“
Die Bedeutung der Arbeit der Registerstelle kommentiert die Vize-Präsidentin der Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V. Maya Zehden:
„Fromme Juden verbergen ihre Kippa in der Öffentlichkeit lieber unter anderen Kopfbedeckungen. Denn wenn unvermittelt verbale Angriffe kommen, wird die Kippa schon mal als jüdische „Provokation“ ausgelegt. Der Angriff wird legitimiert als Meinungsäußerung. Die Arbeit von RIAS macht klar, wo Antisemitismus beginnt. Wir Juden in Deutschland können uns nur in diesem Land sicher fühlen, so lange diese Form der Aufklärung stattfindet und Antisemitismus von Zivilgesellschaft und Institutionen aktiv bekämpft wird.“
Aus der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin:
- Einem Israeli und seiner Begleitung wird von drei angetrunkenen Männern aus der Ferne zugerufen „Da sind ja schon wieder ein paar von diesen Drecksjuden“ und „Scheiß Juden, dass ihr euch immer noch in unser Land traut.“ Die Täter treffen die Beiden mit Glasflaschen. Die umstehenden Passant_innen reagieren nicht.
- Ein orthodoxer Jude wird auf dem Weg zur Synagoge von zwei Unbekannten gefragt, ob er Jude sei. Als er die Frage bejaht, wird er von einem der Täter beschimpft und zwei Mal ins Gesicht gespuckt. Der Angreifer bezeichnet sich selbst als Palästinenser und fertigt mit seinem Handy mutmaßlich Fotos von dem Betroffenen an.
Bundesweit einmaliges Meldesystem für antisemitische Vorfälle in Berlin
16. Juli 2015
RIAS BerlinBundesweit einmaliges Meldesystem für antisemitische Vorfälle in Berlin
Kurz vor der Eröffnungsfeier der 14. European Maccabi Games (EMG 2015) stellte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) heute vor rund fünfzig Gästen im Rathaus Charlottenburg ihr neues digitales Meldesystem für antisemitische Vorfälle der Öffentlichkeit vor. Ab dem 20. Juli können rund um die Uhr mit wenigen Klicks antisemitische Bedrohungen, Beschimpfungen und Angriffe über die Webseite www.report-antisemitism.de/berlin gemeldet werden. Während der Maccabi Games wird das System erstmals zum Einsatz kommen.
„Wir wollen alltäglichen Antisemitismus erfassen und sichtbar machen“, sagte Benjamin Steinitz, Leiter des vom Senat geförderten Projekts RIAS. „Anders als die Polizei dokumentieren wir nicht nur strafrechtlich relevante Taten“, betonte er. „Wir freuen uns, gemeinsam mit der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) offizieller Partner der Maccabi Games zu sein. Zusammen mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen unterstützen wir Betroffene von Antisemitismus.“ Durch mehrsprachige Flugblätter und über soziale Netzwerke wie Facebook werden die 2.300 Sportler_innen aus 35 Ländern ab sofort über das Meldesystem informiert.
Auf der heutigen Veranstaltung mit dem Titel „Die Maccabi Games in Deutschland selbstverständlich (!)? – 117 Jahre jüdischer Sport in Berlin“ diskutierten Expert_innen aus Politik, Sport, Wissenschaft und Medien mit Vertreter_innen von Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien sowie Sportorganisationen.
„Die EMG 2015 in Berlin und die Unterstützung, die wir von Berliner Sportverbänden erfahren, zeigen, dass jüdisches Leben wieder in der Mitte der deutschen Gesellschaft einen festen Platz hat“, sagte Dr. Oren Osterer, Direktor des Organisationskomitees der EMG 2015 auf der Veranstaltung.
Prof. Lorenz Peiffer
von der Universität Hannover kommentierte die historische Bedeutung der EMG 2015:
„1936 waren die deutschen jüdischen Sportlerinnen und Sportler von der Teilnahme an den Olympischen Spielen in Berlin durch die nationalsozialistischen Machthaber ausgeschlossen. Heute treten sie an den damaligen olympischen Plätzen selbstbewusst zu ihren Wettkämpfen an. Die EMG 2015 in Berlin sind ein später, aber ein Sieg des Sports über die Rassentheorie der Nazis.“
Sportjournalist Martin Krauss
betont:
„Das Wichtige an den EMG 2015 scheint mir diese Botschaft an die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft zu sein: Es gibt jüdischen Sport, der ist sehr lebendig, der ist sehr vielfältig, das ist mal guter und mal schlechter Sport, und dieser jüdische Sport nimmt sich selbstverständlich das ihm zustehende Recht, öffentlich präsent zu sein“.
Claudio Offenberg,
sportlicher Leiter bei TUS Makkabi Berlin e.V., hofft auf einen Werbeeffekt für seinen Ortsverein:
„Wir wünschen uns insbesondere, dass viele junge Berliner, ob Juden oder nicht, den Weg in unsere Jugendmannschaften finden. Ob tatsächlich die Akzeptanz und der Respekt vor unserem Club durch die EMG 2015 einen positiven Schub erhalten, beobachten wir mit Spannung.“
RIAS-Meldestelle zieht erste Bilanz 212 antisemitische Vorfälle in Thüringen im Jahr 2021
7. Juni 2012
RIAS Thüringen