Der Bundesverband RIAS möchte mit seiner antisemitismuskritischen Bildungsarbeit jüdische Perspektiven sichtbar machen und dazu befähigen, antisemitische Erscheinungsformen zu erkennen und sich im Alltag gegen Antisemitismus zu positionieren.
Interviews
Schoa-Überlebende und Angehörige
Graphics
Antisemitische Vorfälle aus Betroffenenperspektiven
Angebote
Veranstaltungen, Wissen, Team
Hintergrund
Ausgangspunkt unserer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit ist die Arbeitsweise des Bundesverbands RIAS, die wir im Folgenden vorstellen.
Wir möchten alle Interessierten dazu anregen, eigenständig die Bildungsmaterialien auf unserer Website zu nutzen. Wir empfehlen, zur Vorbereitung unsere kostenfreien Workshops und Fortbildungsbildungsangebote zu antisemitismuskritischer Bildung und der Verwendung unserer Bildungsmaterialien zu nutzen (siehe Angebote).
Um Antisemitismus vermitteln zu können, ist sowohl ein historisches Verständnis als auch ein Wissen um aktuelle antisemitische Erscheinungsformen zentral. Antisemitismus ist ein äußerst wandelbares gesellschaftliches Phänomen, das sich an politische, ökonomische und soziale Begebenheiten anpasst und dadurch geschichtliche Kontinuitäten und Brüche aufweist. Für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist zudem zu berücksichtigen, dass dieser diverse Funktionen für die Personen erfüllt, die sich antisemitisch äußern und verhalten.
Antisemitismus kann als Komplex feindseliger Denkstrukturen und Überzeugungen beschrieben werden, die sich kollektiv gegen Jüdinnen_Juden richten. Diese können sich in Form von (abwertenden) Haltungen, Stereotypen, Vorurteilen sowie Projektionen und Hass gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrücken. Antisemitische Strukturen und Denkmuster sind tief in der europäischen Kultur verwurzelt, haben sich über die Jahrhunderte immer wieder verändert und verschiedene Ausdrucksformen angenommen. Zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten lassen diese jeweils spezifische Ausprägungen erkennen. Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, weil er in allen Altersgruppen, gesellschaftlichen Schichten und in allen politischen Systemen, Parteien und Milieus auftritt. Er äußert sich beispielsweise in Form von Ungleichbehandlung, Beleidigungen, vermeintlichen Witzen, Aggressionen und Angriffen bis hin zu extremer Gewalt. Dabei richtet er sich gegen Jüdinnen_Juden oder auch gegen Menschen, die als jüdisch wahrgenommen oder benannt werden sowie gegen jüdische Institutionen oder solche, die als jüdisch gedeutet werden. Er wird im privaten wie auch im öffentlichen Raum geäußert. Antisemitische Behauptungen oder Meinungen werden unabhängig von dem tatsächlichen Verhalten von Jüdinnen_Juden artikuliert.
Es existiert keine Definition des Antisemitismus, die alle Dimensionen umfasst. Aus der wissenschaftlichen, politischen und pädagogischen Arbeit resultieren vielmehr unterschiedliche Zugänge, die sich in verschiedenen Begriffsbestimmungen niedergeschlagen haben. Es gibt jedoch einige Ansätze, die für die Analyse von Antisemitismus eine gute Grundlage bilden. Theodor W. Adorno, Begründer der Kritischen Theorie, bezeichnet Antisemitismus als „Gerücht über die Juden“. [1] Damit verweist er darauf, dass antisemitische Erzählungen ein vermeintliches Wissen über Jüdinnen_Juden darstellen, welches gesellschaftliche Verbreitung findet und so als kollektiver Wissensfundus verankert wird. Dabei kann es sich um einzelne Stereotype handeln, die über Jahrhunderte in immer neuen Formen und Variationen auftreten. Antisemitismus wirkt dabei auch als geschlossene Verschwörungserzählung oder Welterklärungsansatz. Hier wird die abstrakte Dimension des Antisemitismus deutlich, die sich nicht auf konkrete Personen beschränkt, sondern sich beispielsweise als Erklärung für die Übel der Welt eignet. Das bedeutet, ein vereinfachter und binärer Welterklärungsansatz, in dem es „das Gute“ und „das Böse“ gibt, wird auf den „Juden“ übertragen, wobei „der Jude“ als das ultimativ Böse von der Welt verbannt werden müsse. Ausgangspunkt ist eine personalisierte Wahrnehmung von abstrakten gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, welche die Moderne kennzeichnen (beispielsweise Klima, Armut, Ungleichheit oder Ausbeutung). Verdrängte Wünsche und Begehren, zum Beispiel nach Macht und Geld, werden nach Adorno in der Vorstellung von Antisemit_innen auf Jüdinnen_Juden projiziert.
„Der als Feind Erwählte ist schon als Feind wahrgenommen“, schreiben Adorno und Max Horkheimer, ebenfalls zentraler Denker der Kritischen Theorie. [2] Vor diesem Hintergrund einer immer schon feindseligen und ressentimentgeladenen Wahrnehmung von Jüdinnen_Juden können in die antisemitischen (Welt-)Erklärungsansätze widersprüchliche Elemente zugleich vereint werden, wie Bilder von Über- und Unterlegenheit von Jüdinnen_Juden (beispielsweise Weltbeherrschung, Geld und Macht, körperliche Schwäche oder rassistische Konstruktionen). Ein weiteres Kernelement des Antisemitismus ist die Täter_innen-Opfer-Umkehr. Das bedeutet, dass Antisemit_innen sich selbst stets als Opfer darstellen, während sie umgekehrt die eigentlichen Betroffenen von Antisemitismus, also Jüdinnen_Juden, als Täter_innen konstruieren.
[1] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4. Frankfurt am Main 1997, hier S. 125.
[2] Ebd., hier S.199.
Die Arbeit des Bundesverbandes RIAS zur einheitlichen zivilgesellschaftlichen Erfassung antisemitischer Vorfälle basiert auf der IHRA-Arbeitsdefinition (International Holocaust Remembrance Alliance, dt.: Internationale Allianz zum Holocaust-Gedenken). [1] Diese wurde von zivilgesellschaftlichen Initiativen aus Berlin für den deutschsprachigen Kontext spezifiziert und operationalisiert. [2] Die Entstehung der Definition geht auf die Praxis zur Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus angesichts der Zunahme antisemitischer Vorfälle zu Beginn der 2000er Jahre in Westeuropa zurück: 2005 wurde von der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia – EUMC), unter Einbeziehung von zivilgesellschaftlichen und jüdischen Organisationen, eine Definition von Antisemitismus erstellt, die der IHRA als Grundlage dient. Die IHRA Arbeitsdefinition von Antisemitismus wurde am 26. Mai 2016 von den Mitgliedsstaaten auf dem Plenum der IHRA in Bukarest beschlossen. Sie gilt als juristisch nicht bindende Definition. Vielmehr ist das Anwendungsziel, sie in den Kontexten von Antidiskriminierungsarbeit, Polizeiarbeit, Strafverfolgung und Justiz nutzbar zu machen. Vor allem wird die IHRA national und international auch für den Einsatz im Bildungsbereich empfohlen und angewendet, [3] so beispielsweise in der Polizeiausbildung, in Curricula für Staatsanwält_innen und Richter_innen in der „Gemeinsamen Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule“ der Kultusministerkonferenz, des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten. [4] Ihre Stärke besteht dementsprechend darin – und in diesem Sinne wird sie auch von RIAS-Meldestellen genutzt – dass es sich um eine operative Grundlage handelt, die es ermöglicht, Antisemitismus im Alltag zu erkennen bzw. zu bestimmen. Sie dient vielen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteur_innen weltweit als eine verbindliche Orientierung. Damit besitzt sie für Praktiker_innen einen hohen Wert, auch wenn es sich nicht um ein rechtsverbindliches Dokument handelt und die Definition weder die historische Genese von Antisemitismus noch Motive für und Funktionen von antisemitischen Haltungen erhellen kann.
Die Begriffsklärung der IHRA besteht aus einer Kerndefinition und elf Beispielen, die sowohl zur Erläuterung dienen als auch Teil der Definition sind. Antisemitismus wird im Kern folgendermaßen beschrieben: Antisemitismus ist „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen_Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ [5]
Damit charakterisiert die Arbeitsdefinition drei zentrale Aspekte von Antisemitismus: Erstens wird die Form der Wahrnehmung von Jüdinnen_Juden thematisiert, und zwar die Wahrnehmung derjenigen, die sich antisemitisch äußern oder verhalten. Zweitens wird die Handlungsebene einbezogen, indem die Äußerungsformen von Antisemitismus in Wort und Tat benannt werden. Und drittens werden diejenigen benannt, die von Antisemitismus betroffen sind.
Antisemitismus wird also als eine spezifisch (vor-)geprägte Wahrnehmung definiert, die auf Hass und damit auch Abwertung und Ablehnung beruht. Zugleich werden hier die Betroffenen fokussiert, gegen die sich Antisemitismus in Wort oder Tat richtet: Jüdische sowie nichtjüdische, bzw. jüdisch gelesene Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Diese Definition umfasst damit sowohl verletzendes Verhalten, Bedrohungen und Angriffe als auch extreme Gewalt.
[1] Siehe dazu Bundesverband RIAS: Handbuch zur praktischen Anwendung zur IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus. Luxemburg 2021. Online unter https://report-antisemitism.de/documents/IHRA-Definition_Handbuch.pdf (Zugriff am 13.08.2024). Im Weiteren zitiert als Handbuch IHRA-Arbeitsdefinition.
[2] Siehe dazu Bundesverband RIAS: Jahresbericht. Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2023. Berlin 2024, hier S. 61. Online unter https://report-antisemitism.de/documents/25-06-24_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf (Zugriff am 13.08.2024).
[3] Vgl. Handbuch IHRA-Arbeitsdefinition, hier S. 20.
[4] Siehe dazu den Beschluss des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland vom 18.03.2021. Online unter https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_06_10-Gemeinsame_Empfehlung-Antisemitismus.pdf (Zugriff am 28.06.2024).
[5] Handbuch IHRA-Arbeitsdefinition, hier S. 9.; RIAS arbeitet mit einer Version der IHRA Arbeitsdefinition die für den deutschen Kontext angepasst wurde. Diese lautet: „Der Antisemitismus beschreibt gesellschaftlich tradierte Wahrnehmungen eines fremd konstruierten jüdischen Kollektivs. Die Wirkmächtigkeit dieser Fiktionen zeigt sich in der Verbreitung antisemitischer Einstellungen, öffentlicher Debatten und kann sich als Hass gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrücken. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“, siehe dazu: www.report-antisemitism.de/bundesverband-rias/
Für RIAS gehört es zu den zentralen Aufgaben, die Perspektiven von Jüdinnen_Juden auf Antisemitismus sichtbar zu machen. Über 150 von RIAS durchgeführte leitfadengestützte Interviews haben ergeben, dass Antisemitismus für Betroffene alltagsprägend ist. [1] Das bedeutet nicht, dass Jüdinnen_Juden jeden einzelnen Tag Antisemitismus erfahren, sondern „dass er in so unterschiedlichen Kontexten immer wieder auftritt, sodass Jüdinnen_Juden alltäglich gezwungen sind, das vielfältige Leben ihrer unterschiedlichen jüdischen Identitäten mit der Sicherstellung ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit abwägen zu müssen. […] Dieser Prozess stellt sich für viele Betroffene als konflikthaft und belastend dar.“ [2] Demgegenüber geht die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft davon aus, dass Antisemitismus in Deutschland kaum eine Rolle spiele und nur eine geringe Zahl, bzw. kaum jemand der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung „gegen die Juden“ sei – laut einer Studie von 2022 70 % der nichtjüdischen Befragten. [3] Jedoch stellt Antisemitismus für 82 % der in Deutschland lebenden Jüdinnen_Juden ein ernsthaftes Problem dar, wie aus der Dritten Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (Fundamental Rights Agency, FRA) von 2024 hervorgeht. [4] Dementsprechend vertritt der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestags in seinem Bericht von 2017 die Position: „Vieles an dem Erleben von Antisemitismus bleibt für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft unsichtbar.“ Das Gremium kam zu dem Schluss, dass zwischen jüdischen Communities und der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft eine „Perspektivendivergenz“ bestehe, auch Wahrnehmungsdiskrepanz genannt. [5]
Der Bundesverband RIAS verfolgt das Ziel, diese Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft und den in Deutschland lebenden Jüdinnen_Juden nicht nur sichtbarer zu machen, sondern auch zu reduzieren. Ausgangspunkt für die Arbeit des Bundesverbandes sind die Erfahrungen von RIAS Berlin, der bundesweit ersten RIAS-Meldestelle, die seit 2015 beim Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e. V. tätig ist.
Vor dem Hintergrund der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der islamistischen Terrororganisation Hamas und Israel im Sommer 2014 ermittelte der VDK erstmals die Perspektiven auf und Erfahrungen mit Antisemitismus von Betroffenen in Berlin im Rahmen einer Befragung von Vertreter_innen der Berliner Synagogengemeinden und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin („Wir stehen alleine da“). [6] So konnte mit der Gründung von RIAS Berlin das Meldeangebot ganz konkret an den Bedürfnissen der jüdischen Communities ausgerichtet werden. Zwischen 2017 und 2021 führte der Bundesverband RIAS und sein Vorgängerprojekt in acht weiteren Bundesländern vergleichbare systematische Befragungen von Jüdinnen_Juden durch. Die Befragungen, die in Problembeschreibungen veröffentlicht wurden, verfolgten das Ziel, die Situation von jüdischen Communities und Einzelpersonen in den einzelnen Bundesländern zu verstehen und zu erheben, wie sich Antisemitismus regionalspezifisch auswirkt. [7] Ergänzend wurden für die betreffenden Bundesländer zivilgesellschaftlich und polizeilich erhobene antisemitische Straftaten und Vorfälle ausgewertet. Auf den Befragungen aufbauend wurden regionale RIAS-Meldestellen in mittlerweile elf Bundesländern gegründet, die sich an den Arbeitsweisen und Qualitätsstandards des Bundesverbandes RIAS orientieren. Hierzu gehört nicht nur die betroffenenorientierte und Datenschutz-konforme Annahme von Meldungen strafbarer und nicht-strafbarer Vorfälle über die Webseite www.report-antisemitism.de, sondern auch die bundesweit einheitliche Dokumentation und Systematisierung in einer durch den Bundesverband RIAS betriebenen Datenbank. Diese ermöglicht die Erhebung antisemitischer Vorfälle nach wissenschaftlichen Kategorien und eine kontinuierliche Qualitätskontrolle. Regelmäßige Publikationen der regionalen RIAS-Meldestellen und des Bundesverbands RIAS vermitteln so differenzierte Einschätzung zum Ausmaß und zur mehrjährigen Entwicklung antisemitischer Vorfälle in Deutschland. Vertreter_innen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft in Politik, Kultur, Verwaltung, Polizei, Justiz oder Bildungseinrichtungen erhalten so umfassende Daten zu Antisemitismus, die auf die Erfahrungen von Betroffenen von Antisemitismus zentriert sind.
Das Wissen um diese Perspektiven ist eine Voraussetzung und zentraler Ausgangspunkt für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit des Bundesverbands RIAS. Diese Herangehensweise beinhaltet, den alltagsprägenden Charakter von Antisemitismus für Betroffene sowie ihre Reaktionen und ihren Umgang mit diesen in den Blick zu nehmen und das damit verbundene Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit zu thematisieren. [8]
Gesellschaftliche Dynamiken, bei denen es zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Vorfälle kommt, bezeichnet RIAS als Gelegenheitsstrukturen. Bestimmte gesellschaftliche Situationen und/oder Debatten können Anlässe und einen Rahmen für einen Anstieg antisemitischer Äußerungen oder Handlungen bieten. Das heißt, „unter Gelegenheitsstrukturen [werden] temporär sich verändernde Möglichkeitsbedingungen verstanden, die eine Zu- oder Abnahme antisemitischer Handlungen bedingen“. [9] Samuel Salzborn, Sozialwissenschaftler und Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin, führt aus, dass „Antisemitismus […] häufiger geäußert und aggressiver artikuliert“ werde, wenn dieser „öffentliche Artikulationsmöglichkeiten hat, die zum Vorwand genommen werden, das vorhandene antisemitische Ressentiment auszuagieren“. [10] Es ist dabei wichtig zu betonen, dass Antisemitismus in den Gelegenheitsstrukturen nicht begründet ist, sondern diese lediglich einen Rahmen bzw. einen Anlass für den Anstieg von antisemitischen Äußerungen und aggressive Artikulationsformen darstellen. Die Massaker der Terrororganisation Hamas an der israelischen Bevölkerung am 7. Oktober 2023 sowie der darauf folgende Krieg, aber auch beispielsweise die Coronapandemie boten zuletzt Anlässe, welche zu Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Handlungen wurden und jüdisches Leben in Deutschland bedrohen. [11]
[1] Siehe dazu Bundesverband RIAS: „Das bringt einen in eine ganz isolierte Situation“. Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017-2020. Berlin 2021. Online unter https://report-antisemitism.de/documents/2023-02-28_Isolierte_Situation_Web.pdf (Zugriff am 25.08.2024).
[2] Daniel Poensgen / Julia Kopp: Alltagsprägende Dynamiken: antisemitische Vorfälle in Deutschland. In: Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antisemitismus, Bd. 8. Hrsg. vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Jena 2020, hier S. 221.
[3] Jenny Hestermann / Roby Natanson / Stephan Stetter: Deutschland und Israel heute. Zwischen Verbundenheit und Entfremdung. Gütersloh 2022, hier S. 44.
[4] European Union Agency for Fundamental Rights: Jewish people’s experiences and perceptions of antisemitism 2024. EU Survey of jewish people – Country Data Germany. Online unter https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/antisemitism_survey_2024_-_country_sheet_germany_0.pdf (Zugriff am 17.8.2024).
[5] Ebd.
[6] Siehe dazu VDK / RIAS Berlin: „Wir stehen alleine da.“ #EveryDayAntisemitism sichtbar machen und Solidarität stärken. Neue Wege der Erfassung antisemitischer Vorfälle – Unterstützungsangebote für die Betroffenen. Online unter https://report-antisemitism.de/documents/2016-07-18_rias-be_Broschuere_Wir-stehen-alleine-da.pdf (Zugriff am 15.02.2024).
[7] Für die einzelnen Problembeschreibungen in den jeweiligen Bundesländern siehe online unter https://report-antisemitism.de/findings/ (Zugriff am 2. September 2024).
[8] Siehe dazu Tanja Kinzel im Interview Janika Schiffel, März 2022. Online unter https://www.haus-des-erinnerns-mainz.de/index.php/projekte-ausstellungen/projekte/1700-jahre/rias-kinzel/ (Zugriff 16.02.2024).
[9] Julius Gruber / Bianca Loy / Daniel Poensgen: Antisemitische Vorfälle nach den Massakern der Hamas am 7. Oktober. Die Rolle von Gelegenheitsstrukturen für das antisemitische Vorfallgeschehen in Deutschland (RIAS Working Paper 01/23 ), hier S. 20. Online unter https://report-antisemitism.de/documents/2024-05-17_Working-Paper-01-23_Antisemitische-Vorfaelle-nach-den-Massakern-der-Hamas-am-7-Oktober.pdf (Zugriff am 28.8.2024). Im Weiteren zitiert als Gelegenheitsstrukturen.
[10] Samuel Salzborn: Antisemitismus zwischen Tat und Straftat. Zur Dunkelfelderhellung am Beispiel des Berliner Modells der Antisemitismusbekämpfung. In: Recht und Politik, Bd. 57, Nr. 2 (2021), hier S. 226.
[11] Siehe dazu Gelegenheitsstrukturen.
Erscheinungsformen
Antisemitismus kann in unterschiedlichen Erscheinungsformen zum Ausdruck kommen. Inhaltlich unterscheidet RIAS bei der Erfassung antisemitischer Vorfälle fünf verschiedene Erscheinungsformen. Diese wurden für die Bildungsarbeit spezifiziert.
Beim antisemitischen Othering werden Betroffene aufgrund einer (angenommenen oder tatsächlichen) Zugehörigkeit zum Judentum antisemitisch konfrontiert oder als nicht zugehörig zur jeweiligen imaginierten Wir-Gruppe adressiert. Jüdinnen_Juden oder Personen und Gruppen, die als jüdisch wahrgenommen werden, werden häufig negativ, oft widersprüchlich charakterisiert. „Das Jüdische“ wird dabei auf bestimmte Eigenschaften und Zuschreibungen fixiert und als fundamental verschieden dargestellt. Das „Andere“ im antisemitischen Othering wird kulturell, ethnisch und/oder religiös definiert oder mit imaginierten und antisemitischen äußeren Erscheinungsbildern beschrieben. Ziel ist auch eine Aufwertung des eigenen Selbst.
Diese antisemitische Erscheinungsform äußert sich u.a. in Beleidigungen – beispielsweise in der Beschimpfung als „Jude“. Eine Markierung und Beschimpfung als jüdisch richtet sich auch häufig gegen nichtjüdische Menschen oder Gruppen. Sie sollen als Gegner_innen oder Feind_innen markiert werden, weshalb diese Erscheinungsform auch an Schulen oder beispielsweise im Fußballkontext regelmäßig dokumentiert wird. Aber auch wenn Jüdinnen_Juden aufgrund ihrer Erkennbarkeit als jüdisch angegriffen, bedroht oder beschimpft werden, handelt es sich dabei um antisemitisches Othering. Eine häufig dokumentierte Form des antisemitischen Otherings zeigt sich in Verbindung mit israelbezogenem Antisemitismus: Jüdinnen_Juden werden mit Israel identifiziert und für die israelische Politik in Haftung genommen.
Einerseits beschreibt antijudaistischer Antisemitismus die Verbreitung religiös begründeter antisemitischer Stereotype. Der Vorwurf, Jüdinnen_Juden seien für den Tod Jesu verantwortlich, ist ein Beispiel für christlichen, antijudaistischen Antisemitismus. Die antisemitische Vorstellung, dass Jüdinnen_Juden Satan anbeten würden, wird jedoch nicht nur mit christlichen, sondern ebenfalls mit islamischen Glaubensinhalten begründet. Anderseits umfasst antijudaistischer Antisemitismus auch antisemitische Stereotype gegen die jüdische Religion als solche. Diese findet man etwa in den Debatten um die Beschneidung jüdischer Jungen und um das Schächten nach jüdischen Speisegesetzen.
Historischen Ursprung haben diese Stereotype im frühen Christentum und im Mittelalter: Mit dem Streben des Christentums als Weltreligion die Vorherrschaft zu erlangen, schlug die anfängliche Abgrenzung gegenüber dem Judentum zunehmend in Feindschaft um. Im Heiligen Römischen Reich wurden Jüdinnen_Juden für den Ausbruch der Pest verantwortlich gemacht, mit der Unterstellung, sie hätten Brunnenwasser vergiftet. Jüdinnen_Juden wurden dabei stigmatisiert, verfolgt und ermordet (Pestpogrome). Auch für das Verschwinden christlicher Kinder wurde ihnen die Schuld gegeben: Unter Folter erzwang die christliche Gesellschaft das "Geständnis", jüdische Gemeindemitglieder würden das Blut geraubter christlicher Kinder für rituelle Zwecke missbrauchen (Ritualmordlegenden). Diese antisemitischen Legenden haben sich über Jahrhunderte gehalten, werden beständig aktualisiert und finden sich beispielsweise auch im israelbezogenen Antisemitismus wieder – wenn beispielsweise von „Kindermörder Israel“ die Rede ist, oder davon, dass Israel das in die palästinensischen Gebiete geleitete Wasser vergifte.
Teilweise werden religiöse Überlieferungen auch heute als religiös legitimierter Aufruf zur Gewalt gegen Jüdinnen_Juden genutzt. Ein aktuelles Beispiel ist die islamistische Parole „Khaibar, khaibar, ya yahud“. Auf Deutsch übersetzt lautet die vollständige Parole: „Khaibar, Khaibar, oh Juden, erinnert euch an Khaibar, die Armee Mohammeds kehrt zurück.“ Die Parole ist eine affirmative Bezugnahme auf einen Feldzug des Propheten Mohammed gegen eine von Jüdinnen_Juden besiedelte Oase im Jahr 628, der mit der Eroberung des Gebietes und – einigen Quellen zufolge – einem Massaker an einem Teil der jüdischen Bevölkerung endete.
Um modernen Antisemitismus handelt es sich, wenn Jüdinnen_Juden eine besondere politische oder ökonomische Macht zugeschrieben wird, etwa im Rahmen von Verschwörungsmythen. Im modernen Antisemitismus werden komplexe (globale) Zusammenhänge auf vermeintlich einfache Art und Weise erklärt. Das dahinterliegende Weltbild basiert auf einem widerspruchsfreien „Gut-Böse-Schema“, wobei „die Juden“ als negative Projektionsfläche dienen. Dabei werden Jüdinnen_Juden wahlweise offen als Feindbild benannt oder codiert beschrieben. So wird Jüdinnen_Juden eine geheime Macht zugeschrieben, die sich beispielsweise in der Vorstellung ausdrückt, es gäbe eine „jüdische Elite“, die die weltweite Kontrolle über Medien, Wirtschaft, Regierungen und andere gesellschaftliche Institutionen ausübe, um eigene Interessen zu verfolgen. Bis in die Gegenwart und in unterschiedlichen zeitlichen und geografischen Kontext werden beispielsweise die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ als vermeintlicher Beleg für eine antisemitische Weltverschwörung in Texten, Reden oder auf Versammlungen angeführt. In diesem 1903 im russischen Zarenreich von Unbekannten verfassten Pamphlet, welches bereits 1921 als Fälschung enttarnt wurden, wird ein angebliches „Weltjudentum“ konstruiert, dass das angebliche Ziel habe, die jüdische Weltherrschaft zu erlangen. Ein im Vergleich neuerer Verschwörungsmythos ist etwa der sogenannte große Austausch („Great Replacement“), mit dem einer geheimen Macht – häufig Jüdinnen_Juden – unterstellt wird, durch die Lenkung von Migrationsbewegungen gezielt die einheimische Bevölkerung durch eine fremde austauschen zu wollen. In diesem rechtsextremen Verschwörungsmythos verbinden sich Rassismus und Antisemitismus unmittelbar miteinander.
Post-Schoa-Antisemitismus fasst solche Bezugnahmen auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen zusammen, die diese bagatellisieren, relativieren, leugnen oder die Erinnerung an sie ablehnen. Dies kann sich auf die historische Realität der Schoa beziehen oder auf einzelne Aspekte, wie das Ausmaß (etwa die Zahl von 6 Mio. ermordeten Jüdinnen_Juden), die Mechanismen (beispielsweise die Gaskammern) oder die Vorsätzlichkeit des Genozids an den europäischen Jüdinnen_Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer_innen und Helfer_innen. Der Satz „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“, der dem jüdischen Publizisten und Arzt Zvi Rix zugeschrieben wird, beschreibt überspitzt die Abwehr der Nachkommen von NS-Täter_innen im postnazistischen Deutschland für die Verantwortung und die Erinnerung an die Verbrechen ihrer Vorfahren. Dies äußert sich auch in der Forderung von Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach einem „Schlussstrich“ unter die Erinnerung an die Schoa.
Post-Schoa-Antisemitismus verschränkt sich häufig mit anderen antisemitischen Erscheinungsformen. So findet eine Verknüpfung von Post-Schoa-Antisemitismus und modernem Antisemitismus statt, wenn Jüdinnen_Juden unterstellt wird, sie würden von der Schoa profitieren, häufig verbunden mit Behauptungen, dass sie selbst für die Schoa verantwortlich seien. Dabei handelt es sich um eine Täter-Opfer-Umkehr.
Formen der Täter-Opfer-Umkehr treten auch in Bezug auf Israel als jüdischen Staat auf. Häufig wird israelisches Vorgehen mit Verweis auf die Schoa kritisiert, indem die nationalsozialistische und israelische Politik gleichgesetzt wird oder erwartet wird, Israelis müssten es „besser wissen“. So verbinden sich israelbezogener Antisemitismus und Post-Schoa-Antisemitismus.
Von israelbezogenem Antisemitismus ist die Rede, wenn antisemitische Stereotype mit Bezug auf den Staat Israel geäußert werden oder offener Antisemitismus gegenüber Israel als jüdischem Staat geäußert wird. Wenn Jüdinnen_Juden beispielsweise für die Politik der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden oder ihnen unterstellt wird, sie würden sich dem Staat Israel stärker verpflichtet fühlen als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer, handelt es sich um israelbezogenen Antisemitismus. Oftmals wird auch der Begriff „Zionismus“, bzw. „Zionist_innen“ (bewusst oder unbewusst) als Synonym für Jüdinnen_Juden verwendet, um so dem Vorwurf des Antisemitismus zu entgehen.
Der israelische Politiker und Autor Nathan Scharansky entwickelte 2003 den sogenannten 3D-Test, um legitime Kritik an der israelischen Regierung oder Politik von antisemitischen Aussagen zu unterscheiden. Die drei Ds stehen für Delegitimierung, Dämonisierung und doppelte Standards. Beispielsweise wird der jüdische Staat Israel delegitimiert, wenn sowohl dem Staat als auch der israelischen Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen, Israel als rassistisches oder koloniales Unterfangen gebrandmarkt oder das Existenzrecht des jüdischen Staates grundsätzlich infrage gestellt wird, wie mit der Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“. Diese Aussage impliziert, dass ein Staat Palästina vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer reiche und auch das Gebiet Israels umfasse. Um doppelte Standards handelt es sich, wenn an das Handeln des israelischen Staates andere Maßstäbe angelegt werden, als an das Handeln anderer demokratischer Staaten. So wird Israel beispielsweise das Selbstverteidigungsrecht abgesprochen oder man fordert von Israel ein Verhalten ein, das von keiner anderen Demokratie erwartet und verlangt wird. Eine Dämonisierung Israels liegt vor, wenn der Staat als ultimativ böse dargestellt wird. Dies kann beispielsweise durch Gleichsetzungen mit dem Nationalsozialismus geschehen – hier wird auch eine Verknüpfung zum Post-Schoa-Antisemitismus hergestellt. Ebenso kann Israel durch antisemitische Symbole und Bilder dämonisiert werden, die mit antijudaistischem Antisemitismus in Verbindung stehen, wie Darstellungen von israelischen Politiker_innen als Teufel oder blutsaugende Vampire.
Kontakt
Für Anfragen zu unseren Angeboten sowie Austausch zu den Materialien nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf. Auch für Feedback und Anregungen schreiben Sie uns gerne
Telefon | +49 30 509 311 910 |
Adresse | Gleimstraße 31, 10413 Berlin |
Förderung
Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie Leben und durch die Deutsche Kassenlotterie Berlin.
Copyright
CC BY-NC-ND 4.0
Die Verwendung der (Bildungs-)Materialien und Inhalte der Webseite ist für den nicht-komerziellen Gebrauch, bei der Nutzung der Inhalte ist eine Namensnennung verpflichtend. Es dürfen nur unveränderte Kopien veröffentlicht und geteilt werden.