Text im Apabiz Magazine Ausgabe 13/24 erschienen
Der arabisch-israelische Konflikt in der rechten Publizistik
5. November 2024
Bundesverband RIAS e.V. & apabizAntisemitische Reaktionen auf den 07. Oktober Antisemitische Vorfälle in Deutschland im Kontext der Massaker und des Krieges in Israel und Gaza zwischen dem 07. Oktober und 09. November 2023
28. November 2023
Bundesverband RIAS e.V.Nach dem Terror der Hamas: Anitsemitische Vorfälle in Berlin vom 7.10.2023 bis 9.11.2023
27. November 2023
RIAS BerlinEine Publikation der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
Antisemitic reactions to October 7 Antisemitic incidents in Germany between October 7 and November 9, 2023, in the context of the massacres and the war in Israel and Gaza
27. November 2023
Bundesverband RIAS e.V.After Hamas terror attacks on Israeli civilians: antisemitic incidents surge in Berlin
2. November 2023
RIAS BerlinEine Publikation der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
Nach den Terrorangriffen der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung: Sprunghafter Anstieg antisemitischer Vorfälle in Berlin
20. Oktober 2023
RIAS BerlinEine Publikation der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
Antisemitische Reaktionen in Deutschland auf die Hamas-Massaker in Israel
18. Oktober 2023
Bundesverband RIAS e.V.Antisemitic reactions in Germany to the Hamas massacres in Israel
18. Oktober 2023
Bundesverband RIAS e.V.Monitoring des Theaterstücks Vögel: „Für uns war das Stück eine traumatisierende Erfahrung.“
4. Juli 2023
RIAS NiedersachsenIm Frühjahr dieses Jahres wurde im Theater Lüneburg das Stück Vögel aufgeführt. Im Folgenden ein Monitoringbericht der antisemitischen Darstellungen und ihrer Wirkung. Das Stück von Majdi Mouawad hatte bereits im November 2022 für Diskussionen gesorgt, nachdem jüdische Studierende Kritik an einer Inszenierung am Metropoltheater in München geäußert hatten. Grund hierfür waren antisemitische Inhalte in einigen Szenen. Das Theaterstück wurde daraufhin abgesetzt.
Im Zentrum der Handlung steht die Liebesbeziehung der Araberin Wahida und dem deutschen Juden Eitan. Die Eltern von Eitan stellen sich jedoch gegen die Beziehung da Wahida keine Jüdin sei. Die Geschichte spielt zum größten Teil im heutigen Israel, wohin Eitan mit Wahida reist um ein, in der Familie lange gehütetes, Geheimnis zu lüften. Nach einem DNA-Test erfährt Eitan, dass sein Vater David nicht der leibliche Sohn des Großvaters Edgar ist. Im Verlauf der Geschichte wird offenbart, dass David in Wahrheit das Kind palästinensischer Eltern sei und als Säugling von Edgar während seines Dienstes als Soldat in der israelischen Armee geraubt wurde.
Im Publikum einer Aufführung am 9. März befanden sich wieder jüdische Studierende, diesmal vom Verband Jüdischer Studierender Nord. In der Inszenierung sahen sie, wie zuvor die Studierenden in München, an mehreren Stellen Motive die RIAS Niedersachsen dem Post-Schoa-Antisemitismus, dem israelbezogenen Antisemitismus und dem antijudaistischen Antisemitismus zurechnet. Für sie stellte sich das Theaterstück folgendermaßen dar:
„Die Bemühungen jüdischer Menschen, ihre Opferrolle abzuwerfen und das Verständnis für Freude an der Kultur und Religion zu vermitteln, werden im Stück ignoriert. Jüdischsein wird entweder als eine schwerwiegende Last gezeigt oder, wenn es zur Darstellung von starken jüdischen Personen kommt, werden diese als aggressive israelische Soldat*innen illustriert. Das Stück reproduziert nicht nur Hass und falsche Darstellungen, es wird nicht einmal differenziert zwischen Israelis und Juden*Jüdinnen.“ – Verband Jüdischer Studierender Nord
Nicht immer ist in den einzelnen Aussagen und Darstellungen der antisemitische Gehalt explizit dargestellt. In ihrem Gesamtkontext ergeben sie jedoch eine Darstellung von jüdischem Leben, das an klassische antisemitische Erzählungen anknüpft, Jüdinnen*Juden stereotypisiert und sie mit negativen Charakterzügen kennzeichnet. Solche Darstellungen etablieren beim Publikum antisemitische Bilder. Sie verschieben die Grenzen des Sagbaren und fördern die Alltäglichkeit von Antisemitismus, welchen Jüdinnen*Juden immer wieder auch in unmittelbarer Gewalt erleben. Kulturstätten werden so zu Orten der Unsicherheit in denen Jüdinnen*Juden unvermittelt Antisemitismus begegnet.
Die Darstellung von Jüdinnen*Juden
In der Szene, die die Vorstellung der Hauptfiguren einleitet, soll dem Publikum mit mehreren Symbolen verdeutlicht werden, dass es sich im Folgenden um eine jüdische Familie handelt. So wird betont, dass nun der Sederabend, der Beginn des Pessachfestes stattfinde, die Männer tragen große, schwarze Kippot, es wird Musik mit hebräischem Gesang eingespielt und getanzt. Die Überbetonung der jüdischen Symbolik führt zu dem grotesken Bild, dass auf dem Sedertisch eine große Channukiah Platz findet. Die Kerzen des neunarmigen Leuchters werden jedoch ausschließlich an Chanukkah, einem anderen Fest gezündet. Im Anschluss folgt eine lange Streit-Szene, in der die Eltern von Eitan, David und Norah als böse und selbstsüchtige Figuren dargestellt werden. So instrumentalisieren sie die Schoa um Eitan, ihrer rassistischen Ideologie entsprechend, zu beeinflussen. Dabei verteidigt Norah den Rassismus ihres Ehemanns mit der Erklärung, dass Araber nun mal dessen Feinde seien. Davids ausgeprägter Rassismus wird so als Normalität in jüdischen Familien dargestellt.
Eine solche Darstellung bleibt beim Publikum nicht ohne Wirkung. Nach der Vorstellung hörten die Studierenden wie ein Besucher, als er den Theatersaal verließ, an seine Begleitung gewandt sagte: „Das Problem ist ja, dass wenn du Jude bist, du denkst, dass du der Größte bist“. Für die Studierenden liegt in der Tatsache, dass mindestens bei einem Teil des Publikums davon auszugehend ist, dass das Stück antisemitische Bilder verfestigt, wenn nicht gar erst aufzeigt, die größte Problematik in der Aufführung:
„Der Kommentar des Gastes macht deutlich, wie alarmierend eine solche Darstellung von Jüdinnen*Juden und ihre Wirkung ist. In der Aussage wird das Othering deutlich, dass Jüdinnen und Juden täglich erleben. Othering, also das anders machen beschreibt die Markierung einer Differenz zwischen Nichtjüdinnen*Nichtjuden und Jüdinnen*Juden. Letztere werden nicht als etablierter Teil der Gesellschaft mit alltäglichen Bedürfnissen verstanden. Die Aussage unterstellt Jüdinnen und Juden außerdem eine gewisse Machtgier. Beides sind alte antisemitische Stereotype. Die Reaktion zeigt, wie schnell sich die Darstellungen von Juden*Jüdinnen in dem Stück als Realität in den Köpfen der Zuschauer verankert!“ – Verband Jüdischer Studierender Nord
Antijudaismus
Ein Hauptstrang des Stückes ist, dass der Großvater Edgar als israelischer Soldat ein arabisches Kind (David) stahl und es im Glauben aufzog, jüdisch zu sein. Die Geschichte, in der ein Jude ein Kind stiehlt, knüpft an die sogenannte Ritualmordlegende an. Der Mythos besagt, dass Jüdinnen*Juden heimlich nichtjüdische Kinder entführen und ermorden würden, um ihr Blut für rituelle Zwecke zu missbrauchen. Sie ist eines der wirkmächtigsten antijudaistischen Motive und führte bereits im Mittelalter, im christlich geprägten Europa und zu späterer Zeit auch in der islamischen Welt, immer wieder zu Pogromen und antisemitisch motivierten Lynchmorden.
Die Verwendung dieses antijudaistischen Motivs wird ein weiteres Mal bedient: Nachdem Eitan seiner Familie verkündet, dass er eine Araberin liebt, fragt David ihn, was geschehe, wenn er ihm jetzt ein Messer an den Hals halten würde. Eitan erwidert, das mache David zum Kindsmörder.
An einer anderen Stelle wird von Leah auf den aus der Bibel stammenden Satz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ Bezug genommen. Der Satz wird häufig (entgegen seiner eigentlichen Bedeutung) als Beweis für einen rachsüchtigen Charakter des Judentums herangezogen.
Post-Schoa Antisemitismus
An verschiedenen Stellen des Stücks wird die Schoa durch vermeintliche „Witze“ bagatellisiert. So kommentiert der Großvater Edgar das Warten in einer Warteschlange am Flughafen mit den Worten: „Schicken die uns in den Ofen, oder wie?“. Die Frau Edgars bedauert an anderer Stelle, dass dieser nicht im KZ gestorben sei, da sie ihn dann nicht mehr ertragen müsste. Da die Aussagen jüdischen Figuren in den Mund gelegt werden, stellen sie diese als normalen Umgangston zwischen Jüdinnen*Juden dar. Sie legitimieren die Aussagen damit auch für ein nichtjüdisches Publikum als noch im Rahmen des Sagbaren. Dies ist insbesondere problematisch, da Jüdinnen und Juden häufig in Anfeindungen erleben, dass ihnen gewünscht wird, sie sollen in einem KZ ermordet werden, wie ihre Vorfahren.
Es bleibt im Stück jedoch nicht bei „Witzen“ über die Massenvernichtung. Die rassistischen Aussagen des Vaters David gegenüber Araber*innen werden von diesem immer wieder mit dem Verweis auf das Leid des Großvaters während der Schoa gerechtfertigt. Die Aussagen wiederholen damit das antisemitische Motiv, Jüdinnen*Juden würden die Erinnerung an die Schoa für ihre Zwecke instrumentalisieren.
Auch findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt, indem der Sohn Eitan verkündet, dass das jüdische Volk heute Palästinenser*innen in gleicher Weise behandle, die es einst von den deutschen Nationalsozialisten erfuhr. Indem die Schoa mit dem Verhalten Israels im Israelisch-Palästinensischen Konflikt gleichgesetzt wird, wird erstere relativiert und Israel als Wiedergänger des Nationalsozialismus dämonisiert. Die Aussagen fallen bei einem deutschen Publikum auf fruchtbaren Boden. So setzen, laut einer repräsentativen Umfrage der Leipziger Autoritarismus Studie, 30% der Befragten das Verhalten Israels gegenüber den Palästinenser:innen mit Praktiken des Nationalsozialismus gleich. 40% stimmen der Gleichsetzung zumindest noch teilweise zu. Weiter sind 40% der Meinung, heutige Reparationszahlungen würden lediglich „einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten“ nützen, aber nicht den eigentlichen Opfern. Die Forderung nach einem „Schlussstrich“ sei ebenfalls weit verbreitet. Über 50% der Befragten stimmten der Aussage zu, dass zeitgenössische Probleme eher behandelt werden müssen als, dass sich mit Vergangenem beschäftig werden soll. 20% stimmen der Aussage noch teilweise zu.1
Israelbezogener Antisemitismus
In einer Szene wird gezeigt, wie die israelische Soldatin Eden sich übergriffig gegenüber der Araberin Wahida verhält. Beendet wird der Übergriff durch die Explosion eines Anschlags. In der Darstellung kann der Anschlag als Erlösung von dem Übergriff verstanden werden. So entsteht, symbolisiert durch die zwei Figuren, ein dichotomes Bild des Israelisch-Palästinensischen Konflikts, in dem Israel als übermächtiger und sadistischer Staat dargestellt wird, gegen den jedes Mittel legitim erscheint.
Weiter berichtet die Großmutter Leah von Selbstmordanschlägen durch verliebte Israelische und palästinensische Jugendliche, nach deren Durchführung die Regierung durch Gen-Analysen beweisen wollte, dass ausschließlich Palästinenser*innen an den Anschlägen beteiligt waren. Dabei hätte die Regierung versehentlich fast bewiesen, dass Jüdinnen*Juden und Palästinenser*innen genetisch gleich seien. Dies sollte aber angeblich verdeckt werden. Befremdlich ist, dass an dieser Stelle ohne weitere Einordnung behauptet wird, dass an Selbstmordanschlägen, die in der Vergangenheit vorwiegend israelische Zivilist*innen trafen, jüdische Israelis gleichermaßen beteiligt gewesen seien. Antisemitisch ist die Darstellung Israels als manipulativer und rassistischer Staat.
Die zahlreichen positiven Reaktionen die das Stück nach den Aufführungen in Lüneburg hervorgerufen hat und die Eindrücke, welche die Studierenden nach ihrem Besuch schildern ergeben zwei völlig verschiedene Eindrücke:
„Das Theaterstück Vögel schien bei allen, bis auf uns vier jüdischen Zuschauern, hervorragend anzukommen. Wir saßen sprachlos da und lauschten den siebenminütigen Standing Ovations. Ein Stück, welches die Schoa relativiert, Israel zum Tyrannen kürt und Jüdischsein als größte Bürde darstellt. Wie lässt uns das fühlen? Eine junge Generation, welche dafür kämpft, endlich ein positives Bild des diversen Judentums zu etablieren. Wir sind zutiefst betroffen über die grausame, fehlerhafte, einseitige und diffamierende Darstellung jüdischer Menschen, Feiertage und Traditionen und auch des Staates Israel. Für uns war das Stück eine traumatisierende Erfahrung. Die für uns klaren, antisemitischen Narrative schienen für den Rest des Publikums nicht lesbar zu sein.“- Verband Jüdischer Studierender Nord
Hierin wird die Diskrepanz in der Wahrnehmung von Antisemitismus deutlich. Eine von der Bertelsmann-Stiftung durchgeführte Studie ergab bereits 2013, dass 77% der befragten (nichtjüdischen) Deutschen der Auffassung seien, dass kaum jemand in Deutschland negativ gegenüber Jüdinnen*Juden eingestellt sei. Bei einer 2017 durchgeführten Befragung unter Jüdinnen*Juden in Deutschland hielten nahezu ebenso viele Befragte, nämlich 76%, Antisemitismus für ein großes Problem in Deutschland.2
Betroffene weisen immer wieder darauf hin, dass Antisemitismus von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft oft nicht als solcher erkannt wird. Ein Grund kann darin liegen, dass Antisemitismus sich häufig chiffriert äußert und Umwegkommunikationen nutzt. Bei der Skandalisierung von Vorfällen sehen sich Betroffene aber auch mit der Bagatellisierung von Antisemitismus konfrontiert. Damit wird nicht Antisemitismus, sondern die Bearbeitung des Problems verunmöglicht. Im Vorfeld der Inszenierung in Lüneburg, hat es nicht an Kritik und Hinweisen aus der jüdischen Community ob der antisemitischen Motive des Stücks gemangelt. Schließlich führten eben solche Hinweise nur wenige Wochen zuvor zur Absetzung des gleichen Stücks in München. Dass das Stück dennoch in dieser Art aufgeführt wurde zeigt, dass antisemitische Motive entweder nicht gesehen werden wollten, oder das Stück gerade auch wegen ihnen aufgeführt wurde. Gemessen an der Reaktion des Publikums muss die Inszenierung eines Stücks mit antisemitischen Motiven für das Theater als Erfolg gewertet werden.
- Vgl. Kiess, Johannes; Decker, Olive; Heller, Oliver; Brähler, Elmar: Antisemitismus als antimodernes Ressentiment: Struktur und Verbreitung eines Weltbildes, in: Decker, Oliver; Brähler, Elmar (Hrsg.), (2020): Autoritäre Dynamiken Alte Ressentiments – neue Radikalität, Leipziger Autoritarismusstudie 2020, Psychosozial-Verlag, Gießen, S. 226-227 Quelle: https://www.boell.de/sites/default/files/2021-04/Decker-Braehler-2020-Autoritaere-Dynamiken-Leipziger-Autoritarismus-Studie_korr.pdf↩
- Vgl. Steffen Hagemann/ Roby Natanson: Deutsche und Israelis heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung 2015. Hier S. 117.↩
Antisemitische Vorfälle und Erscheinungsformen im Kontext der aktuellen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland
28. Januar 2022
Bundesverband RIAS e.V.Antisemitische Vorfälle und Erscheinungsformen im Kontext der aktuellen Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland
Der aktuell unvermindert starke Zulauf bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen geht mit einer vermehrten Sichtbarkeit von antisemitischen Inhalten auf diesen Versammlungen einher. Als Reaktion auf die angekündigte Impfpflicht und die Einführung der 2G- und 3G-Regeln häufen sich die Analogien zur Schoa und insbesondere zur antisemitischen Markierungspraxis im Nationalsozialismus. Während das Tragen von sogenannten „Judensternen“ bereits seit einiger Zeit öffentlich kritisiert wird, werden solche Vorfälle nun auch zunehmend von der Polizei vor Ort angezeigt. Als Reaktion darauf beobachtet RIAS neue Chiffren, offensichtlich um sich dem zu entziehen. So werden beispielsweise vermehrt gelbe Armbänder mit der Inschrift „ungeimpft“ oder Abwandlungen eines „Judensterns“ getragen.
Die mit dieser Art von Vergleichen einhergehende Selbstinszenierung als Opfer verharmlost die Schoa und den Nationalsozialismus. Solch eine Relativierung ist nicht nur für Überlebende und ihre Nachkommen unerträglich und verletzend, sie geht auch mit Schuldabwehr und Aggressionen gegen Jüdinnen_Juden einher.Im November 2021 reagierte die Politik auf die steigenden Infektionszahlen infolge der Delta-Variante mit einer Verschärfung der Maßnahmen. Die Ministerpräsident_innenkonferenz am 18. November sprach sich für eine Impfpflicht im Gesundheitsbereich aus und schuf eine Grundlage für eine einheitliche und flächendeckende Anwendung der 2G- und 3G-Regel. Die mediale Berichterstattung dazu wurde auf Social Media zahlreich mit Analogien zum „Faschismus“ und der Verfolgung von Jüdinnen_Juden im Nationalsozialismus kommentiert (Vgl. eine Übersicht des Bundesverbands).
Parallel zu dieser Entwicklung auf Social Media wurden dem Bundesverband RIAS am 20. November drei Versammlungen bekannt, in deren Verlauf es zu antisemitischen Äußerungen kam. Ab diesem Zeitpunkt war auch ein verstärkter Zulauf auf Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen zu beobachten. Als Anlaufpunkt fungierten einerseits die bereits bestehenden Versammlungsstrukturen und es entstanden zugleich neue Strukturen, die sich inhaltlich an den bestehenden Positionen des Spektrums orientierten.Während die ersten Versammlungen vor allem an Wochenenden stattfanden, kamen ab dem 13. Dezember bundesweit die, nach dem Vorbild aus Sachsen, jeden Montag stattfindenden „Spaziergänge“ hinzu. Diese beiden Aktionsformen unterscheiden sich dadurch, dass auf Versammlungen an den Wochenenden in Form von Reden und durch Plakate eine inhaltliche Außendarstellung geschaffen wird – während die meisten der sogenannten „Spaziergänge“ kaum eine inhaltliche Außenwirkung entfalten. Der Grund ist das ursprüngliche Ziel, strengeren Versammlungsauflagen zu entgehen, indem ein vermeintlich spontaner Charakter nahegelegt wird. Auf Telegram-Kanälen werden diese sogenannten Montagsspaziergänge öffentlich einsehbar angekündigt und koordiniert. Auf der Plattform finden sich am jeweiligen Abend oder Folgetag dann auch Videos in einer Länge von 30 bis 120 Sekunden von den jeweiligen Versammlungen. Diese verdeutlichen das Ziel, nach Innen in das eigene Milieu zu wirken, um Anerkennung zu erfahren und gleichzeitig eine breite bundesweite Mobilisierung zu suggerieren.
Weiterhin ist die Gruppe der an den Versammlungen teilnehmenden Personen augenscheinlich sehr divers. Trotz regionaler Unterschiede bei der personellen Zusammensetzung der Proteste sind auch einheitliche Inhalte in Form von Parolen, auf Schildern oder in Reden („Widerstand“ als Parole, Wissenschaftsfeindlichkeit, Opferinszenierung und das „System“ als Feindbild) festzustellen.
Ab Anfang Dezember 2021 wurden die Auflagen für Versammlungen aufgrund der hohen Inzidenz regional verschärft und die 2G- und 3G-Regel konsequenter umgesetzt. In der Folge nahm die Anzahl derjenigen, die sich in einer „Diktatur“ wähnen, zu – was von einem vermeintlichen/imaginierten „Widerstands“-Gestus flankiert wird. Diese Dynamik eröffnete organisierten rechten Akteur_innen die Möglichkeit, ihre Erfahrung im Bereich Durchsetzung und Mobilisierung von Versammlungen mit einzubringen und außerhalb des eigenen Milieus zu etablieren („Montagspaziergänge“). Die Akteur_innen gewinnen dadurch an Legitimität und erhalten neue Aktionsräume – gleichzeitig halten sie sich oftmals in der inhaltlichen Außendarstellung der einzelnen Versammlungen zurück. Getragen wird diese Kooperation und Nicht-Abgrenzung von gemeinsamen Feindbildern und eigenen Opferinszenierungen. Dieses Phänomen ist nicht neu, es ist u.a. bekannt durch die „bürgerlichen“ „Nein zum Heim“-Proteste 2015 oder die Etablierung von PEGIDA.91 Versammlungen mit antisemitischen Erscheinungsformen vom 20. November 2021 bis zum 8. Januar 2022
Im Zeitraum vom 20. November 2021 bis zum 8. Januar 2022 wurden dem Bundesverband RIAS und den regionalen Meldestellen 91 Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen bekannt, bei denen es zu antisemitischen Äußerungen kam. RIAS erfasst diese – entsprechend des Kategoriensystems – als Vorfälle von „verletzendem Verhalten“.
In 81 Fällen wurden Stereotype des Post-Schoa-Antisemitismus, also antisemitische Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus und die Schoa, und in 10 Fällen Stereotype des modernen Antisemitismus, also beispielsweise antisemitische Verschwörungsmythen, verwendet. Allein im Dezember 2021 wurden 67 Versammlungen bekannt, auf denen antisemitische Inhalte verbreitet wurden.Im Sommer 2021 veröffentlichte der Bundesverband RIAS die Zahlen zu antisemitischen Vorfällen zwischen dem 17. März 2020 und dem 17. März 2021 mit Bezug zur Coronapandemie, darunter fielen 324 Vorfälle auf Versammlungen (Vgl. die Publikation "Das Beispiel QAnon. Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie"). Der höchste Wert, im Mai 2020, betrug 87 Vorfälle auf Versammlungen, im November 2020 waren es 48. Es ließ sich beobachten, dass sich das Versammlungsgeschehen analog der Dynamik des öffentlichen Diskurses über die Maßnahmen zur Bekämpfung Covid-19-Pandemie erhöht. Entsprechend bieten die Versammlungen seit November 2021 wieder eine Gelegenheit sich öffentlich antisemitisch zu artikulieren, was zu einer Zunahme an Vorfällen führt.
Angriffe auf die Pressefreiheit verstärken das Dunkelfeld
Insgesamt wurden dem Bundesverband RIAS und den regionalen Meldestellen Versammlungen mit antisemitischen Inhalten in vierzehn Bundesländern bekannt. Aufgrund der hohen Anzahl von Versammlungen, ihrer regionalen Verteilung insbesondere auch im ländlichen Raum und den nicht durchgängig vorhandenen Monitoringressourcen ist jedoch von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Die fast im Tagesrhythmus bekannt werdenden Angriffe und Bedrohungen gegen Journalist_innen oder Personen aus der Zivilgesellschaft aus den Versammlungen heraus haben zur Folge, dass diese nur unter hoher Belastung, hohem Aufwand oder gar nicht mehr begleitet werden können. In der Vergangenheit wurden erst durch diese wichtige Arbeit vor Ort eine Vielzahl von antisemitischen Vorfällen bekannt. Es ist also davon auszugehen, dass diese Einschränkungen der Pressefreiheit durch die Teilnehmer_innen der Versammlungen, die Anzahl der nicht erfassten Vorfälle und damit das Dunkelfeld zusätzlich verstärkt haben.
Aber auch Abseits der Versammlungen kommt es weiterhin bundesweit im Kontext der Coronapandemie zu antisemitischen Vorfällen, sei es im Umfeld von Versammlungen, gegen Einzelhändler:innen, die die 2G- oder 3G-Regeln durchsetzen, oder auch im Alltag durch Sticker oder Schmierereien. Im Folgenden werden exemplarisch fünf Vorfälle aus dem Dezember 2021 beschrieben:
6.12.2021, Finsterwalde – Brandenburg: Ein Zettel mit der Aufschrift „Gesunde (durchgestrichen „Juden“) sind hier unerwünscht“ wurde an einem Brauhaus, in dem die 2G-Regel gilt, angebracht. Dazu wurde auf das Emblem des Geschäfts ein Hakenkreuz geschmiert.
10.12.2021, Windischeschenbach – Bayern: Vor einer Gaststätte stand eine Gruppe älterer Männer, die auf ihre Getränkebestellung wartete. Als die Melderin ihre Gesichtsmaske aufsetzte, um den Schankraum zu betreten, wurde sie aus dieser Gruppe heraus angesprochen, dass die Maske nicht nötig sei. Ein Mann zog daraufhin seine eigene Maske mit aufgedrucktem „Judenstern“ und der Aufschrift „ungeimpft“ heraus und sagte, dass, wenn überhaupt, nur diese Maske die einzig Richtige sei. Seine Begleiter grinsten beifallheischend.
11.12.2021, Bremerhaven – Bremen: An zwei Hauswänden wurden zwei sogenannte „Judensterne“ mit der Inschrift „ungeimpft“ geschmiert.
14.12.2021, Berlin: An mehrere Stromverteilern, Mülleimern, Telefonzellen und einem Stromverteiler wurden Schmierereien mit der Aussage „Damals die Juden heute die Ungeimpften“ entdeckt.
18.12.2021, Bochum – Nordrhein-Westfalen: Am Ausgangspunkt einer Versammlung gegen die Coronamaßnahmen wurde ein Aufkleber mit einem sogenannten „Judenstern“ und der Inschrift „ungeimpft“ entdeckt.
Weiterhin ist das Protestgeschehen gegen die Corona-Maßnahmen dynamisch – gleichzeitig sind unsere Monitoringressourcen begrenzt. Meldet deshalb antisemitische Inhalte auf Plakaten, in Reden oder Stickern etc. unter report-antisemitism.de und helft Antisemitismus sichtbar zu machen!
Stop doing what Hitler did to you Die Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt als Gelegenheitsstruktur für antisemitische Vorfälle
24. November 2021
RIAS BerlinEine Publikation der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
Mobilisierungen von israelbezogenem Antisemitismus im Bundesgebiet 2021
24. November 2021
(aktualisiert am 6. Februar 2022) Bundesverband RIAS e.V. und IIBSA e.V.Antisemitische Vorfälle im Wahlkampf 2021
19. November 2021
Bundesverband RIAS e.V.Wie auch bei vergangenen Wahlen, kam es im „Superwahljahr“ 2021 zu antisemitischen Vorfällen im Kontext des Wahlkampfes. Die Bundestagswahl am 26. September fiel mit den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern sowie mit der Abgeordnetenhaus- und Kommunalwahl in Berlin zusammen. Des Weiteren fand in Niedersachsen zwei Wochen früher, am 12. September, die Kommunalwahl statt. Überall im öffentlichen Raum war – besonders durch die Wahlplakate – die politische Auseinandersetzung zwischen den Parteien sichtbar. Diese Sichtbarkeit nutzten auch Antisemit_innen für ihre Zwecke. Der Bundesverband RIAS und die in ihm organisierten Meldestellen dokumentierte durch Meldung, ein eigenes Monitoring und aus der Presseberichterstattung seit Mai bis zum 26. September 2021 deutschlandweit insgesamt 38 Vorfälle mit einem Bezug zum Wahlkampf.
Nach wie vor muss man von einer großen Dunkelziffer uns nicht bekanntgewordener Vorfälle ausgehen. Trotz der Zusammenarbeit auf einer gemeinsamen Grundlage sind die Daten aus den einzelnen Bundesländern noch nicht in jedem Fall miteinander vergleichbar. In weniger dicht besiedelten Gebieten ist es bspw. ungleich schwerer, Meldestrukturen in derselben Qualität wie in einer Großstadt zu etablieren. Nicht zuletzt können Meldestellen mit steigender Bekanntheit und zusätzlichem Personal auch mehr antisemitische Vorfälle dokumentieren. Des Weiteren schränkt die Coronapandemie die Vor-Ort-Dokumentation weiterhin ein.
Nach wie vor muss man von einer großen Dunkelziffer uns nicht bekanntgewordener Vorfälle ausgehen. Trotz der Zusammenarbeit auf einer gemeinsamen Grundlage sind die Daten aus den einzelnen Bundesländern noch nicht in jedem Fall miteinander vergleichbar. In weniger dicht besiedelten Gebieten ist es bspw. ungleich schwerer, Meldestrukturen in derselben Qualität wie in einer Großstadt zu etablieren. Nicht zuletzt können Meldestellen mit steigender Bekanntheit und zusätzlichem Personal auch mehr antisemitische Vorfälle dokumentieren. Des Weiteren schränkt die Coronapandemie die Vor-Ort-Dokumentation weiterhin ein.
Vorfälle im Überblick
Insgesamt sind dem Bundesverband RIAS und den in seiner Bundesarbeitsgemeinschaft organisierten Meldestellen 38 antisemitische Vorfälle mit Bezug zu den Wahlen bekannt geworden, die alle der Kategorie des verletzenden Verhaltens1 zugeordnet wurden. Bei den meisten Vorfällen handelte es sich um Schmierereien (21), Aufkleber (7) oder Zettel (3), wobei diese in der überwiegenden Zahl der Fälle an Parteiplakate oder -aufsteller angebracht wurden. In 6 der 38 Fälle wurden antisemitische Inhalte im Rahmen von Versammlungen unter freiem Himmel oder öffentlichen Veranstaltungen in Reden oder auf anderen Wegen präsentiert. In Niedersachsen wurde zudem ein Fall bekannt, der sich von Angesicht zu Angesicht ereignete: eine antisemitische Pöbelei in Bezug auf die anstehende Wahl in Westerstede.
Mehr als zwei Drittel (26) der bekannt gewordenen Vorfälle ereignete sich im Zeitraum zwischen Mitte August und Mitte September. Vor allem in der ersten Septemberhälfte, in der „heißen Wahlkampfphase“, wurde durchschnittlich über ein Vorfall täglich dokumentiert. Die überwiegende Mehrheit der Vorfälle (34) fand auf offener Straße statt.
Die bei den Vorfällen verwendeten antisemitischen Stereotype und Topoi ließen sich vor allem dem Post-Schoa-Antisemitismus (in 19 Fällen), dem antisemitischem Othering (in 16 Fällen) sowie Verschwörungsmythen und anderen Elementen des modernen Antisemitismus (in 13 Fällen) zuordnen. Wesentlich seltener wurde sich des antijudaistischen oder israelbezogenen Antisemitismus bedient (2 bzw. 1 Fall). Post-Schoa-Antisemitismus äußerte sich vorwiegend in Form von Schoa-bagatellisierenden Äußerungen in Schmierereien und auf Aufklebern – nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Coronapandemie (s.u.). In den Fällen des antisemitischen Othering – bis auf eine Ausnahme alles Schmierereien – wurden Politiker_innen als jüdisch markiert, um sie abzuwerten und zu diffamieren. Diese Form der Markierung war in sieben Fällen auch verschwörungsideologisch konnotiert, so dass diese Vorfälle auch als Fälle von modernem Antisemitismus eingeordnet wurden.
In etwas weniger als der Hälfte, 17 von 38 Fällen, konnte ein politisch-weltanschaulicher Hintergrund zugeordnet werden. Dabei handelte es sich um elf rechtsextreme/ rechtspopulistische und sechs Vorfälle, die einem verschwörungsideologischen Spektrum zugeordnet wurden. Vorfälle aus anderen Spektren konnten nicht eindeutig festgestellt werden.
Adressierung und Markierung der vermeintlichen politischen Gegner_innen
In der Mehrheit der Vorfälle (28 von 38) wurden Parteien bzw. ihre Wahlkampfplakate antisemitisch beschmiert oder beklebt. Dabei waren in elf Vorfällen die Partei Bündnis 90/Die Grünen und in neun Fällen die SPD das Ziel. Die CDU/CSU und die Partei Die Linke wurden in drei bzw. vier Fällen adressiert.
Abbildung 1
Antisemitische Markierung auf einem Wahlplakat der Grünen 22. August 2021, Lassan, Mecklenburg-Vorpommern
Quelle: Meldung Bundesverband RIAS e.V.Die demokratischen Parteien werden im manichäischen Weltbild des Antisemitismus als Gegenspieler_innen und Vertreter_innen bzw. Marionetten einer vermeintlichen Weltverschwörung imaginiert. Es ist davon auszugehen, dass konkret ein Zusammenhang zu den jeweiligen Umfragewerten bestand: Aufgrund stärkerer Werte rückten die Grünen mehr in den Fokus – umgekehrt wurden Plakate der Linke aufgrund schwächerer Werte weniger beachtet.
Insbesondere die Partei Bündnis 90/Die Grünen wurde in diesem Wahlkampf als zentrales Feindbild angesehen. Bereits im April, nachdem Annalena Baerbock als Kanzlerinnenkandidatin der Grünen nominiert wurde, wurde sie in sozialen Medien Ziel einer antisemitischen Kampagne. So wurde Baerbock u.a. von einem Bundestagsabgeordneten der AfD auf Facebook unterstellt, dass sie eine Marionette von George Soros sei. Der Milliardär wird seit Jahren als angeblicher „Strippenzieher“ hinter der jüdischen „Weltverschwörung“ gewittert.2
Die Partei wurde auch darüber hinaus als vermeintliche Vertreter_innen der Moderne fantasiert und Ziel für nicht-antisemitische, aber etwa misogyne oder rassistische Anfeindungen.3
Abbildung 2
Antisemitische Markierung auf einem Wahlplakat
10. September 2021, Tübingen, Baden-Würtemberg
Quelle: Meldung Bundesverband RIAS e.V.Die identifizierten Gegner_innen wurden mit Davidsternen oder dem Wort „Jude“ als feindlich markiert. Einerseits weist diese antisemitische Markierung auf den Mythos der Weltverschwörung hin, in dem Jüdinnen_Juden im Geheimen Politiker_innen kontrollieren und diese Entscheidungen zu ihrem Vorteil treffen lassen. Andererseits sollen die politischen Gegner_innen damit auch als vermeintliche Jüdin_Jude markiert und abgewertet werden. Jüdinnen_Juden werden dabei als etwas Unerwünschtes, nicht Zugehöriges aus einer vermeintlich homogenen Gemeinschaft ausgeschlossen. Damit trifft die Markierung nicht nur die konkret betroffenen Politiker_innen, sondern auch immer Jüdinnen_Juden selbst.
- Am 16. August wurde in der Genter Straße in Berlin-Wedding das Wahlplakat einer Kandidierenden der Grünen mit einem Davidstern und den Worten „Pädophile Kommunisten“ beschmiert.
- Am 4. September wurden in Seifhennersdorf (Sachsen) Wahlplakate der Linkspartei mit einem Davidstern und dem Wort „Bolschewisten“ beschmiert.
- Am 5. September wurde in Züssow (Mecklenburg-Vorpommern) ein Wahlplakat der SPD entdeckt, auf dem das Gesicht von Manuela Schwesig übersprüht worden war, dazu waren ein Davidstern und das Wort "Jude" geschmiert.
Bezug zur Coronapandemie
Wie auf das gesamte öffentliche Leben seit März 2020 übte die Coronapandemie auch auf den Wahlkampf 2021 einen großen Einfluss aus – sowohl im Hinblick auf die pandemiebedingten Einschränkungen bei Wahlkampfveranstaltungen, als auch thematisch: Mit zwölf Vorfällen wies knapp ein Drittel der dokumentierten Vorfälle einen Bezug zur Coronapandemie auf.
Abbildung 3
Schoa-bagatellisierendes Stencil auf einem Wahlplakat der Grünen
9. September 2021, Berlin-Charlottenburg
Quelle: Meldung RIAS BerlinIn den meisten dieser Fälle wurden Schoa-bagatellisierende Inhalte in Form von Aufklebern, Zetteln oder Schmierereien an Wahlplakaten verbreitet, so etwa Schriftzüge wie „Impfen macht frei“, die die Impfkampagne mit dem Vernichtungsantisemitismus im Nationalsozialismus gleichsetzten. Auf diese Weise wurden die Parteien gezielt als Adressatinnen Schoa-bagatellisierender Propaganda angesprochen. Zudem wurde die Sichtbarkeit der Wahlwerbung instrumentalisiert, um diese antisemitischen Inhalte öffentlichkeitswirksam zu verbreiten:
- Am 9. September wurden in Berlin in der Nähe des Schlosses Charlottenburg auf vier großen Wahlaufstellern der Grünen zur Bundestagswahl Schoa-bagatellisierende Schmierereien entdeckt. Mithilfe eines Stencils wurde jeweils „Impfen macht frei“ gesprüht, wobei der Schriftzug dem über dem Tor zum Konzentrationslager Auschwitz I („Arbeit macht frei“) nachempfunden wurde.
- Am 14. September wurden auf nahezu allen Wahlplakaten (überwiegend Plakate der CDU) am Klevischen Ring in Köln Schoa-bagatellisierende Aufkleber entdeckt. Auf diesen war das Tor zum Konzentrationslager Dachau abgebildet, wobei der Schriftzug am Tor zu „Impfen macht frei“ umgeändert wurde.
In einem Fall wurden Wahlplakate auch benutzt, um antisemitische Verschwörungsmythen rund um die Coronapandemie zu verbreiten:
- Am Abend des 16. August entdeckt ein Passant in München-Schwabing antisemitische Schmierereien auf zwei Wahlplakaten zur Bundestagswahl. Teile der Plakate waren abgerissen geworden, der mit Edding hinterlasse Text lautete: "Schützt die Kinder vor der Genspritze. Bolschewismus Judenrepublik", "WEF Gründer Claus Schwab Agenda 2030" und "Jüdische Weltordnung".
Antisemitismus bei Wahlkampfveranstaltungen
Bei Versammlungen im Rahmen des Wahlkampfes sind dem Bundesverband RIAS sechs Vorfälle bekannt geworden, davon vier auf AfD Veranstaltungen. Bereits bei der Wahl für die Listenplätze in Berlin und Thüringen wurden hier antisemitische Inhalte in Reden verbreitet. Die Kleinstpartei "Die Rechte" versuchte im Kommunalwahlkampf in Braunschweig wiederum über Provokationen mediale Aufmerksamkeit zu erhalten. Auch bei einer Veranstaltung der Partei "Die Basis" wurden antisemitische Inhalte reproduziert, die bereits vorher über Telegram verbreitet wurden.
- Am 8. Mai bei der Listenaufstellung der AfD in Ruhla (Thüringen) behauptete ein Redner, dass Merkel und Baerbock "Marionetten oder Handpuppen der Globalisten" und die Grünen Speerspitze des Globalismus wären, der das deutsche Volk auflösen wolle. Er beendet seine Vortrag mit dem Wunsch, „uns aus der Umklammerung der Globalisten [zu] lösen“.4
- Am 5. Juni erklärte ein Mitglied der AfD bei der Listenaufstellung in Berlin: "Diese Liste erinnert mich an Schindlers Liste. Das ist eine Liste, wenn man auf der steht, dann lebt man und wenn man nicht auf ihr steht, dann überlebt man nicht."
- Am 16. August setzte ein Redner bei einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Radeberg (Sachsen) die antisemitische Politik im Nationalsozialismus mit dem Umgang mit Ungeimpften gleich.
- Am 3. September hielt bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD in Elsterwerda (Brandenburg) ein Teilnehmer ein Schild mit der Aufschrift „Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land“ hoch. Daneben befand sich ein kleiner Sticker mit der israelischen Fahne, die durchgestrichen war. Die Kombination impliziert eine durch Israel gesteuerte Einwanderung nach Deutschland.
- Am 11. September fanden zum Wahlkampfabschluss der Kommunalwahl in Braunschweig drei Versammlungen der rechten Kleinstpartei „Die Rechte“ statt. Ein Teilnehmer trug bei jeder der Versammlungen ein anderes T-Shirt: Auf einem war in Fraktur „Antisemit“ geschrieben, auf einem anderen wurde mit einem „Pink Panther“ wohl auf die Mordserie des NSU angespielt.
- Am 24. September las Bundestagskandidat Sucharit Bhakdi auf einer Wahlkampfveranstaltung der Partei „Die Basis“ in Kiel einen Brief vor, in dem u.a. stand: "Vor achtzig Jahren waren es die Juden, die als Verursacher von Infektionskrankheiten verteufelt wurden, heute sind es die Ungeimpften, denen man vorwirft, das Virus zu verbreiten".
Antisemitische Positionen im Wahlkampf
Auch jenseits konkreter Vorfälle wurden im Wahlkampf verschiedene antisemitische Positionen vertreten und Stereotype verbreitet.
Wie schon in früheren Wahlkämpfen forderte die AfD in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl das Verbot des Schächtens sowie der Einfuhr und des Handels mit Fleisch aus dieser Art des Schlachtens. Für religiöse Jüdinnen und Juden, die sich an die Kaschrut (jüdische Speisegesetze) halten, wäre eine freie Ausübung ihrer Religion kaum möglich.
Prominente Vertreter_innen der, aus dem Umfeld der „Querdenker“ und Corona-Leugner_innen entstanden, Partei „Die Basis“ waren mit NS-Analogien und Schoa-bagatellisierenden Aussagen aufgefallen. Die Symbole der Partei waren während des Bundestagswahlkampfs auf Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen präsent, auf denen Verschwörungsmythen und Geschichtsrevisionismus immer wieder sichtbar waren.
Anfang Mai geriet der CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet in die Kritik, als er die Verbreitung antisemitischer Inhalte durch den Direktkandidaten seiner Partei in Südthüringen, Hans-Georg Maaßen, bagatellisierte und mit Verweis auf Antisemitismus aus anderen politischen Spektren ablenkte. Maaßen nutzte Chiffren wie „Globalisten“ oder „Great Reset“, Begriffe und Erklärungsmodelle, die vor allem im rechtsextremen und im verschwörungsideologischen Kontext als antisemitische Codes zur Feindbildbestimmung fungieren.
Während des Wahlkampfes wurden dem Bundesverband RIAS außerdem drei Fälle bekannt, bei denen Wahlplakate an Gedenkorten an NS-Verbrechen aufgehängt wurden. In allen drei Fällen, haben wir diese nicht als Vorfälle in unsere Statistik aufgenommen. Trotzdem stellt dieses Verhalten eine Störung der Erinnerung an die Verbrechen im Nationalsozialismus dar.
- Am 26. August wurde in Würzburg direkt unter dem Hinweisschild „DenkOrt Deportationen 1941 – 1944“ ein Wahlplakat der AfD angebracht. Die Stadtverwaltung entfernte das Plakat, da es sich um Privatgelände handelte.
- Am 1. September hängte die AfD in Weimar ein Plakat mit der Aufschrift „Mut zur Wahrheit“ auf dem zur Gedenkstätte Buchenwald gehörenden Parkplatz auf. Mitarbeiter_innen der Gedenkstätte entfernten das Plakat.
- Am 2. September brachte die rechte Kleinstpartei „Die Rechte“ direkt vor der Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße in Braunschweig Plakate mit dem Slogan „Wir hängen nicht nur Plakate auf“ an. Aufgrund der Sondernutzung zum Wahlkampf konnte das Plakat hängen bleiben.
Fazit
Durch die Omnipräsenz des Wahlkampfes in den Straßen sowie in den Medien boten die Wahlen antisemitische Täter_innen – bei Wahlplakaten wortwörtlich – die Fläche, Antisemitismus zu verbreiten. Insgesamt 38 Vorfälle wurden dem Bundesverband RIAS bekannt, die meisten davon waren direkt gegen Parteien gerichtet. Die ohnehin bestehenden Feindbilder rechter und verschwörungsideologischer Spektren wurden im Wahlkampf weiter und gezielt ausgebaut. Die Schoa-bagatellisierenden Gleichsetzungen und antisemitischen Mythen rund um die Coronapandemie dominierten inhaltlich auch im Wahlkampf.
- Als verletzendes Verhalten werden sämtliche antisemitischen Äußerungen gegenüber jüdischen oder israelischen Personen oder Institutionen gefasst, aber auch antisemitische Beschimpfungen oder Kommentare gegenüber anderen Personen und Institutionen. Dies gilt auch für antisemitische Aussagen, die online getätigt oder verbreitet werden, sofern diese direkt an eine konkrete Person oder Institution adressiert sind. Als verletzendes Verhalten gelten auch Beschädigungen oder das Beschmieren nichtjüdischen Eigentums durch antisemitische Symbole, Plakate, Aufkleber etc.↩↩
- Vgl.: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/baerbock-soros-101.html↩↩
- (Vgl.: https://www.belltower.news/annalena-baerbock-anfeindungen-und-hetze-von-rechts-115425/ und https://www.belltower.news/gruener-mist-kampagne-alles-wovor-rechtsradikale-angst-haben-119821/)↩↩
- Zum Begriff „Globalisten“, vgl. RIAS Bayern: „Das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen“ - Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona, S. 26.↩↩
Reichsfahnen, Antisemitismus und Umsturzfantasien Das letzte Augustwochenende 2020 in Berlin
18. September 2020
RIAS BerlinReichsfahnen, Antisemitismus und Umsturzfantasien – das letzte Augustwochenende 2020 in Berlin
Am Wochenende vom 28. bis 30. August 2020 fanden in Berlin eine Reihe von rechtsoffenen Versammlungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie statt. Auf sieben Versammlungen dokumentierte RIAS Berlin zahlreiche antisemitische Vorkommnisse. Zudem wurden RIAS Berlin eine Bedrohung und ein weiterer Fall verletzenden Verhaltens bekannt.
Im Vergleich zu den Versammlungen zum gleichen Thema, die am ersten Augustwochenende stattfanden, erfolgte die Mobilisierung diesmal verstärkt im rechten bis rechtsextremen Spektrum. Als zentraler Akteur trat im Vorfeld wie schon vier Wochen zuvor die Stuttgarter Gruppierung „Querdenken 711“ auf. Für die Versammlungen hatte die Berliner Versammlungsbehörde aufgrund der Annahme, dass Hygiene-Maßnahmen nicht ausreichend beachtet würden, am Mittwoch, 26. August, einen vorläufigen Verbotsbescheid erlassen, der am Freitag durch das Verwaltungsgericht Berlin zurückgewiesen wurde. Viele Akteur_innen und Teilnehmende der Versammlungen stellten das vorläufige Verbot als vermeintlichen Beweis einer unmittelbar bevorstehenden „Corona-Diktatur“ dar. Um so vehementer und martialischer fiel die Wortwahl aus – insbesondere in den einschlägigen Kanälen auf dem Messenger-Dienst „Telegram“, der von vielen Akteur_innen und Anhänger_innen genutzt wird: Aufrufe zum Widerstand gingen einher mit Gewaltdrohungen und zum Teil gewaltvollen Umsturzfantasien. RIAS Berlin wie andere zivilgesellschaftliche Akteur_innen verwiesen im Vorfeld des Wochenendes auf das erhöhte Gewaltpotenzial, um ausdrücklich davor zu warnen.
Hohe Sichtbarkeit sogenannter Reichsbürger_innen
Neben Verschwörungsmythen waren an dem Wochenende Chiffren und Symbole, die auf ideologische Versatzstücke von sogenannten Reichsbürger_innen rekurrieren, umfassend präsent. Auf den Demonstrationen wurde in Reden und auf Schildern die Souveränität der Bundesrepublik angezweifelt, das Grundgesetz als „Besatzungsrecht“ bezeichnet und ein „Friedensvertrag“ zwischen Trump und Putin gefordert. Auch war ein Vielzahl schwarz-weiß-roter Symboliken sichtbar – nicht nur in Form von Fahnen, sondern auch als Banner, Kleidungsstücke oder Accessoires. Hinter der Ideologie sogenannter Reichsbürger_innen steht die Vorstellung, dass Deutschland seit 1945 noch immer unter alliierter Besatzung stehe. Das umfasst meist nicht nur eine Ablehnung des bestehenden Staates, sondern häufig der gesamten modernen und liberalen Gesellschaft. Demgegenüber findet oftmals eine Idealisierung des „Deutschen Reichs“ statt. Feindbildkonstruktionen sogenannter Reichsbürger_innen umfassen auch antisemitische Stereotype. Bis auf wenige Ausnahmen fand seitens der Veranstalter_innen oder Redner_innen keine Distanzierung von entsprechenden Ideologien statt, vielmehr gaben sie diesen Positionen einen Raum. Michael Ballweg, zentraler Akteur der sogenannten Querdenker, sprach bereits im Vorfeld am 1. August in Berlin und am 8. August in Stuttgart gezielt das Spektrum der sogenannten Reichsbürger_innen und Anhänger_innen des QAnon-Verschwörungsmythos an. In diesem Umfeld bewegte sich an dem Wochenende auch ein Polizist aus Niedersachsen, der für die Sicherheitsbewertung einer jüdischen Einrichtung zuständig war und nach einer Rede auf der „Querdenken231“-Versammlung am 9. August in Dortmund vorerst vom Dienst entbunden wurde. Auch an diesem Wochenende hielt er eine Rede.
Freitag
Am Freitagnachmittag, den 28. August, fand Unter den Linden vor der Botschaft der Russischen Föderation eine Versammlung statt, auf der Teilnehmer_innen einen Friedensvertrag für Deutschland forderten. Ein solcher Vertrag könne in ihrer Vorstellung nur durch einen Zusammenschluss zwischen Trump und Putin hervorgebracht werden. In einer Rede verkehrte eine Person auf antisemitische Weise die Rolle von Täter_innen und Opfern im Hinblick auf die Verantwortung für den 2. Weltkrieg und sagte, dass diesen „nicht wir [Deutsche] wollten, dass das ein Werk der Zionisten war“. Weiter imaginierte die Person, „diesen [Zionisten] wird nun das Handwerk gelegt“.
Vor dem Brandenburger Tor fand am selben Tag die erste „Querdenken“-Versammlung des Wochenendes statt. Dort waren unmittelbar vor der Bühne schwarz-weiß-rote Symboliken sichtbar. Unter den Teilnehmer_innen befanden sich zwei Personen mit Kleidungsstücken mit antisemitischen Äußerungen:
- Eine Person trug ein T-Shirt, auf dessen Rückseite ein sogenannter „Judenstern“ mit der englischen Bezeichnung für „geimpft“ und einem angedeuteten Mikrochip sichtbar war.
- Eine weitere Person trug eine Weste mit einem Aufnäher mit einem durchgestrichenen Davidstern. Die Symbolik auf dem Aufnäher richtete sich gegen eine angebliche „Neue Weltordnung“.
Samstag
Am Samstag, den 29. August, fand das Versammlungsgeschehen an drei zentralen Orten statt: zwischen Friedrichstraße und dem Brandenburger Tor, auf der Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule und vor dem Bundestag. An jedem dieser Orte und Versammlungen wurden RIAS Berlin antisemitische Ausdrucksformen bekannt.
Am Morgen versammelten sich Unterstützer_innen eines rechtsextremen Rappers an einem Vorabtreffpunkt am Reiterstandbild Friedrichs des Großen vor der Humboldt Universität. Dort trug eine Person einen Pullover mit dem Aufdruck „Amalek“. Der Begriff ist eine alttestamentarische Bezeichnung für die Erzfeinde der Israelit_innen.
Auf der Strecke Unter den Linden und auf der Friedrichstraße, vom Brandenburger Tor bis zur Torstraße, hatten sich Versammlungsteilnehmer_innen von „Querdenken Leipzig“ gesammelt. RIAS Berlin wurden dabei fünf Vorkommnisse bekannt, in denen Teilnehmende den sogenannten „Judenstern“ zeigten:
- Auf der Friedrichstraße trug eine Person ein T-Shirt mit einem sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „Corona“ auf der Brust. Auf der Rückseite war ein Virus abgebildet, darunter stand: „Das vierte Reich“.
- Im Umfeld des Brandenburger Tors bewegte sich eine Person mit einem T-Shirt, auf dem ein sogenannter „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“ zu sehen war
- Im Umfeld des Brandenburger Tors hatte sich eine Person als historischer Pestarzt verkleidet und sich einen sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „Jesund“ (sic) angeheftet. Er trug einen Kartonwürfel bei sich, auf dem unter anderem stand: „Niemand hat das Recht Merkel zu gehorchen“, eine Anleihe an ein Zitat Hannah Arendts. An jeder Seite war außerdem ein sogenannter „Judenstern“, ebenfalls mit der Inschrift „Jesund“ (sic), aufgeklebt.
- Im Umfeld des Brandenburger Tors lag in einem Ziehwagen gut sichtbar ein Schild mit der Aufschrift „Die [bildliche Darstellung einer Maske] ist der [bildliche Darstellung eines ‚Judensterns‘ mit der Inschrift ‚Jude‘] der Ungeimpften!“.
- Wie am Vortag trug dort eine Person ein T-Shirt, auf dessen Rückseite ein sogenannter „Judenstern“ mit der englischen Bezeichnung für „geimpft“ und einem angedeuteten Mikrochip sichtbar war.
Daneben wurden durch RIAS Berlin weitere antisemitische Vorkommnisse im Kontext dieses Versammlungsgeschehens dokumentiert:
- Das Denkmal zur Erinnerung an die Kindertransporte und die Deportation von Kindern 1938-1945 am S- und U-Bahnhof Friedrichstraße wurde für die Auslage der Zeitung des „Demokratischen Widerstand“ genutzt, was als Instrumentalisierung und Störung dieses Gedenkorts gedeutet werden kann.
- Am Regenschirm einer Teilnehmerin hingen mehrere Flugblätter, darunter die Reproduktion eines berüchtigten antisemitischen Wandbildes, das eine kleine Elite an einem von Unterdrückten getragenen Monopolyspielbrett darstellte. Die Zeichnungen der Gesichter der „Spieler“ rekurrierten dabei auf stereotype antisemitische Darstellungen.
- Eine weitere Person behauptete über eine mitgebrachte Soundanlage antisemitisch, „Nazi“ stünde für „National-Zionisten“.
- An einem Bollerwagen war ein Plakat mit der Aufschrift: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen (Heinrich Heine) 1933 Bücherverbrennungen 2020 Löschung von Videos wiederholt sich die Geschichte?“
- Am Pariser Platz wurde ein Transparent mit einem verschwörungsideologischen Bild gezeigt. Das Bild legte nahe, der Pergamonaltar im Berliner Pergamonmuseum sei der „Thron Satans“. Neben „Satan“ im Zentrum waren weitere Personen in Pyramiden abgebildet, hierunter auch George Soros. Daneben wurde ein „Friedensvertrag“ gefordert und es war eine Odalrune sowie ein angedeutetes Hakenkreuz abgebildet.
- Gegen 11 Uhr bewegten sich zwei Personen mit einer Israelfahne über das Brandenburger Tor. Eine hinterherlaufende Person beschimpfte sie als „Ritualmörder“, „Kindermörder“ und „Raubmörder“.
- An der Spitze des aufgestellten Demonstrationszug adressierte eine Person mit Ordnerweste und Megaphon Journalist_innen mit der Schoa bagatellisierenden Aussage „Da macht ihr mit, damals sind Leute vergast worden. Ihr unterstützt das alle.“
- Gegenüber einem Team von Journalist_innen verbreitete ein Mann Inhalte sogenannter Reichsbürger_innen und QAnon-Verschwörungserzählungen. Er behauptete, Amerika sei durch „zionistisches Hochgrad Freimaurergeld“ etabliert worden, was schließlich den 1. Weltkrieg ausgelöst habe.
Teilnehmer_innen demonstrierten aus dieser Versammlung heraus vor der US-Botschaft am Pariser Platz und später vor der Botschaft der Russischen Föderation Unter den Linden und forderten wie am Vortag einen „Friedensvertrag“ ein – darunter ebenfalls insbesondere sogenannte Reichsbürger_innen, aber auch Anhänger_innen des QAnon-Verschwörungsmythos. Zudem war eine Vielzahl von schwarz-weiß-roten Symboliken und QAnon-Chiffren sichtbar. Später hielt dort ein bekannter Vegankoch eine Rede, in der er von einer „Neuen Weltordnung“ sprach, für die er „Rothschild und Rockefeller“ verantwortlich machte.
RIAS Berlin wurde gemeldet, dass eine Person, die vorher auf der Versammlung zu sehen war ein T-Shirt mit einem sogenannten „Judenstern“ trug, durch das Denkmal für die ermordeten Juden und Jüdinnen Europas lief. Auf den Stelen des Mahnmals ließ sich zudem eine Gruppe von Versammlungsteilnehmer_innen mit Deutschlandflaggen für ein Picknick nieder.
Die „Querdenken711“-Kundgebung auf der Straße des 17. Juni
Die zentrale Kundgebung von „Querdenken 711“ fand auf der Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule statt, wo am Nachmittag des 29. August eine diffuse und unübersichtliche Mischung von politischen Spektren zusammenfand. Regenbogenfahnen, „Querdenken“-T-Shirts und vereinzelt auch Reichsfahnen waren zu sehen. Einer der Redner, Heiko Schrang, proklamierte wie viele andere an diesem Wochenende: „Die Zeit ist reif für ein neues System“, und bezeichnete die Politik als „Unterhaltungsabteilung der Hochfinanz“. Im Kontext dieser Versammlung wurden RIAS Berlin weitere antisemitische Äußerungen bekannt:
- Am Straßenrand befand sich ein selbstgemaltes Schild mit der Aufschrift „Soro$ + Gates not elected“. Ein Teil wurde in „blutiger“ Schrift geschrieben.
- Vor der Siegessäule hatten Teilnehmer_innen zwischen zwei Straßenlaternen ein großes Transparent mit der Forderung „Stoppt Chemtrails und Soros“ gespannt.
- Eine Person hatte einen Handwagen dabei, an den mehrere Flugblätter hingen. Auf einem war das Eingangstor zu einem Konzentrationslager mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ zu sehen. Darunter stand: „Was werden wir unseren Kindern sagen?“
- Im Tiergarten wurde ein antisemitischer Zettel an einem Zaun hinterlassen. Darauf wurde die angebliche„Besatzung“ Deutschlands durch ein„Talmud-jüdisch-vatikanische Firma“ behauptet.
Am Rande der Straße des 17. Juni im Tiergarten wurde eine Person, die eine Kippa trug, bedrängt und bedroht. Die Teilnehmer_innen der Versammlung riefen dabei u.a.:„Ihr denkt, ihr seid die Herrenrasse“, „Ihr macht den Genozid im Mittleren Osten“ und„Setz‘ dir keine Kappe auf und mach hier kein auf bösen Juden, wenn du angegriffen bist, was ist das für eine ekelige Art.“ Eine Person aus der Versammlung spekulierte über eine Inszenierung.
Versammlungsgeschehen vor dem Bundestag
Auch im Kontext einer Versammlung aus dem Reichsbürger_innen-Spektrum vor dem Bundestag dokumentierte RIAS Berlin antisemitische Äußerungen. Visuell geprägt war diese Versammlung ebenfalls durch eine Vielzahl schwarz-weiß-roter Symboliken. Unter anderem hielt ein bekannter veganer Koch eine Rede, in der er klassische Chiffren und Narrative des modernen Antisemitismus bemühte. Eine der zentralen Aussagen dabei war, dass die deutsche Regierung durch die „Rothschilds“ installiert worden sei. Diese wiederum würden Krieg gegen das deutsche Volk führen und Angela Merkel als Marionette lenken. Daneben imaginierte er: „Die NWO findet heute und hier sein (sic) Ende, in Deutschland.“
Rechtsextremer Videoblogger Nikolai Nerling, der als weiterer Redner auftrat, sprach von sechs Millionen Teilnehmer_innen an den Versammlungen und verband diese Zahl auf verhöhnende Weise mit Schoa bagatellisierenden Assoziationen: „Ich glaube es sind nicht sechs Million, es waren weniger, sechs Million sind eigentlich unmöglich, die hätten gar kein Platz auf der Straße da.“
RIAS Berlin wurden weitere antisemitische Äußerungen im Kontext dieser Versammlung bekannt:
- Zwei Personen hatten sich einen sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „Ich habe ein Attest und werde nun diskriminiert“um den Hals gehängt.
- Mindestens zweimal wurden Personen in einem T-Shirt gesichtet, auf dem zur Solidarität mit einer verurteilten Schoa-Leugnerin gefordert wurde.
- Auf einem in schwarz-rot-weißen Farben gehaltenen Transparent wurde in englischer Sprache die Freiheit für drei erurteilte Schoa-Leugner_innen gefordert.
- An einem Absperrgitter war ein Plakat angebracht, auf dem die angebliche„Besatzung“ Deutschlands durch ein„Talmud-jüdisch-vatikanische Firma“ behauptet wurde.
- Wie schon am Freitag trug eine Person eine Weste mit einem Aufnäher mit einem durchgestrichenen Davidstern.
Von diesen Akteur_innen und Teilnehmer_innen dieser Versammlung ging später der „Sturm auf den Bundestag“ aus.
Sonntag
Am 30. August fanden weitere Versammlungen statt, dabei dokumentierte RIAS Berlin antisemitische Inhalte im Kontext der Versammlung am Brandenburger Tor. Eine Rednerin forderte „ein Geld ohne Zinseszins“ und begründete dies mit der Bibel. Einen Raum für Agitation erhielt der Mann, der am Samstag gegenüber einem Presseteam antisemitische Verschwörungsmythen verbreitete (s.o.). Er hielt eine Rede, für die er die Bühne mit einer großen schwarz-weiß-roten und einer preußischen Fahne bestieg.
Antisemitismus im Kontext der Covid-19 Pandemie
8. September 2020
Bundesverband RIAS e.V.Eine Publikation des Bundesverband RIAS
Verschwörungsmythen und Schoa-Bagatellisierung am „Tag der Freiheit“
10. August 2020
RIAS BerlinVerschwörungsmythen und Schoa-Bagatellisierung am „Tag der Freiheit“
Zum 1. August 2020 mobilisierten mehrere Akteure zu einer bundesweiten rechtsoffenen Versammlung unter dem Titel „Das Ende der Pandemie – Der Tag der Freiheit“. Als Hauptakteure traten „Querdenken 711“ aus Stuttgart und die Berliner „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (KDW) auf. Daneben riefen auch Akteure und Zusammenschlüsse aus rechtsextremen Spektren zur Teilnahme auf.
Bereits im Vorfeld gab es Kritik am Verlauf der Route der Demonstration. Zunächst sollte diese zum Zeitpunkt des Schabbat-Schacharit-Gottesdienst an der Synagoge in der Oranienburger Straße und später am Denkmal der ermordeten Juden Europas entlangführen, was am Mittwoch (29. Juli) vom Antisemitismusbeauftragen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und der Rabbinerin der Synagoge kritisiert wurde. Erst am Freitagnachmittag wurde eine Routenänderung vorgenommen. Ihre Befürchtung war, dass die Besucher_innen des Gottesdienstes beim Verlassen der Synagoge mit Rechtsextremismus und Antisemitismus hätten konfrontiert werden können.
Bereits vor Beginn der Versammlung kam es an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz zu einem antisemitischen Vorfall. Während der Öffnungszeiten am Vormittag legten Personen drei DIN A4-Plakate mit der Aufschrift „Frei – Heil – 2020“ aus und brachten ein weiteres an einer Wand im Eingangsbereich an. Besucher_innen entdeckten diese und übergaben sie den Verantwortlichen, die den Vorfall meldeten. Später auf dem Demonstrationszug trugen Personen, die dem esoterischen Spektrum zuzuordnen sind,solch ein Plakat um den Hals. An einem Erinnerungsort angebracht könnten diese Plakate als eine bagatellisierende Analogie zwischen den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen und der Schoa verstanden werden. Naheliegend ist zudem die Interpretation als symbolischer Appell, „Freiheit“ und „Heilung“ (z.B. von der Geschichte der Schoa und des Nationalsozialismus) zu erfahren. Beide Bedeutungen sind dem Post-Schoa-Antisemitismus zuzuordnen.
Antisemitische Vorkommnisse im Demonstrationszug
RIAS Berlin sind drei Vorkommnisse bekannt geworden, bei denen am Demonstrationszug teilnehmende Personen den sogenannten „Judenstern“ zeigten – eine Schoa-Bagatellisierung, die zum Zwecke der Selbstviktimisierung genutzt wird und bundesweit im Kontext der Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie immer wieder sichtbar wurde. In einem Fall hielt eine Person ein Schild mit der Überschrift „Nein zum EU-Immunitätsausweis! Die Maske (bildlich dargestellt) ist der „Judenstern“ (bildlich dargestellt, mit der ursprünglichen Inschrift „Jude“) der Ungeimpften!“ Eine Person hatte sich ein Papierschild mit einem sogenannter „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“ an die Taille gehängt, und ein weiteres Schild, auf dem auf die Verschwörungserzählung QAnon genommen wurde. Zwei Personen hatten sich einen fünfzackigen gelben Stern mit der Inschrift „ungeimpft – ungechipt“ auf die rechte Brust gepinnt.
Daneben hat RIAS Berlin weitere antisemitische Vorkommnisse dokumentiert.
- Beim Zubringen der Teilnehmer_innen von der Demonstration durch Mitte zur Kundgebung auf der Straße des 17. Juni passierte diese an einer Gegenkundgebung am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas. Zu diesem Zeitpunkt schrie ein Teilnehmer der rechtsoffenen Versammlung aus der Masse zu den Gegendemonstrant_innen „Ihr seid die Geiseln der Juden“.
- Eine Person trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „FCK ZION“ auf der Vorderseite. Auf der Rückseite forderte er dazu auf, „Die Protokolle der Weisen von Zion“, ein einschlägiges antisemitisches Pamphlet, zu lesen. An seiner Kopfbedeckung trug er unter anderem ein Pin der neonazistischen Kleinstpartei „III. Weg.“
- Eine weitere Person trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Weltfrieden“auf der Vorderseite, während auf der Rückseite Repräsentanten der „Alternativen Medien“ aufgezählt wurden. Die Liste endete mit dem verstorbenen Schoa-Leugner Ernst Zündel.
- Ein Teilnehmer trug ein Schild mit der Aufschrift „Freie Menschen tragen keine Maske – Gegen die globale Diktatur“. Darunter wurde auf einen Blog verwiesen, auf dem antisemitische Inhalte verbreitet werden.
- Ein Teilnehmer trug ein Schild, auf dem die Portraits von Angela Merkel und George Soros durchgestrichen waren. Dem gegenüber standen Portraits von Donald Trump sowie Wladimir Putin. Hinzugefügt worden war außerdem ein Q in den Farben der USA und des Deutschen Reichs.
- Auf dem Plakat einer Person waren Pizzastücke abgebildet – ein Verweis auf die Verschwörungserzählung „Pizzagate“. Ergänzend stand dazu:„Die Freunde von Jeffrey Epstein sagen, wir sollen uns alle impfen lassen.“
- Zwei Personen präsentierten ein Banner mit einem durchgestrichenen Hakenkreuz, dessen Haken aus Mundnasenschutz, einer Spritze, einer Kamera mit einem sehenden Auge und einer Kreditkarte bestanden. Eine der Personen zog in einem öffentlich zugänglichen Videostream Parallelen zur Anfangszeit der NS-Diktatur und legte nahe, man befände sich auf dem Weg zu einem Verbrechen eines Ausmaßes der Schoa: „Es hat ja damals auch nicht gleich mit Vergasung von Juden angefangen.“
- Ergänzung zum 10. August 2020: Eine Person führte mit sich einen Bollerwagen mit darauf angebrachten Schildern, auf denen Moderation des Contents auf privaten Internetplattformen mit den staatlich organisierten Bücherverbrennungen 1933 verglichen wurde. Zudem wurde mithilfe eines Heinrich Heine-Zitats nahegelegt, dies sei der erste Schritt zu einem Verbrechen des Ausmaßes der Schoa.
- Ergänzung zum 10. August 2020: Ein anderer Versammlungsteilnehmer trug ein T-Shirt, auf dem zur Solidarisierung der inhaftierten Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck aufgerufen wurde.
Trotz der Außendarstellung vieler Teilnehmender als Demonstrierende für „Freiheit“ und „Liebe“ war keine Abgrenzung zu rechten Inhalten und Akteur_innen ersichtlich. Neben zahlreichen Reichsfahnen waren auf Schildern und Kleidungsstücken eine Vielzahl von Chiffren populärer Verschwörungsmythen und -erzählungen, insbesondere Bezüge zum QAnon-Mythos, sichtbar. Dieser auf anonymen Postings eines angeblichen Informanten um US-Präsident Donald Trump basierende Mythos hat seit dem Beginn der Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland immens an Popularität gewonnen. Zwar ist er nicht primär antisemitisch – in den USA geht es vornehmlich darum, die politischen Gegner_innen des Präsidenten als „deep state“ zu delegitimieren. Unter dem Deckmantel von QAnon wird in Deutschland vornehmlich der Hass auf „die Eliten“ artikuliert. Das sowie andere Verschwörungsinhalte von QAnon bieten eine hohe Anschlussfähigkeit an antisemitische Denkmuster, die Übergänge sind dabei oft fließend.
Verschwörungsmythen als verbindendes Element
Hervorzuheben in diesem Kontext sind außerdem die Bekenntnisse zur QAnon-Bewegung auf der Bühne auf der Straße des 17. Juni. Michael Ballweg, Initiator der Initiative „Querdenken 711“, bezog sich auf den Slogan der QAnon-Anhänger_innen, „Where we go one, we go all“,und erhielt hierfür viel Zuspruch aus dem Publikum. Weiter sagte er in seiner Rede: „Für mich steht das ‚Q‘ für das englische Wort ‚question‘. Eine Gruppe von Fragestellern, die uns zum Nachdenken und Recherchieren anregen.“
Auch Oliver Janich konnte sich durch einen kurzen Einspieler von der Bühne präsentieren. Er gilt als einer der aktivsten Verbreiter von QAnon-Erzählungen in Deutschland über seinen Telegram-Kanal. Zudem veröffentlicht die rechtsextreme Zeitschrift Compact in den vergangenen Wochen immer wieder Teile eines Interviews mit Janich und Xavier Naidoo.
Des Weiteren sprach Heiko Schrang, dessen Anhänger_innenschaft auf Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen stark vertreten und meist durch das Tragen eines T-Shirts mit seinem Logo erkennbar ist. Schrang auf der Bühne von „Politdarstellern“, welche nur „zeichnungsbefugte Schriftführer“ unter anderem der „Hochfinanz“ seien. Für diese Aussage erhielt er Applaus. Der Begriff der „Hochfinanz“ ist eine Chiffre, die auf ein antisemitisches Welterklärungsmodell rekurriert.
Vertreten im Publikum war zudem Nikolai Nerling, ein rechtsextremer Videoblogger, der in seinen Videos mehreren verurteilten Schoa-Leugner_innen eine Bühne bot und selbst in erster Instanz wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Am vergangenen Samstag wurde Nerling von dem Pressesprecher von „Querdenken 711“ mit einer Umarmung begrüßt.
Ergänzung zum 7. August 2020: Auch der Verschwörungsideologe Attila Hildmann, der seit Mai 2020 auf Versammlungen und auf seinem Telegram-Kanal zahlreiche antisemitische Äußerungen tätigte, war vor Ort und verbreitete antisemitische Verschwörungsmythen von einem angeblichen „globalen Genozid von sieben Milliarden Menschen“, den „die Weltbanker“, „Familien wie Rothschilds und Rockefeller“, umsetzen würden. Gegen Hildmann ermitteln die Staatsanwaltschaft Brandenburg und die Polizei Berlin wegen Volksverhetzung und Bedrohung. Eine von ihm organisierte Kundgebung wurde vor Kurzem von der Berliner Versammlungsbehörde untersagt, da Straftaten zu erwarten seien.
Vorkommnisse am Sonntag
Am Sonntag, 2. August, fanden zwei weitere Veranstaltungen im Rahmen des „Tags der Freiheit“ statt, auf denen es zu weiteren Vorkommnissen kam.Am Brandenburger Tor, also unweit des Gedenkortes für die Ermordeten Sinti und Roma, zog ein Redner einen impliziten Vergleich zwischen Adolf Eichmann, der sich vor Gericht in Jerusalem auf einen Befehlsnotstand berief, und dem Polizeibeamten, der am Samstag am Mikrofon die Auflösung der Kundgebung in der Straße des 17. Juni bekannt gab. Am gleichen Ort fand am Abend desselben Tages die Gedenkfeier anlässlich Porajmos statt. Bei einer anderen Versammlung im Mauerpark wurde das Lied „Ich sehe was, was du nicht siehst“ von Lisa Fitz abgespielt. In diesem Lied werden unter anderem die „Rothschilds“ und Soros“ genannt und in Kontext von „Schattenstaat“ und „Gierkonzernen“ gebracht. Verbreitet wurde das Lied 2018 auf dem YouTube-Kanal von Heiko Schrang.
Insgesamt wurden RIAS Berlin elf (aktualisiert: vierzehn) antisemitische Vorkommnisse im Kontext der Versammlungen am Wochenende des 1. August in Berlin bekannt. Darüber hinaus wurden vielfach an Antisemitismus anschlussfähige Inhalte verbreitet. Statt der Distanzierung und einer Absage an Antisemitismus und Rechtsextremismus boten die Versammlungen für eben solche Artikulation den öffentlichen Raum. Darauf verweist auch die Konstellation der Teilnehmenden: über sechs Kilometer liefen Anhänger_innen der Esoterik und der Anthroposophie neben Verschwörungsideolog_innen und Akteur_innen aus rechtsextremen Organisationen und Parteien.
Antisemitismus auf ‚Coronademos‘ vom 11. Juni bis 5. Juli
10. Juli 2020
RIAS BayernAntisemitismus auf ‚Coronademos‘ vom 11. Juni bis 5. Juli
Auch in den vergangenen vier Wochen fanden bayernweit Demonstrationen statt, die sich gegen die Maßnahmen zur weiteren Eindämmung der Coronapandemie richteten. RIAS Bayern beobachtete zwischen dem 11. Juni und dem 5. Juli 37 dieser Versammlungen, auf 15 mussten antisemitische Vorfälle festgestellt werden.
Realitätsverweigerung und antisemitische Verschwörungserzählungen
Die Inhalte auf den dokumentierten Versammlungen entfernten sich, soweit das möglich ist, immer weiter von der Realität. Auf die zahlreichen Lockerungen der Maßnahmen wurde quasi nicht eingegangen, vielmehr wurden einerseits Behauptungen mit mehr oder weniger offener antisemitischer Konnotation lauter, Corona sei nur ein Vorwand finsterer Kräfte, um den Menschen Rechte zu nehmen oder die Welt sei ohnehin bereits von bösen Mächten beherrscht.
Auch etablierten sich einige Personen als neue kleine Stars der Szene und traten fast jedes Wochenende mit häufig fast identischen Reden in einer anderen Stadt auf. Diese mitunter mantrahaften, in einigen Fällen wortgleichen Wiederholungen der eigenen Glaubenssätze zeugen vom starren Weltbild vieler Teilnehmender, das, je weniger die Realität dazu passt – etwa indem Lockerungen der Coronamaßnahmen der Behauptung widersprechen, alles würde immer schlimmer – desto vehementer verteidigt werden muss.
In solch bedingungslosem, teils wahnhaftem Festhalten am eigenen Bild von der Welt ist vermeintlich psychische Stabilität zu gewinnen und das Gefühl, man selbst habe ja, anders als die meisten, die böswilligen Machenschaften der Politik oder ‚der Eliten‘ schon durchschaut. Über diese ‚Erkenntnisse‘ müsse man jetzt die Welt ‚aufklären‘ – und je absurder sie angesichts gegenläufiger realer Entwicklungen sind, desto vehementer.
Dabei geht es in der eigenen Wahrnehmung, die bereits feststeht und sich von anderslautenden Fakten nicht beeindrucken lässt, um nichts weniger als das Schicksal der Menschheit. Glaubte man einigen der Reden auf den so genannten Coronademos, drohe etwa, wenn jetzt nicht alle aufstehen, dass „die Städte brennen“ (Redner z.B. in München am 27. Juni und in Nürnberg am 4. Juli).
Eine Rednerin in Nürnberg behauptete am 27. Juni sogar, es gelte derzeit zu verhindern, dass „Zionisten“, „Satanisten“, „Transhumanisten“ und die „Pharmamafia“ durch „Sterilisation und Mord per Todesspritze“ „die absolute Kontrolle jedes Einzelnen und die Auslöschung weiterer Teile der Bevölkerung“ herbeiführten. Denn hinter Corona stecke, „der feuchte Traum von einer kommunistischen Weltmacht“, nämlich der Zweck der „Umstrukturierung der Welt in eine neue Ordnung, kurz NWO“. Die Rednerin fuhr fort: „Durch die Impfungen sollen Menschen weltweit, A mit Nanochips zur Überwachung gechipt werden, B sterilisiert werden und C getötet werden.“ Abschließend befand sie: „Ja, das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen, oder?“
Dieses Paradebeispiel einer antisemitischen Verschwörungserzählung beschwört nicht nur antisemitische Feindbilder („Zionisten“, „Satanisten“, „Transhumanisten“) als die “Strippenzieher” hinter der Coronapandemie, die Rednerin sieht diese auch gleichzeitig hinter dem „Kommunismus“ und der „Pharmalobby“ – also einem kapitalistischen Phänomen. Solche auf den ersten Blick widersprüchlichen Schuldzuweisungen sind eine klassische Ausdrucksform des modernen Antisemitismus, der “die Juden” offen oder codiert hinter allem als negativ wahrgenommenem wähnt. Gerade in Krisenzeiten haben sie Konjunktur. Derartige Verschwörungsmythen sind grundlegendes Element des modernen Antisemitismus und entsprechende Versatzstücke waren auch auf anderen Versammlungen zu hören und zu sehen.
Am 21. Juni sagte ein Redner in Nürnberg etwa, „man“ versuche mal wieder, die Menschen zu spalten, denn „unser Herr Soros“ habe gemerkt, dass die Menschen sich in der Mitte träfen, was die elitären Pläne des ‚teile und herrsche‘ durchkreuze. George Soros, ein jüdischer Milliardär, Philanthrop und Investor, stecke angeblich hinter dieser Spaltung und ist beliebte Projektionsfläche für antisemitische Verschwörungserzählungen.
Des Weiteren waren verschwörungsideologische Themen, wie etwa ‚Impfkritik‘ bzw. die Ablehnung vermeintlich geplanter Zwangsimpfungen, die Gegnerschaft zum angeblich krankmachenden und die Bevölkerung kontrollierenden neuen Mobilfunkstandard 5G oder Verschwörungserzählungen rund um QAnon und Adrenochrom stark präsent. Diese sind nicht notwendigerweise antisemitisch, bieten aber zahlreiche Anknüpfungspunkte für antisemitische Erzählungen, wie im dritten RIAS-Bayern-Monitoringbericht dargelegt wird.
Gleiches gilt für die Behauptung eines Redners in Augsburg am 4. Juli, die Coronapandemie sei „kompletter Unsinn“, „ein absoluter Fake“, es habe „nie ein richtiges Gesundheitsproblem“ gegeben. Es sei alles vom amerikanischen Federal Reserve System (FED) „erfunden worden“, damit sie durch die Wirtschaftskrise Geld verdienten. Das FED sei eine Firma, von der niemand wisse, wem sie gehöre – ebenfalls eine Referenz auf ‚Strippenzieher‘ im Hintergrund, die häufig jüdisch konnotiert sind. Um die FED ranken sich allerlei antisemitische Verschwörungserzählungen. Es ist ein weiteres klassisches Beispiel: Nicht explizit antisemitische Mythen werden verbreitet, das Publikum weiß aber entweder ohnehin schon, dass ‚die Juden dahinterstecken‘, oder es stößt, wenn jemand etwa auf YouTube „FED“ eingibt, auf expliziten Antisemitismus.
Auch das Feindbild der „Lügenmedien & Presse“ (Schild in Augsburg, 4. Juli), der „gekauften“ Massenmedien wurde vielfach bedient. Diese bezeichnete eine Rednerin in München am 4. Juli als „Hure Babylon“. Und ein Redner in Nürnberg meint am 5. Juli „aus guter Quelle“ zu wissen, „dass zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung und die WELT von bestimmten Leuten, die sehr viel Geld haben, bezahlt werden.“ Für beide exemplarisch angeführten Zitate gab es Applaus, die Stimmung gegen PressevertreterInnen ist häufig entsprechend aggressiv. Mehrfach musste in den vergangenen Wochen die Polizei einschreiten, weil Demonstrierende JournalistInnen verbal oder körperlich angegriffen haben.
Auf Versammlungen in München am 27. Juni und am 4. Juli, in Amberg am 27. Juni sowie in Augsburg am 13. Juni wurden darüber hinaus Lieder mit verschwörungsideologischen antisemitischen Inhalten abgespielt. Eine Analyse der Texte findet sich ebenso im dritten RIAS-Bayern-Monitoringbericht. Insgesamt wurde in jeweils neun der 15 registrierten Vorfälle auf Versammlungen mit Coronabezug seit dem 11. Juni verschwörungsideologischer Antisemitismus beziehungsweise Post-Schoah-Antisemitismus geäußert.
Post-Schoah-Antisemitismus
Am 13. Juni trug ein Teilnehmer in München ein großes Schild, auf dem unter anderem stand: „Immunitätsausweis = Judenstern 2.0“.
Während der Träger des Schilds so offenbar die Auflage der Stadt München umging, auf den Demonstrationen keine gelben Sterne zu zeigen, widersetzte sich eine Teilnehmerin am 4. Juli in München diesem Verbot. Sie trug einen gelben Stern aus Papier am Revers, auf dem zu lesen war: „IQ statt Maske“.
Solche Sterne sollen die TrägerInnen in eine Reihe mit Jüdinnen und Juden stellen, die im Nationalsozialismus gezwungen waren, sie als Zeichen der Ausgrenzung zu tragen – ein Schritt auf dem Weg zum antisemitischen Massenmord. Gegen die Frau schritt die Polizei ein, nachdem sie bereits einige Zeit Teil der Versammlung war. Auch ein Ordner der Augsburger Demonstration am 27. Juni trug ein Schild und eine Maske mit zwei ‚Judensternen‘ und der Aufschrift: „1933 Judenstern 2020 Maske.“
Ein Redner auf einer Demonstration in Nürnberg am 5. Juli verharmloste die Schoah und gab den Opfern die Schuld an ihrer Verfolgung und Ermordung: „Bestimmte Bevölkerungsgruppen“, gemeint sind Juden und andere Verfolgte des Nationalsozialismus, seien „damals in bestimmte Lager getan“ worden, „damit sie halt kein Scheiß machen.“
Am 27. Juni und am 4. Juli trug eine Frau in Augsburg ein Shirt mit der Aufschrift: „End(er-)lösung: Impfstoff“, am 4. Juli wurde ein bereits in der Vergangenheit genutztes Schild mit der Aufschrift „1. Notstandsgesetze 2. Gleichschaltung von Medien 3. Diktatur 4. Endlösung der Coronafrage: Impfstoff“ wieder prominent an der Bühne platziert. Beides parallelisiert die heutige Situation mit dem nationalsozialistischen Massenmord unter dem Titel „Endlösung der Judenfrage“ und verharmlost die Schoah. Ein Redner sagte, „es gibt immer Möglichkeiten Menschen zu spalten. Ob das jetzt Arier und Juden waren oder ob das Infizierte oder Nichtinfizierte sind“, sei „völlig egal“. Auch hier wird die Schoah und ihre antisemitische Motivation verharmlost und nationalsozialistische Rassenlehre reproduziert.
Gleiches tat am 27. Juni eine Frau in Landshut in ihrer Rede über eine für Oktober geplante ‚impfkritische‘ Demonstration in München, zu der auch eine Holocaustüberlebende kommen werde. Diese würde sagen, „wie das damals losgegangen ist, dass die Ärzte wegducken und brav mitmachen und keiner will Verantwortung übernehmen. Das haben wir ja jetzt im Grunde wieder, keiner steht für die Rechte ein und dann wird es halt immer schlimmer, immer schlimmer. Beim Hitler hat es ja auch klein angefangen, das ist ja nicht über Nacht gekommen, das kommt ja langsam.“
Am 13. Juni sagte ein Redner in Regensburg die angeblich „einseitige, monopole Berieselung der Öffentlich-Rechtlichen“ erinnere ihn „fatal an Deutschlands finsterste Zeiten. An den Stürmer, an die Judenhetze bei Tag und Nacht.“ Auch das ist eine Bagatellisierung des nationalsozialistischen Antisemitismus und der Schoah, in der dieser kulminierte.
In den meisten bayerischen Städten nahmen im beobachteten Zeitraum immer weniger Menschen an ‚Coronademos‘ teil, während es teilweise Sammlungsbewegungen und Zusammenschlüsse, vereinzelt aber auch Spaltungen gab. In manchen Städten sind die Versammlungen mittlerweile ganz klar von der extremen Rechten dominiert, andernorts sind solche Akteure eher Teil eines verschwörungsideologischen Milieus. Während es nur noch selten Massenveranstaltungen sind, nehmen auf den Versammlungen, insbesondere aber in den dazugehörigen Onlinekanälen, offen und codiert antisemitische Inhalte proportional zu.
Für das zweite Juliwochenende sind wieder ‚Coronademos‘ in zahlreichen bayerischen Städten angekündigt.
Halle vor dem Prozess gegen Stephan B.: Antisemitismus und behördliches Fehlverhalten
1. Juli 2020
RIAS Bundesweite KoordinationAntisemitismus und behördliches Fehlverhalten: Halle vor dem Prozess gegen Stephan B.“
Nur wenige Monate nach dem rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur und kurz vor dem Prozessbeginn gegen den Attentäter Stephan B. kommt Halle (Saale) in Bezug auf Antisemitismus nicht zur Ruhe. Der Bundesverband RIAS e.V. hat seit Ende April mehrere zum Teil massive antisemitische Vorfälle in der Stadt dokumentiert, die die jüdischen Communities vor Ort verunsichern. Auch die örtlichen Sicherheitsbehörden tragen zu dieser Verunsicherung maßgeblich bei. Aus einer „Solidaritätswelle“, von der Vertreter_innen jüdischer Gemeinden aus Sachsen-Anhalt nach dem Anschlag in einer RIAS-Studie berichtet hatten, hat sich in der Stadt eine rechtsextreme Dynamik antisemitischer Vorfälle entwickelt.
In den letzten Wochen häuften sich in Halle antisemitische Vorfälle, die sich zum Teil direkt gegen Jüdinnen_Juden richteten. So erhielt am 28. Mai die Synagogengemeinde zu Halle einen Drohbrief. Der Absender des rechtsextremen Pamphlets nennt sich „Nationale Freiheitspartei“, der Briefkopf zeigt eine Hitler-Darstellung und die Worte „Heil Hitler“. Im Umschlag befand sich ein weißes Pulver. Das Landeskriminalamt ermittelt in dem Fall. Nur drei Tage später ereignete sich ein weiterer Vorfall vor dem Gemeindezentrum der jüdischen Gemeinde, wo jemand am 31. Mai und am 2. Juni Hakenkreuze aus Zellstoff legte. Wiederum einen Tag später, am 3. Juni, kam es in der Innenstadt zu einem antisemitischen Angriff: Zunächst beschimpfte der Täter auf dem Hallenser Marktplatz eine andere Person als „Judensau“. Nachdem eine dritte Person intervenierte, rief er „Heil Hitler“ und schlug jener ins Gesicht.
Insbesondere vor dem Hintergrund des rechtsextremen Terroranschlags an Jom Kippur 2019, als sich Stephan B. mit Hilfe selbstgebauter Waffen Zugang verschaffen wollte, um die sich dort befindlichen Jüdinnen_Juden zu ermorden, habe diese Häufung antisemitischer Vorfälle innerhalb weniger Tage große Auswirkungen auf die jüdische Community in der Stadt, berichtet Gemeindemitglied Igor Matviyets:
„Die zahlreichen Vorfälle sind besorgniserregend. Allen politisch Verantwortlichen in Stadt und Land sollte klar sein, welche Wirkung es auf die jüdischen Menschen und allgemein auf die Zivilgesellschaft hat, wenn der Antisemitismus gerade in Halle ohne klaren Widerspruch bleibt. Den vielen Reden gegen Antisemitismus müssen endlich Taten folgen.“
Verschwörungsmythen und Bagatellisierung der Schoa bei rechtsextremen Corona-Demos
Zum Gefühl der Bedrohung trägt für die jüdische Community auch eine fortwährende rechtsextreme und antisemitische Agitation in der Stadt bei. Hierbei ist besonders das Umfeld um den rechtsextremen Aktivisten und Unternehmer Sven Liebich hervorzuheben, das für die Durchführung von regelmäßigen Versammlungen in Halle zu wechselnden Themen verantwortlich ist. Im Rahmen von solchen Versammlungen griffen der früher bei militanten Neonazi-Strukturen wie Blood & Honour aktive Liebich bzw. Personen aus seinem Umfeld das Thema Corona-Pandemie spätestens ab April auf und nahmen es zum Anlass für Schoa relativierende und verschwörungsideologische antisemitische Äußerungen. Der Bundesverband RIAS konnte in diesem Zusammenhang in den vergangenen Wochen insgesamt zwölf antisemitische Vorfälle dokumentieren, von denen zehn dem Post-Schoa Antisemitismus, drei antisemitischem Othering und zwei dem modernen Antisemitismus zuzuordnen sind (Mehrfachzuordnungen möglich). Bei den Vorfällen handelt es sich um Versammlungen, die dem rechtsextremen Spektrum zuzurechnen sind.
- Bei der Versammlung am 21. April sprach ein Redner von einem bevorstehenden Impfzwang und meinte, Personen, die sich dem widersetzten, würden „gleich einen Gelben Stern an der Brust tragen“, ähnlich äußerte er sich in Bezug auf Personen, die nicht nachweisen könnten, dass sie nicht infiziert seien, im Rahmen einer Versammlung am 18. Mai.
- Bei der Versammlung am 11. Mai präsentierte Liebich ein T-Shirt mit einem sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „Ungeimpft“.
- Bei der Versammlung am 16. Mai trug Liebich ein T-Shirt mit einem Porträt von Anne Frank und dem Text: „Anne Frank wäre bei uns – Weg mit den Ausgangssperren!“ Mindestens zwei Teilnehmer der Kundgebung tragen T-Shirts mit sogenannten „Judensternen“ mit der Inschrift „ungeimpft“ auf der Brust.
- Bei der Versammlung am 23. Mai trug eine Teilnehmerin ein Schild mit Verschwörungsmythen, die an den Antisemitismus anschlussfähig sind: „Stoppen wir die Machtergreifung der Pharmaindustrie & Hochfinanz & ihrer gekauften Helfer aus Politik & Medien!“ Dieses Schild wurde auch bei mindestens einer späteren Versammlung getragen.
- In seiner Rede während der Versammlung am 30. Mai imaginierte Liebich eine Unterhaltung mit einem Kind über Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und kommentierte, dies habe ihn „an ‚Das Leben ist schön‘, das Kind in dem KZ, das so versteckt wurde, erinnert.“
- Am 1. Juni beteiligte sich Liebich am Spaziergang in Bernburg und trug dabei ein T-Shirt mit einem sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“.
- Am 6. Juni trug ein Versammlungsteilnehmer ein T-Shirt mit einem sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“.
- In seiner Rede während der Versammlung am 20. Juni verbreitete Liebich antisemitische Verschwörungsmythen um den jüdischen Philanthropen George Soros, dem er unmittelbare Verantwortung für „Fridays for Future“- und „Black Lives Demos“-Demonstrationen zuwies. Auch bemängelte Liebich, der 9. November gelte „der Schuld […], da müssen wir uns niederknien und ducken, [um zu] zahlen, zahlen“.
- Am 27. Juni redete Liebich über den grünen Punkt, mit dem Schüler_innen nachweisen können, dass sie nicht infiziert seien, und verglich diesen mit dem „Gelben Stern“.
- Zudem präsentierten am 6., 17. und 20. Juni Personen auf von Liebich organisierten Versammlungen antisemitische Karikaturen (siehe unten).
Hervorzuheben ist die bereits erwähnte Versammlung am 16. Mai, in deren Rahmen Liebich auch auf einen Gegendemonstranten, einen lokalen SPD-Politiker, zuging, um diesen lautstark als jüdisch zu markieren. Während er sich filmte, sagte er zu dem Betroffenen: „Hey, wie heißt Du eigentlich, [Name des Betroffenen], ich hab‘ nichts gegen Dich, weil Du Jude bist, haste gehört, im Gegenteil. (…) Also [Name des Betroffenen] hat mal gesagt ich hätte was gegen ihn, weil er JUDE ist, was totaler Quatsch ist, Hier: [filmt auf das Bild von Anne Frank auf seinem T-Shirt]. (...) Nein, (…), ich hab‘ was gegen elendige SPD-Läuse, aber nichts gegen Juden, warum soll ich was gegen Juden haben?“
Bereits zuvor hatte Liebich auf seinem Telegram-Kanal den Betroffenen mehrfach mit einer ähnlichen Wortwahl als Juden benannt und ihn u.a. auch als „Blockwart“ bezeichnet. Die Projektion von NS-Verbrechen auf jüdische Betroffene ist für diese besonders verletzend, da die Schoa meistens Teil ihrer Familiengeschichte ist. Zudem kann die Markierung von Personen als jüdisch vor rechtsextremem Publikum oder auf von Rechtsextremen genutzten medialen Kanälen für die Betroffenen eine besonders bedrohliche Wirkung haben.
Mehrere der oben genannten Kleidungsstücke vertreibt Liebich in seinem Online-Shop, aber auch andere Schoa relativierende Motive, insbesondere „Judensterne“ mit Inschriften wie „Sachse“, „Dieselfahrer“ oder „AfD-Sympathisant“. Dabei ist die Inschrift auf diesen Motiven fast immer in derselben, die hebräische Schrift verhöhnenden Schriftart gehalten wie die Aufschrift „Jude“ auf dem historischen „Judenstern“ im Nationalsozialismus. Liebich und andere rechtsextreme Akteurinnen_Akteure inszenieren sich dadurch als Opfer, in diesem Falle der Corona-Maßnahmen. Durch solche Vereinnahmungen werden Opfer der Schoa wie etwa Anne Frank, instrumentalisiert und verspottet – wie es auch in der oben beschriebenen Situation sichtbar wird – und die Schoa bagatellisiert. Im Sortiment des Versands sind auch „Stolper-Aufkleber Merkelopfer“, die im Stil der Stolpersteine gehalten sind, aber Namen von Personen enthalten, die laut Liebich von Personen mit Migrationshintergrund ermordet wurden. In der Beschreibung wird implizit vorgeschlagen, mit diesen Aufklebern reale Stolpersteine für Opfer der NS-Verbrechen zu überkleben: „Witterungsbeständig. Hält auch gut auf Messingplatten.“ Dem Bundesverband RIAS e.V. sind mehrere Fälle bekannt, bei denen dies als Empfehlung interpretiert und entsprechend angewandt wurde. Laut MDR wurde eine Anzeige aufgrund des „Dieselfahrer Judensterns“ mit der Begründung eingestellt, es handele sich lediglich um eine „bewusst übersteigerte Ausdrucksform“. Insgesamt seien bis Oktober 2019 über 200 Verfahren gegen Liebich bekannt gewesen.
Antisemitische Anfeindungen von Liebich und seinen Anhänger_innen gelten auch zivilgesellschaftlichem Engagement. Am Tag nach dem Terroranschlag an Jom Kippur störte Liebich ein angekündigtes stilles Gedenken, indem er gezielt am gleichen Ort eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn eine Kundgebung gegen „Linken-Terror“ anmeldete. Im Fokus seiner Anfeindungen steht insbesondere die Amadeu Antonio Stiftung – nicht zuletzt aufgrund der jüdischen Herkunft ihrer Vorsitzenden Anetta Kahane. Nachdem ein anderer von Liebich geführter Versand eine antisemitische Karikatur von Kahane neben dem Verschwörungsmythos um eine angebliche Internetzensur durch Kahane veröffentlichte und der einstweiligen Verfügung von ihr widersprach, kam es Anfang Juni zu einem Zivilverfahren, das zu ihren Gunsten entschieden wurde: Liebich wurde untersagt, die genannte verleumderische Behauptung über Kahane zu verbreiten und ihr Bildnis kommerziell zu nutzen. Am Rande des Gerichtstermins am 4. Juni griffen Anhänger_innen Liebichs Vertreter_innen der Presse an und pöbelten Prozessbeobachter_innen im Gerichtsgebäude an. Liebich selbst erschien zur Verhandlung in einem Hemd mit einem roten Winkel, dem im Nationalsozialismus verwendeten Zeichen für politische KZ-Häftlinge. Seitdem präsentierten Personen auf von Liebich organisierten Versammlungen die dämonisierende Karikatur Kahanes mehrmals auf einem Schild, mindestens am 6., 17. und 20. Juni.
„Sven Liebich verhöhnt Opfer des NS, bagatellisiert die Schoa, droht und beleidigt Jüdinnen_Juden und reagiert auf Kritik an diesem Antisemitismus mit Spott – er sei ja alles andere als Antisemit“, kommentiert Anetta Kahane die Vorgänge in der Stadt. „Bei der Staatsanwaltschaft erkennt man auch nach Hunderten von Anzeigen gegen Liebich scheinbar keinen Handlungsbedarf. Dass gerade in der Stadt, in der der schlimmste antisemitische Terroranschlag seit Jahren geschah, antisemitisches Gedankengut so ungehindert verbreitet und reproduziert werden darf, ist ein sehr deutliches Signal – an die jüdischen Hallenser_innen, aber auch an alle, denen an einem demokratischem Miteinander gelegen ist.“
Behörden als Teil des Problems
Zum Bedrohungsgefühl von Jüdinnen_Juden in Halle tragen auch die örtlichen Behörden einen Teil bei. Allein in den letzten Tagen und Wochen sind mehrere Informationen über das Agieren von Polizei und Justiz in Halle bekannt geworden, die den politisch formulierten Anspruch mit aller Konsequenz gegen Antisemitismus vorzugehen, nicht einmal in Ansätzen gerecht werden.
So kam es offenbar bereits am 30. Mai zu einem Fluchtversuch des rechtsextremen Attentäters Stephan B. aus der JVA in Halle. Mehrere Minuten war B. laut dem Justizministerium Sachsen-Anhalts unbeaufsichtigt, er überwand eine Mauer im innern der JVA und versuchte, sich Zugang zu anderen Gebäuden auf dem Gefängnisgelände zu verschaffen. Die JVA hatte zuvor einständig die Haftbedingungen von B. gelockert. Irritierend ist hieran auch, dass die beteiligten Beamten den Fluchtversuch nicht als „Ereignis von schwerwiegender Bedeutung, das geeignet ist, in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen“ einordneten und somit nicht unverzüglich das Justizministerium benachrichtigten. Die Öffentlichkeit erfuhr erst einige Tage später von dem Fluchtversuch.
Doch auch bei dem oben erwähnten antisemitischen Vorfall am 2. Juni vor dem Jüdischen Gemeindezentrum kam es zu einem eklatanten Fehlverhalten auf Seiten der Polizei: Die vor Ort eingesetzten Beamten, die wegen des Hakenkreuzes aus Taschentüchern zum Gemeindezentrum gerufen worden waren, meldeten zunächst, sie haben dieses nicht vorgefunden. Durch die Auswertung der Sicherheitskameras des Gemeindezentrums wurde jedoch nachvollziehbar, dass einer der beiden Beamten auf das aus Zellstoff gefertigte Hakenkreuz getreten ist und er den Ablageort, nachdem der Zellstoff am Schuh des Polizeibeamten haften geblieben war, verändert haben soll. Die Polizei ermittelt nun wegen Vereitlung einer Straftat.
Diese Vorgänge sind auch deswegen so erschreckend, da die Aufarbeitung des polizeilichen Agierens rund um das Attentat am 9. Oktober 2019 auf die Synagoge noch nicht abgeschlossen ist. Vor dem Untersuchungsausschuss im Magdeburger Landtag gab die Leiterin des für die Synagoge zuständigen Polizeireviers Anfang Juni an, nicht vom höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur gewusst zu haben. Entsprechend habe es kein besonderes Schutzkonzept für die Synagoge an diesem Tag gegeben. Bereits im Februar hatte die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass die Polizei trotz zwei eingegangener Notrufe zunächst nur einen Streifenwagen zur Synagoge geschickt hatte.
„Die Voraussetzung für eine normal funktionierende Gesellschaft, ist das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden. Die in der letzten Zeit verzeichneten Pannen sowohl in der JVA und vor dem Gemeindezentrum in Halle als auch andere Vorkommnisse, die leider immer öfter festgestellt werden zeigen, dass der Handlungsbedarf bei der Politik dringend notwendig ist. Das Ersetzen eines Amtsträgers durch einen anderen ist allerdings keine Handlung in diesem Sinne: Man sollte strategisch denken und nachhaltig handeln, und nicht nur auf die Pannen reagieren“, so Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Halle.
Nach dem Terroranschlag hatten politische Vertreter_innen der Stadt und des Landes gegenüber der Jüdischen Gemeinde wie dem Eigentümer des Kiez Döners ihre Betroffenheit und Solidarität ausgesprochen und Hilfsleistungen zugesagt. Insbesondere der Imbiss Kiez Döner, in dem Stephan B. am Tag des Anschlags einen Mann ermordete und weitere Personen verletzte, war in Folge des Attentats mit großen materiellen Schwierigkeiten konfrontiert. Die angekündigte finanzielle Unterstützung blieb jedoch auch über ein halbes Jahr später noch aus. Ebenso wurden politische Ankündigungen, Sicherheitskonzepte zu unterstützen und bereitzustellen, die zur objektiven Sicherheit beitragen und somit auch das Sicherheitsgefühl der jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt und bundesweit verbessern sollten, weitgehend nicht umgesetzt, worauf Vertreterinnen der Mobilen Opferberatung Sachsen-Anhalt hinwiesen.
Ende März hat der Bundesverband RIAS die „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“ veröffentlicht. Für diese wurden bereits vor dem rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur in Halle Jüdinnen_Juden aus dem gesamten Bundesland zu ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus befragt. Die Befragung wurde nach dem Anschlag um eine schriftliche Nachbefragung ergänzt. Vor allem aus Halle wurde in dieser berichtet, dass es ein größeres Interesse und eine enorme Solidaritätswelle sowohl von städtischen Behörden als auch von der Bevölkerung gab. Das habe auch neue Herausforderungen für die Sicherheit mit sich gebracht, da vermehrt Nicht-Gemeindemitglieder zu den Gottesdiensten kamen. Diese Zunahme sei vor allem eine Folge des Terroranschlags, sie sei weniger auf ein gestiegenes Interesse an der Gemeinde selbst zurückzuführen. In der Gemeinde in Halle kam es im Nachgang des Terroranschlags aber auch zu antisemitischen Zuschriften.
Die in der Nachbefragung noch als ambivalent dargestellte Situation nach dem rechtsextremen Terroranschlag in Halle scheint sich mittlerweile zu einer gewissen rechtsextremen Dynamik antisemitischer Vorfälle gewandelt zu haben. Das zeigen die antisemitischen Vorfälle, die der Bundesverband RIAS im Mai und Juni 2020 in Halle dokumentiert hat. Es bleibt nicht bei Schoa-Relativierungen und antisemitischen Verschwörungsmythen auf Demonstrationen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen, vielmehr richten sich antisemitische Vorfälle nun vermehrt unmittelbar gegen Jüdinnen_Juden. Durch das Fehlverhalten bei Polizei und Justiz steigert sich das Bedrohungsgefühl in den jüdischen Communities noch, während sich zugleich Personen für ihre antisemitischen Taten legitimiert sehen könnten.
Antisemitismus auf „Coronademos” vom 16. und 17. Mai 2020
21. Mai 2020
RIAS BayernAntisemitismus auf „Coronademos“ vom 16. und 17. Mai 2020
Am Wochenende des 16. und 17. Mai 2020 fanden in Bayern wieder zahlreiche Kundgebungen sogenannter „Corona-Rebellen“ statt, die sich gegen reale und imaginierte staatliche Maßnahmen angesichts der Coronapandemie richteten. Auch dieses Mal hat RIAS Bayern antisemitische Vorfälle dokumentiert.
Antisemitismus und Verschwörungsfantasien
Verschwörungsfantasien bildeten auch auf den von RIAS Bayern dokumentierten „Coronademos“ am 16. und 17. Mai ein Grundrauschen. Stichwörter waren z.B. Bill Gates, Impfzwang, QAnon oder New World Order (NWO). Derlei Verschwörungsfantasien zeichnen sich durch folgende Grundstruktur aus: Eine meist im verborgenen agierende kleine Elite beherrsche durch bösartige Machenschaften die Menschen bzw. die Welt. Dieser „Welterklärung“ folgt auch der Antisemitismus. Deswegen besteht bei den aktuell kursierenden Verschwörungserzählungen immer die Gefahr, dass der Antisemitismus manifest wird. Bei den von RIAS Bayern dokumentierten Vorfällen wurde sich dabei einer üblichen Umwegkommunikation bedient: Mit Chiffren wie „NWO“ oder „Rothschilds“ wird klar gemacht, wer gemeint ist, ohne das Wort „Jude“ zu verwenden.
- Ein Teilnehmer einer „Coronademo“ am 16. Mai 2020 in Rosenheim trug ein Schild mit der Aufschrift „Stoppt die Corona Panikmache! und Einschränkung unserer Bürgerrechte! Stoppt Bill Gates und die New World Order!”. Die „New World Order” (NWO) beschreibt die antisemitische Vorstellung einer „Neuen Weltordnung“, die sich die Welt Untertan mache.
- Eine Teilnehmerin einer „Coronademo” in Augsburg am 16. Mai 2020 trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „No Merkel WHO Gates Rotschilds und Co.”. Mit Rotschilds ist die jüdische Familie der Rothschilds gemeint, die vor allem als Bankiersdynastie bekannt wurde. „Die Rothschilds” fungiert im Antisemitismus als Chiffre für „die Juden”.
- Auf einer „Coronademo” am 16. Mai 2020 in München wurde Angela Merkel als „NWO-Marionette” bezeichnet. Dies entspringt der antisemitischen Vorstellung, eine „Neue Weltordnung” (NWO) würde in Wahrheit die Welt beherrschen und Politiker wie Merkel als Marionetten einsetzen.
- Auf einem Schild auf einer „Coronademo” am 16. Mai 2020 in München hieß es: „Polizisten! Lasst Euch nicht mißbrauchen und nicht zu Bütteln machen von Bill Gates, George Soros, David Rockefeller und ihren deutschen Statthaltern!”. Analog zu „Rothschilds” dient hier vor allem der jüdische Philantrop und Investor George Soros als Chiffre für ”die Juden”. Die Aussage entspricht der antisemitischen Grunderzählung: Eine kleine Gruppe reicher Menschen sei in der Lage Menschen auf der ganzen Welt zu kontrollieren. So würden hier die genannten Personen etwa auch die Bundesrepublik Deutschland beherrschen, die durch ihre Statthalter bloß verwaltet werde.
- Auf einer „Coronademo” in Landshut am 16. Mai 2020 trug eine Teilnehmerin ein Oberteil mit dem Aufdruck „Q” und „WWG1WGA”. „Q” bzw. „QAnon” soll angeblich ein Insider der US-Regierung sein, der im Internet regelmäßig „Geheiminformationen” der Öffentlichkeit zugänglich macht. „WWG1WGA” steht für „Where we go one we go all” und ist eine Art Schlachtruf der QAnon-Anhänger. Auf QAnon geht auch die Adrenochromeerzählung zurück, die durch Xavier Naidoo in Deutschland bekannt wurde. Laut QAnon gewinnt die Hollywoodelite aus den Körpern entführter und gefolterter Kinder die Verjüngsungsdroge Adrenochrome. Dabei handelt es sich um eine moderne Form der Ritualmordlegende. Seit dem Mittelalter kursiert das Gerücht, Juden bräuchten Christenblut, insbesondere von Kindern, zum Einbacken in ihre Mazzen, für Zauberei oder zur Heilung ihnen angeborener Leiden.
Auch in einer Rede am 16. Mai 2020 auf einer „Coronademo” in Augsburg schlug sich dieses Verschwörungsdenken nieder. Dabei imaginierte der Redner das Federal Reserve System (FED), das Zentralbank-System der USA, als “wahren Strippenzieher”, der hinter der Coronapandemie stünde:
„Diese Leute, von Gates bis von der Leyen, Merkel und den Abgeordneten der Opposition sind alle Vasallen des Geldes, sprich der FED. Die eigentlichen Eigentümer der FED sind geheim, aber man kennt ihre Strategie.”
Weiter heißt es:
„Von keinem der FED-Eigentürmer existiert ein aktuelles Foto, niemand weiß wer im Moment an der Spitze dieser Familien steht und wo diese Leute wohnen. Man muss die Verschwörung, oder nennen wir es die Kooperation, erkennen, warum diese klitzekleine Machtelite sich den zweitreichsten Mann der Welt ins Boot geholt hat.”
Hier zeigt sich abermals, wie Antisemitismus als „Welterklärung” dient: Die Welt wird so wahrgenommen, wie die eigene ideologische Vorstellung vorgibt, dass sie sein müsse. Dadurch wird die Tatsache abgewehrt, dass man der Welt mit ihren komplexen Mechanismen ausgeliefert ist. Man schafft sich eine eigene Welt, die von simplen gut-böse Strukturen geprägt ist. Darin wird nicht mehr die Einrichtung der Welt (an der niemand unmittelbar Schuld hat) als feindlich und widersprüchlich, sondern eine “böswillige” Gruppe als der Feind, in diesem Fall die angeblichen Eigentümer der FED, ausgemacht – mit dessen Vernichtung das Böse aus der Welt verschwände. Dieses Bild von der Welt ist weniger komplex als die reale, vermeintlich bekannt und damit psychisch handhabbar. Die Verunsicherung, die in der komplexen realen Welt zwangsläufig für alle vorhanden ist, wird abgewehrt, indem man sich selbst zu einem vermeintlich guten Kollektiv rechnet, das sich gegen böse Mächte verteidigen müsse.
Weiter vermengte der Redner in Augsburg Verschwörungsfantasien rund um Corona und Bill Gates mit dem klassischen antisemitischen Topos der „Zinskritik”:
„Dass der nette Bill mit seinem Impfstoff Milliarden verdienen kann, billigen die Herrschenden ihm gerne zu, denn wenn sein Impfstoff mit Nano-Kristallen angereichert wird, dann dient auch der der Versklavung, genauso wie der Nasenring Zinsgeld, an dem jeder von uns hängt.”
Der Verweis auf den “Nasenring Zinsgeld”, der die Menschheit versklave, ist nichts anderes als eine Umschreibung des obersten Ziels des Nationalsozialismus: die „Brechung der Zinsknechtschaft”. Juden werden im Antisemitismus mit der Zirkulationssphäre des Kapitals, etwa dem Zins, verbunden. Unverstandene Prozesse werden so im „Juden” konkretisiert. Entsprechend unterschied der Nationalsozialismus zwischen einem guten „schaffenden”, weil produzierenden, Kapital, und einem bösen, weil zinsheckenden, “raffenden” Kapital, obwohl tatsächlich Produktions- wie Zirkulationssphäre des Kapitals miteinander verflochten sind. Dieses Denken existiert bis heute fort, wie die Rede in Augsburg exemplarisch zeigt.
Relativierung der Schoah
Auch am Wochenende des 16. und 17. Mai wurde von „Corona-Rebellen” die Schoah und der Nationalsozialismus relativiert, jedoch hat RIAS Bayern nicht so viele Fälle dieser Erscheinungsform des Antisemitismus wie am vorangegangenen Wochenende dokumentiert. So trug am 16. Mai ein Ordner einer „Coronademo” in Regensburg einen gelben Stern mit der Inschrift „Nicht Corona Geimpft!”. In Landshut haben Eltern gar ihrem Kleinkind einen „Judenstern” mit der Inschrift „Nicht geimpft” angesteckt. In München wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Wir sind Nachkommen von Sophie Scholl … nicht von Eva Braun” gezeigt. In Nürnberg wurde ein Schild mit der Aufschrift „2020=1933” gezeigt. Die Anwesenheit eines Journalisten kommentierte eine Kundgebungsteilnehmerin in Passau am 16. Mai mit dem Kommentar „Stasi, SS!”. In Waldkraiburg präsentierten augenscheinlich Sympathisanten der Reichsbürgerszene ein Schild mit der Aufschrift „Gib der neuen Weltordnung und Dr. Mengele keine Chance!”.
Damit stellen sich die TrägerInnen selbst als vermeintliche Opfer in eine Reihe mit den verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden, verharmlosen die Schoah und verhöhnen die Opfer. Die Botschaften deutet auf eine Weigerung hin, sich tatsächlich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Schoah auseinanderzusetzen. Derlei Aussagen verweisen stattdessen auf das Bedürfnis, sich in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft selbst an den Platz von Verfolgten oder Opfern – nicht aber an den von Nachkommen von TäterInnen – setzen zu wollen.
Antisemitismus auf Kundgebungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie
12. Mai 2020
RIAS BayernAntisemitismus auf Kundgebungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie
In den letzten Wochen haben auch in Bayern teils sehr große Kundgebungen stattgefunden, die sich gegen staatliche Maßnahmen im Kontext der Coronapandemie richteten. RIAS Bayern hat einige Veranstaltungen beobachtet und veröffentlicht hier exemplarisch antisemitische Vorfälle, die sich auf den Kundgebungen ereigneten.
Antisemitische Verschwörungsmythen als ‚Krisenerklärung‘
Es ist nicht verwunderlich, dass im Rahmen der Coronakrise Antisemitismus verstärkt auftritt. Bereits zur Zeit der Pest wurde ‚den Juden‘ als Kollektiv vorgeworfen, sie hätten die Krankheit durch Brunnenvergiftung verursacht. Antisemitismus fungiert als Welterklärung, die komplexe, meist als negativ wahrgenommene gesellschaftliche Vorgänge zum Ergebnis der bösen Machenschaften einer geheimen Elite erklärt. Der vermeintliche Feind wird benannt als ‚die da oben‘, ‚Illuminaten‘, ‚Bankster‘ oder ‚Freimaurer‘ bis hin zu ‚Zionisten‘ oder explizit als die vermeintliche ‚jüdische Weltverschwörung’. Alle Verschwörungserzählungen, die komplexe Zusammenhänge auf den bösen Willen ‚geheimer Mächte‘ reduzieren, tragen das Potential in sich, offen antisemitisch zu werden.
Dies ist bei den hier dokumentierten Versammlungen oft geschehen. So wurde am 9. Mai bei einer Kundgebung in München eine Fotomontage gezeigt, auf der Menschen von Uniformierten gewaltsam ‚zwangsgeimpft‘ werden. Das Emblem auf den Uniformen und den Autos der fiktiven Impfeinheit ist an einen Davidstern angelehnt und trägt die Inschrift ‚ZION‘. Hier wird ‚Zion‘, das lesbar ist als ‚die Juden‘, ‚der Zionismus‘ oder Israel, beschuldigt, hinter der angeblichen ‚Zwangsimpfung‘ gegen Covid-19 zu stecken.
Auf den dokumentierten Kundgebungen wurde immer wieder Bill Gates und die Bill & Melinda Gates Foundation, die sich weltweit unter anderem für Impfungen einsetzt, thematisiert. Gates steht dabei für eine vermeintliche Elite, die die Menschheit ins Verderben stürzen wolle. Zwar ist seine Person (bisher) nicht mit explizit antisemitischen Bildern aufgeladen, er wird aber immer wieder mit Feindbildern gemeinsam genannt, die klassische Projektionsflächen für Antisemitismus darstellen: In Erlangen wurde beispielsweise am 6. Mai von Redner und Publikum im Zwiegespräch gesagt, „Bill Gates, die Reichen, die Rockefeller-Stiftung, die Bill-Gates Stiftung“ seien neben George Soros, den Bilderbergern und einigen anderen für die Coronakrise verantwortlich. Die Bilderberger, der jüdische Milliardär und Philanthrop George Soros wie auch David D. Rockefeller sind seit langem im Antisemitismus immer wieder benannte Feindbilder, die für eine herbeihalluzinierte jüdische Weltverschwörung stehen. Dieses Verschwörungsdenken zeigte sich beispielsweise auf einer Kundgebung in Passau am 2. Mai, auf der ein Teilnehmer die Anwesenheit eines Fotografen mit dem Satz „wahrscheinlich hat er bei Soros studiert” kommentierte.
Wesentliches Element solcher Vorstellungen ist, dass diese Elite, wie auch immer sie benannt wird, zum Ziel habe, eine Neue Weltordnung (NWO) einzuführen. In dieser sollen die Menschen etwa durch angeblich bei Impfungen implantierte Chips unterdrückt und kontrolliert, oder gar die Weltbevölkerung reduziert werden. Eine beliebte Chiffre für ‚die Juden‘ bediente ein Demonstrant auf einer Kundgebung am 2. Mai in München: Sein Plakat sprach von der „Corona-Lüge“ und einer „weltweiten Verschwörung der Globalisten“. Vor der angeblich angestrebten Neuen Weltordnung wurde auf zahlreichen Plakaten auf den Demonstrationen ‚gewarnt‘.
Warum glauben Menschen an offensichtlich abstruse oder falsche Verschwörungserzählungen?
Viele der angeblichen Missstände, die auf den Demonstrationen angeklagt werden, sind frei erfunden. So heißt es vielfach, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt oder abgeschafft und man wolle sie wiederherstellen. Gleichzeitig fällt aber den Teilnehmenden offenbar nicht auf, dass sie just in dem Moment, in dem sie das auf der Straße formulieren, genau von jenem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machen, das angeblich nicht mehr gelte. Manche der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bedeuten zwar immense Eingriffe in die Grundrechte mit teilweise harten ökonomischen und sozialen Folgen, diese jedoch als Diktatur zu bezeichnen und fälschlicherweise mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 gleichzusetzen, entspringt der Phantasie der Kundgebungsteilnehmer.
Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Phantasie bei nicht wenigen der negative Ausdruck einer projizierten Sehnsucht ist: Sehnsucht nach einer autoritären Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt und in der nicht vermittelnde, demokratische Prozesse, sondern die unmittelbare Herrschaft ‚des Volkes‘, als das sich die Demonstrationsteilnehmenden immer wieder bezeichnen, das gesellschaftliche Zusammenleben regelt. Nicht nur der auf den Demonstrationen und im Internet vielfach derzeit formulierte Mordaufruf „Kill Bill!“ (Gates) würde in einer solchen Gesellschaft vermutlich umgesetzt.
Die mitunter völlige Entkoppelung der eigenen Behauptungen von der Realität ist ein psychischer Vorgang, der in der Antisemitismusforschung als pathische Projektion bekannt ist: Die Welt wird so wahrgenommen, wie die eigene ideologische Vorstellung vorgibt, dass sie sein müsse. Dadurch wird die Tatsache abgewehrt, dass man der Welt mit ihren komplexen Mechanismen ausgeliefert ist. Man schafft sich eine eigene Welt, die von simplen gut-böse Strukturen geprägt ist. Darin wird nicht mehr die Einrichtung der Welt (an der niemand unmittelbar Schuld hat) als feindlich und widersprüchlich, sondern eine böse Gruppe als der Feind ausgemacht – mit dessen Vernichtung das Böse aus der Welt verschwände. Zumindest aber ist dieses Bild von der Welt weniger komplex als die reale, vermeintlich bekannt und damit psychisch handhabbar. Die Verunsicherung, die in der komplexen realen Welt zwangsläufig für alle vorhanden ist, wird abgewehrt, indem man sich selbst zu einem vermeintlich guten Kollektiv rechnet, das sich gegen böse Mächte verteidigen müsse. Dass gegen diese bösen Mächte in Form der ‚jüdischen Weltverschwörung‘ auch der Nationalsozialismus – wie alle antisemitischen Ideologien – als vermeintlich unschuldige Selbstverteidigung antrat, wird etwa im Motto „Die Juden sind unser Unglück“ des Stürmers, einer bekannten antisemitischen Wochenzeitung im Nationalsozialismus, deutlich.
Antisemitismus ist nicht nur ein ‚extremes‘ Phänomen
Obwohl an den meisten von RIAS Bayern beobachteten Kundgebungen auch extrem rechte AkteurInnen teilnahmen und manche sogar von solchen organisiert wurden, ging ein Großteil der hier dokumentieren Vorfälle nicht von diesen aus. Vielmehr stellten Menschen die dokumentierten Botschaften öffentlich zur Schau, die ihrem Auftreten nach eher einem gesellschaftlichen Durchschnitt zuzurechnen sind und nicht selten ökonomisch der Mittelschicht angehören dürften. Aus der Beobachtung der Onlinekanäle und anhand von Aussagen von KundgebungsteilnehmerInnen lässt sich schließen, dass viele dieser Menschen noch nie politisch aktiv waren. Die derzeit herrschende Krise stellt für sie eine ungewohnte Verunsicherung dar; das normale Leben ist auf den Kopf gestellt. Dies ist keine Entschuldigung für antisemitische Aussagen, zeigt aber die Anfälligkeit für antisemitische vermeintliche Krisenerklärungen auf.
Der aktuell massenhafte Zulauf zu den Onlineforen und den Veranstaltungen auf der Straße unterstreichen einmal mehr, dass antisemitische Bilder bei weitem nicht nur an den ‚politischen Rändern‘ der Gesellschaft, sondern quer durch das gesamte weltanschauliche Spektrum zu finden sind.
Verharmlosung der Schoah
Am häufigsten musste auf den Kundgebungen allerdings schoahrelativierender Antisemitismus festgestellt werden. In München, Nürnberg und Passau trugen Teilnehmende am 9. Mai gelbe Sterne, wie sie im Nationalsozialismus Jüdinnen und Juden tragen mussten, mit Inschriften wie „nicht geimpft“ oder „CoV-2“. Damit stellen sich die TrägerInnen selbst als vermeintliche Opfer in eine Reihe mit den verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden und verharmlosen damit die Schoah. Auf mehreren Kundgebungen war der Schriftzug „Impfen macht frei“ zu sehen. Dies bezieht sich wiederum verharmlosend auf die über mehreren Konzentrations- und Vernichtungslagern angebrachten Inschriften „Arbeit macht frei“.
Ein Schild auf den Kundgebungen in Augsburg am 2. sowie am 9. Mai bezeichnete einen Impfstoff gegen Covid-19 als „Endlösung der Coronafrage“. Das verharmlost die Schoah, die auch „Endlösung der Judenfrage“ genannt wurde. In München trug am 9. Mai eine Demonstrantin ein Pappschild, auf der sie unter anderem „Nie wieder: Dr. Mengele“ forderte, eine andere Demonstrantin trug eine Unterhose auf dem Kopf, die mit „Bill Gates = Dr. Mengele“ beschrieben war. Auf einem Schild wurde am 9. Mai in Regensburg gefragt, was nach der angeblichen „Impflicht“ komme: „Euthanasie? Zwangssterilisation?“. Vielfach wurde sich in München auch in die Tradition des Widerstands der Weißen Rose gegen den Nationalsozialismus gestellt, wodurch das NS-Regime mit der aktuellen Situation gleichgesetzt und verharmlost wird. Eine weitere schoahverharmlosende Aussage war am 25. April in München zu sehen, als ein Teilnehmer auf einem Pappschild kundtat: „Kontaktsperren sind sozialer Holocaust!!!“
Gerade diese schoahrelativierenden Formen antisemitischer Äußerungen waren bei den Protesten sehr häufig vertreten. Dies deutet auf eine Weigerung hin, sich tatsächlich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Schoah auseinanderzusetzen. Viele Aussagen verweisen stattdessen auf das Bedürfnis, sich in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft selbst an den Platz von Verfolgten oder Opfern – nicht aber an den von Nachkommen von TäterInnen – setzen zu wollen. Über das Geschichtsbild auf Versammlungen gegen Corona-Maßnahmen in Deutschland hat der Bundesverband RIAS e.V. ausführlich berichtet.
Je geschlossener Antisemitismus als Weltbild fungiert, desto mehr zielt er auf den Mord an tatsächlichen oder vermeintlichen Jüdinnen und Juden. Weil Verschwörungserzählungen immer einen Hang zum Antisemitismus haben, sind diese Veranstaltungen mit größter Aufmerksamkeit zu beobachten. Auf den Kundgebungen herrschte teilweise aggressive Stimmung gegen Polizei und Presse, die von vielen der DemonstrantInnen als feindselig wahrgenommen wurden. Das ist bereits Ausdruck der potentiell gewalttätigen Verteidigung der eigenen ‚Wahrheit‘, die viele der TeilnehmerInnen erkannt haben wollen. Auch Vertreter von RIAS Bayern wurden angegangen, in einem Fall körperlich angegriffen. Nicht zuletzt die rechtsterroristischen Attentäter, die die Anschläge in Hanau und auf die Synagoge in Halle verübten, waren von Mythen überzeugt, die denen, die derzeit massenhaft auf deutschen Straßen propagiert werden, teilweise stark ähneln.
Antisemitismus auf „Coronademos” vom 23. Mai bis 6. Juni
12. Mai 2020
RIAS BayernAntisemitismus auf „Coronademos” vom 23. Mai bis 6. Juni
Weiterhin finden in Bayern Versammlungen sogenannter Coronarebellen statt, die sich gegen tatsächliche und vermeintliche staatliche Maßnahmen im Zuge der Coronapandemie richten. Auch zwischen dem 23. Mai und 6. Juni kam es dabei zu antisemitischen Vorfällen, etwa in Redebeiträgen, auf Plakaten oder Kleidungsstücken.
Sinkende Teilnehmerzahlen und steigende Radikalisierung
Auf den Versammlungen und insbesondere in den Chatgruppen, in denen sie organisiert werden, ist eine Radikalisierungstendenz festzustellen. Mit sinkender Teilnehmerzahl bestimmt nun immer mehr ein „harter Kern” die Versammlungen. Dieser fühlt sich verstärkt von realen und imaginierten Mächten verfolgt und inszeniert sich als mutiger Kämpfer für ‚die Wahrheit‘. So kursiert die Vorstellung, ‚die Antifa‘ werde vom Staat oder von George Soros, einem jüdischen Milliardär, der ebenfalls ein altbekanntes antisemitisches Feindbild ist, für Krawalle in den USA bezahlt und werde nun gegen die ‚Coronarebellen‘ eingesetzt. Im Zuge dessen wird auch die Stimmung gegen Pressevertreter und Beobachter der Versammlungen aggressiver und feindseliger. So wurden zum Beispiel Fotos von Journalisten verbreitet und in einer Chatgruppe dazu aufgerufen, „Kopfgeld-Plakate“ in der Stadt aufzuhängen. Beobachter solcher Kundgebungen wurden mehrfach von Teilnehmern auf aggressive Weise angesprochen, angeschrien und zum Teil körperlich angegriffen. Meist wurde dabei mit rechtlichen oder körperlichen Konsequenzen gedroht, sollten etwa angefertigte Fotos veröffentlicht werden. Antisemitische Beiträge in Chatgruppen ernten nur selten Widerspruch.
Corona-Versammlungen und Post-Schoah-Antisemitismus
Der Post-Schoah-Antisemitismus, auch als sekundärer Antisemitismus bekannt, äußert sich in der Abwehr der Schuld am Nationalsozialismus, der Täter-Opfer-Umkehr oder verschiedenen Formen der Schoah-Relativierung bis hin zur Leugnung.
Die Teilnehmenden einer unangemeldeten Kundgebung am 23. Mai in Traunstein wurden von der Polizei darauf hingewiesen, dass die Versammlung sich auflösen müsse. Als direkte Antwort schrie ein Mann „Konzentrationslager!”. Niemand reagierte darauf.
Am 6. Juni sagte ein Redner in Augsburg über das Löschen von verschwörungsideologischen Inhalten auf Plattformen wie YouTube: „Früher gab es mal ein Propagandaministerium, da gab’s auch eine Wahrheit, zum Beispiel ‚Kauft nicht bei Juden!“. Damit setzte er das Vorgehen solcher Anbieter gegen Fake News mit der nationalsozialistischen Politik der Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung gleich.
Am 29. Mai verharmloste auch in Bamberg eine Redner die Schoah: „Wenn ich mir das vorstelle mit dem angeblich kommenden Immunitätsausweis, dass ich dann ohne Impfung eine Gefahr für die anderen Menschen bin, nicht mehr Reisen oder ins Schwimmbad darf, dann sind wir bald so weit wie 1933, wo eine kleine Gruppe, die anders dachten oder eine andere Religion hatten, ausgegrenzt wurde.“ Ihm wurde dafür applaudiert.
Ähnliche Äußerungen fielen auch am 23. Mai, ebenfalls in Bamberg sowie in Augsburg. Auch wurden wieder ‚Judensterne‘ mit Inschriften wie „nicht geimpft“ getragen, so etwa am 23. Mai in Nürnberg. Damit stellen sich die Menschen als Opfer dar, wie es die Juden im Nationalsozialismus waren und verharmlosen damit die Schoah.
Eine Teilnehmerin in Augsburg trug am 6. Juni zum zweiten Mal ein Schild mit der Aufschrift: „Heute Maulkorb und morgen impfen in Dachau?“, eine Anspielung auf das erste Konzentrationslager im Nationalsozialismus.
Bereits im 19. Jahrhundert war der Impfgegnerschaft, die auch auf den Demonstrationen der „Corona-Rebellen“ anzutreffen ist, häufig Antisemitismus inhärent. So erschien 1881 die einflussreiche Kampfschrift „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“ von Eugen Dühring, einem der wichtigsten Vordenker des späteren Nationalsozialismus und der mit ihr verbundenen Rassenlehre. In ihr behauptete er, das Impfen sei ein Aberglaube, von jüdischen Ärzten aus Gründen der persönlichen Bereicherung erfunden. Der RIAS Bundesverband hat eine Analyse des Geschichtsbildes auf Versammlungen gegen die Coronamaßnahmen veröffentlicht.
Corona-Versammlungen und verschwörungsideologischer Antisemitismus
Auch Verschwörungsmythen sind ein integraler Bestandteil des modernen Antisemitismus. Im Kontext der Coronapandemie wird immer wieder von einer angeblichen weltweiten Verschwörung gesprochen, die die Geschicke der Welt steuere und „normalen“ Menschen durch ihre List und geheime Macht überlegen sei. Dies entspricht dem Grundmuster antisemitischer Vorstellungen und kann an die alte antisemitische Legende von der ‚jüdischen Weltverschwörung‘ anknüpfen, auch wenn sie nicht explizit als ‚jüdisch‘ benannt wird.
Die Pandemie, die etwa als ‚Fake Pandemie’ bezeichnet wird, sei etwa ein großes Täuschungsmanöver, um einen angeblichen Geheimplan zur Installation einer so genannten Neuen Weltordnung (NWO) durchzusetzen, die Weltbevölkerung zu reduzieren oder den Menschen durch angebliche ‚Zwangsimpfungen‘ Microchips einzupflanzen, um sie zu kontrollieren.
Am 6. Mai behauptete beispielsweise eine Rednerin in Bamberg, dass David D. Rockefeller, der in antisemitischen Verschwörungserzählungen immer wieder auftaucht, 1994 folgendes gesagt haben soll: „Alles, was wir benötigen, ist die eine, richtig große Krise, und die Nationen werden die Neue Weltordnung akzeptieren.“ Mit diesem falschen Zitat wird nahegelegt, dass die Coronakrise eben diese Krise sei und von einer geheimen Elite, zu der Rockefeller gezählt wird, derzeit inszeniert werde, um diese ‚Neue Weltordnung‘ durchzusetzen. Später fragte sie: „Könnte es sein, dass wir manipuliert wurden, nicht nur in den letzten Wochen und Monaten, sondern vielleicht sogar die letzten Jahre und Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte?“ und rekurriert damit auf das alte antisemitische Bild der jüdischen Weltverschwörung, die seit Jahrhunderten heimlich die Geschicke der Menschheit steuere.
In die gleiche Kerbe schlug ein Demonstrationsteilnehmer am 30. Mai in München. Auf die Frage „Und glauben Sie, dass es auch Verschwörungspraktiker gibt?“ und wer diese seien antwortet er: „Natürlich, das fängt vor 250 Jahren mit der Familie Rothschild und der Familie Rockefeller an und zieht sich bis heute durch". Wie Rockefeller ist auch der Name Rothschild im Antisemitismus eine klassische Chiffre für ‚die Juden‘, die diese Verschwörung betrieben.
Auf den Kundgebungen am 30. Mai und am 6. Juni in München wurden jeweils zwei Lieder abgespielt, die sich ebenfalls solcher Bilder einer Verschwörung bedienen. In einem heißt es über Journalisten:
„Ihr seid nicht mehr die vierte Gewalt, ihr leiht nicht mehr die Stimme dem Volk […] ohne Fragen kopiert ihr braven Medienhuren, […] ihr seid die Sprachrohrketten für die Reichsten der Reichen, seit 200 Jahren sind ihre Namen die gleichen, sie schließen die Wetten und sie stellen die Weichen, um Krieg anzuzetteln denn sie leben von Leichen.“
Weiter heißt es „Und die Marionetten sie zucken und zappeln“. Hier liegt, bewusst oder unbewusst, ein Spiel mit antisemitischen Bildern über eine angebliche jüdische Weltverschwörung vor, in denen Juden als Strippenzieher ‚ihrer Marionetten‘, etwa in Regierungen oder der Presse, gezeichnet werden. Diese seien nicht Vertreter oder Sprachrohr ‘des Volkes’, sondern nur willfährige Vollstrecker sinistrer (Kriegs-)Pläne geheimer Eliten. Diese sind im Antisemitismus als ‚jüdisch‘ konnotiert. Ohne es aussprechen zu müssen, kann ein Satz wie „seit 200 Jahren sind ihre Namen die gleichen“ diese alten antisemitischen Bilder evozieren, die tief im kulturellen Gedächtnis verankert sind.
Das zweite Lied besingt Bill Gates:
„Hallo Bill (…), Kontrollierst die Welt mit deinem Geld und Impfstoffbrause. (…) Zwangsreduktion (der Bevölkerung) in Produktion durch die Eliten, Gut getarnt, von langer Hand geplant in Satans Riten (…) Mit Epstein trinkt Bill Wein auf einer Insel. Jeff ist perdu, nie mehr Kindermenü für euch Gesindel. (…) Lass uns in Ruh mit deinen Plänen, neue Welt, fiktives Geld, das ist zum Gähnen”.
Hier sind gleich mehrere Versatzstücke aus antisemitischen Verschwörungserzählungen festzustellen. Gates kontrolliere durch angebliche ‚Zwangsimpfungen‘ die Welt und plane mit ‘den Eliten’ ‘in Satans Riten’ die Reduktion der Weltbevölkerung. Jeffrey Epstein war vor seinem Tod tatsächlich angeklagt, einen Ring zur sexuellen Ausbeutung von Minderjährigen unterhalten zu haben. Weil Epstein Jude war, vermischen sich hier reale Vorwürfe mit dem Adrenochrom-Mythos, der unter anderem von Xavier Naidoo verbreitet wird. Dieser besagt, mehr oder weniger offen jüdisch konnotierte, ‚satanistische Eliten‘ würden tausende von Kindern in geheimen unterirdischen Laboren gefangen halten, um ihnen das Stoffwechselprodukt Adrenochrom abzuzapfen und es zur eigenen Verjüngung einzunehmen. Darauf spielt das Wort ‘Kindermenü’ im Text an. Dieses Bild erinnert an die jahrhundertealte antisemitische Ritualmordlegende, Juden würden das Blut christlicher Kinder zum Backen von Mazze, ungesäuertem Brot, verwenden.
Auch die Schlagworte ‚neue Welt’, das auf die oben erwähnte angeblich einzurichtende ‚Neue Weltordnung’ anspielt, sowie ‚fiktives Geld’ sind aus antisemitischen Verschwörungsideologien bekannt. Das angebliche fiktive Geld stellt in solchen Gedankengebäuden einen Teil der angeblichen ‚Versklavung der Menschheit durch Zins und Zinseszins‘ dar, die wiederum jüdische Bankiers betrieben. Beispielsweise gehöre ihnen angeblich im Verborgenen die US-amerikanische Notenbank Federal Reserve (FED), die dieses fiktive Geld einsetze, um die Menschheit mit Schulden zu unterdrücken.
Juden werden im Antisemitismus mit der Zirkulationssphäre des Kapitals, etwa dem Zins, verbunden. Unverstandene Prozesse werden so im ‚Juden’ konkretisiert. Entsprechend unterschied der Nationalsozialismus zwischen einem guten ‚schaffenden’, weil produzierenden, Kapital, und einem bösen, weil zinsheckenden, ‚raffenden’ Kapital, obwohl tatsächlich Produktions- wie Zirkulationssphäre des Kapitals miteinander verflochten sind. Dieses Denken existiert bis heute fort, wie auch eine Rede auf einer Corona-Kundgebung in Augsburg gezeigt hat.
„1933–2020“ – Das Geschichtsbild auf Versammlungen gegen Corona-Maßnahmen in Deutschland
8. Mai 2020
RIAS Bundesweite Koordination„1933–2020“ – Das Geschichtsbild auf Versammlungen gegen Corona-Maßnahmen in Deutschland
Heute vor 75 Jahren kapitulierte Deutschland, der Tag der Befreiung für die Verfolgten und Gegner_innen des nationalsozialistischen Regimes. Für den größeren Teil der Deutschen war dieser Tag jedoch nicht der Tag der Befreiung, das Ende des Krieges wurde als Niederlage empfunden. Nach Ende des Krieges begann schnell die Abwehr der Schoa und der nationalsozialistischen Massenverbrechen im deutschen Erinnern). Raul Hilberg schrieb, dass in Deutschland „der Holocaust Familiengeschichte“ sei. Dennoch geben in einer aktuellen Studie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) 70 % der Befragten an, dass sie sicher sind keine Täter_innen unter ihren Vorfahren zu haben. 36 % meinen, ihre Vorfahren hätten potenziellen Opfern geholfen – angesichts der Schätzungen von 20.000 bis 200.000 Helfer_innen ein illusorischer Wert. Mehr als ein Drittel sind der Meinung, unter ihren Vorfahren waren Opfer des Nationalsozialismus, wobei 16 % „nie“ und 34 % „selten“ darüber innerhalb der Familie reden. Damit stellt sich die Frage, wie die individuelle Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und insbesondere der Schoa verläuft.
Ein anderer Aspekt der Erinnerung an die Schoa in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft findet sich derzeit auch im politischen Diskurs. Im Rahmen der Diskussion um einen Feiertag zum 8. Mai gab der Bundestags-Fraktionsvorsitzende der AfD Alexander Gauland an, dieses historische Ereignis wäre mit einem „Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“ einhergegangen und das „die in Berlin vergewaltigten Frauen (…) das ganz anders sehen (würden) als der KZ-Insasse“. Gauland bedient hier das Verlangen nach Selbstviktimisierung.
Es ist nicht verwunderlich, dass sich dieses Verlangen auch in Aggressionen und einer hohen Anzahl von antisemitischen Vorfällen gegen Orte des Gedenkens an die Schoa manifestiert. So zeigt auch der kürzlich vom Bundesverband RIAS veröffentlichte „Erste Bericht dokumentierter antisemitischer Vorfälle“ für die meisten im Bericht abgedeckten Bundesländern: Der Post-Schoa-Antisemitismus ist die am häufigsten vorkommende Erscheinungsform von Antisemitismus. Stereotype des Post-Schoa-Antisemitismus wurden im jeweiligen Bundesland laut RIAS Brandenburg in 55 % aller Vorfälle verwendet, laut RIAS Berlin in 46 % und laut Landesweite Informations- & Dokumentationsstelle Schleswig-Holstein (LIDA-SH) in 27 % der erfassten Fälle. Auch RIAS Bayern weist in ihrem Jahresbericht antisemitische Vorfälle 2019 aus, dass es in 47 % der erfassten antisemitischen Vorfälle Bezüge zum Nationalsozialismus oder zur Schoa gab. Auffallend ist, wie die in Berlin dokumentierten Fälle beispielhaft zeigen, dass diese Form des Antisemitismus in allen politisch-weltanschaulichen Spektren zu finden sind: Von den 404 antisemitischen Vorfällen mit Stereotypen des Post-Schoa-Antisemitismus, die RIAS Berlin 2019 erfasst hat, konnten zwar 142 keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden (35 %), jedoch gingen 166 von einem rechtsextremen Spektrum (41 %), 25 von der politischen Mitte, 25 aus dem Spektrum des antiisraelischen Aktivismus sowie 23 von verschwörungsideologischen Milieus aus (jeweils 6 %). Auch in fünf Vorfällen mit islamistischem und drei Vorfällen mit links-antiimperalistischen Hintergrund war dies der Fall. Zu den nicht zugeordneten Vorfällen zählten z.B. mehrere gezielte Sachbeschädigungen auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee im Mai.
Vom Netz auf die Straße: Post-Schoa-Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus
Aus dieser Gemengelage ist es nicht verwunderlich, dass in aktuellen politischen Debatten immer wieder Vergleiche mit der antisemitischen Politik im Nationalsozialismus gezogen werden, um sich selber als marginalisierte Gruppe zu inszenieren, ob im Bereich der Tierrechte („KZ-Hühner“), bei Impf-Gegner_innen (sog. „Judenstern“ mit Inschrift „Impfgegner“), Gegner_innen des Dieselfahrverbotes (sog. „Judenstern“ mit Inschrift „Dieselfahrer“) oder auch in der parlamentarischen Auseinandersetzung. Diese unangebrachten historischen Vergleiche und die Selbstinszenierungen als „Unterdrückte“ ist zur Zeit auch auf den bundesweit stattfindenden Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen anzufinden.
Solcher Post-Schoa-Antisemitismus äußert sich auch in bagatellisierenden historischen Vergleichen und in Selbstinszenierungen als scheinbar „Verfolgte“ im Netz und auf bundesweit stattfindenden Kundgebungen gegen die Corona-Maßnahmen. Bereits zu Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie fanden sich im Netz immer wieder Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder Darstellungen des sog. „Judensterns“. Seit Mitte April vertreibt etwa ein rechter Onlineshop aus Halle (Saale) einen Sticker in der Form eines sogenannten „Ungeimpft Judenstern“ – einen gelben Stern mit der Inschrift „ungeimpft“ – und schreibt dazu in der Produktbeschreibung: „Bald sind die Ungeimpften die Juden von heute. (...) Das # covid1984 Projekt offenbart sich immer mehr als Hoax. Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf!“ Diese in sozialen Netzwerken verbreiteten bagatellisierenden Analogien wurden dann schnell nicht mehr nur online geteilt, sondern fanden ihren Weg auf die Straße in den öffentlichen Raum.
Als Startpunkt dieser Entwicklung sind die „Hygiene-Demonstrationen“ in Berlin vor der Volksbühne festzustellen. Mobilisiert wurde zu diesen vornehmlich aus dem Spektrum der „Alternativen Medien“, die ein Sammelbecken für Aktivist_innen der Montagsmahnwachen 2014 und politisch rechts zu verordneten Akteuren im Internet bilden. Folgende antisemitische Vorfälle im Rahmen der ersten bundesweiten „Grundrechtsdemonstrationen“ am 2. Mai wurden dem Bundesverband RIAS bekannt:
- Freiburg, Baden-Württemberg: Ein Demonstrationsteilnehmer trug ein Schild, auf dem ein angedeuteter Torbogen von Auschwitz mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ dargestellt war.
- Ravensburg, Baden-Württemberg: In einer Rede hieß es: „Das was aktuell passiert, muss ich mit der Bücherverbrennung in einer sehr dunklen Zeit vergleichen. Hier wird zensiert, gelöscht und Webseiten von Systemkritikern von Netz genommen.“
- Stuttgart, Baden-Württemberg: Auf der wohl größten Veranstaltung an diesem Tag mit 5.000 Teilnehmer_innen tätigte ein Redner relativierende Vergleiche der derzeitigen Situation mit 1933. Zudem sagte er: „Wir dulden keinen neuen Holocaust, diesen ungetesteten Impfwahn, für deren Weltherrschaft.“
- Villingen-Schwenningen, Baden-Württemberg: Auf der Kundgebung wurde ein Schild mit der Aufschrift „Corona ökonomischer Holocaust“ gezeigt.
- Augsburg, Bayern: Eine Person trug ein Schild mit der Inschrift: „1. Notstandgesetze 2. Gleichschaltung – Medien 3. Diktatur 4. Endlösung der Coronafrage: Impfen“.
- München, Bayern: Eine Person trug um den Hals ein Schild mit der Aufschrift: „Grundrechte und Grundgesetz wieder in Kraft setzen! Schluss mit dem Corona-Faschismus“.
- Regensburg, Bayern: Eine Person trug eine Jacke mit dem Schriftzug „1933 – 2020 Aufwachen“. Eine weitere Person trug ein Mundschutz mit der Aufschrift „Impfen macht frei“.
- Berlin: Ein Demonstrationsteilnehmer trug eine Armbinde mit einem gelben Stern, auf dem „Jude“ stand.
- Darmstadt, Hessen: Auf der Kundgebung präsentierten einzelne Personen einen angepinnten sogenannten „Judenstern“ mit der Inschrift „ungeimpft“.
- Leipzig, Sachsen: Eine Person hielt eine Rede mit antisemitischen Chiffren und präsentierte dabei ein Schild mit der Aufschrift „1933: Reichstagsbrand, 2020: Covid-19 Staatsstreich“.
Für jüdische Überlebende der Schoa und deren Nachfahren sind die Zeit des Nationalsozialismus und die Schoa nicht ein abstrakter historischer Fakt, sondern Teil ihrer ganz privaten Familiengeschichte. Sie müssen sich mit den Erlebnissen und Folgen der Schoa auseinandersetzen - und zwar nicht nur vor 75 Jahren, sondern bis heute. Auch vor diesem Hintergrund müssen auch die aktuellen Vergleiche der Maßnahmen um die Corona-Pandemie mit dem nationalsozialistischen Regime und dem damals grassierenden Antisemitismus bewertet werden.
Antisemitische Vorfälle bei Online-Veranstaltungen
24. April 2020
RIAS Bundesweite KoordinationAntisemitische Vorfälle bei Online-Veranstaltungen
Im Zuge der aktuellen Coronapandemie hat sich das öffentliche Leben weitgehend ins Digitale verschoben. Eine viel größere Anzahl der Veranstaltungen findet nun online statt. Das bedeutet auch, dass der Antisemitismus, der vorher im Alltag offline sichtbar wurde, die Betroffenen nun häufig auf anderem Wege erreicht: indem er sich im Internet entlädt. Dem Bundesverband RIAS e.V. sind in den vergangenen Wochen bundesweit mindestens sieben Vorfälle bekannt geworden, bei denen Videokonferenzen von jüdischen und/oder Gedenkveranstaltungen gezielt antisemitisch gestört wurden. Umgangssprachlich werden solche Störungen als „Zoombombings“ bezeichnet.
SABRA Düsseldorf wurde ein Vorfall gemeldet, der sich am Abend des 19. April ereignete. Der Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf veranstaltete gemeinsam mit dem Chasan (Vorbeter) eine Videokonferenz zur Omer-Zählung und zum Abendgebet Ma’ariw. Zugeschaltet waren ca. 15-20 Gemeindemitglieder, als während der Ansprache des Oberrabbiners gegen 21:30 Uhr einige Unbekannte den virtuellen Konferenzraum betraten. Daraufhin wurde der Bildschirm weiß. Die Störenden zeichneten darauf zwei Hakenkreuze und schrieben „Hitler hatte recht“ auf Englisch. Es betraten immer mehr Personen die Konferenz, einige zeigten pornografische Inhalte. Der Rabbiner verließ die Konferenz und brach diese somit ab. Es wurde Anzeige bei der Polizei gestellt.
Am 20. April wurde ein Abendgebet der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, das auf einer Videokonferenz-Plattform abgehalten wurde, durch 8-10 Personen gestört. Der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen, als sich die Störenden – einige mit dem Usernamen „Hitler“ – in die Konferenz einwählten und auf Englisch fragten, ob es sich bei den Betroffenen um Jüdinnen_Juden handle. Der Rabbiner blieb ruhig und beendete den Stream, bevor weitere antisemitische Parolen gerufen werden konnten. Er zeigte die Störung bei der Polizei an.
Eine Online-Veranstaltung der Botschaft des Staates Israel in Deutschland wurde ebenfalls am 20. April gestört: Im Rahmen des öffentlichen Online-Meetings sollte am Vorabend des israelischen Schoa-Gedenktages Jom haSchoa ein Überlebender sprechen. Sein Vortrag hatte noch nicht begonnen, als mehrere Personen die Veranstaltung unterbrachen, indem sie zunächst ein Bild von Geflügel-Nuggets und dann pornographisches Material posteten. Die Störenden schrieben in den Chat der Videokonferenz antisemitische Beschimpfungen sowie mehrfach „Palestine, Palestine“. Auch ein Bild von Adolf Hitler wurde gepostet, bevor die Veranstalter die Übertragung beendeten. Die Veranstaltung konnte nach einer kurzen Unterbrechung fortgesetzt werden. Mehrere Medien berichteten über den Vorfall, die Berliner Polizei ermittelt.
Auch auf einer weiteren digitalen Gedenkveranstaltung anlässlich Jom HaSchoa am 20. April kam es zu einer antisemitischen Störung. Diese Veranstaltung wurde von einer in Berlin ansässigen Studentenorganisation für jüdische Student_innen und Young Professionals durchgeführt. Als eine Teilnehmerin die biografischen Erinnerungen einer Schoa-Überlebenden vortrug, unterbrachen mehrere Personen die Übertragung. Die als Jugendliche erkennbaren Täter_innen blendeten wiederholt eine Hakenkreuz-Grafik ein, spielten Musik und riefen „My main purpose is to exterminate all Jews […] and unite all German and non-Jewish people“ und „My name is Adolf Hitler“. Von anderen Stimmen war im Hintergrund „You die“ und „Jew, Jew, Jew…“ zu hören. Kurzzeitig war eine Person in einer Gesichtsmaske zu sehen, bevor die Störenden historische Filmaufnahmen von nationalsozialistischen Propagandaveranstaltungen einspielten. Die Veranstaltenden brachen die Videokonferenz ab und meldeten den Vorfall der Polizei und RIAS Berlin.
Einem Bericht der Jüdischen Allgemeine vom 23. April zufolge gab es im gleichen Zeitraum auch Vorfälle in Frankfurt: Zum einen wurde eine Online-Veranstaltung zweier orthodoxen Rabbiner aus Frankfurt am Main und Düsseldorf gestört. Betroffen war zudem eine Gruppe von etwa 15-jährigen Mädchen aus ganz Deutschland, die gemeinsam online Tora lernten.
Schon zu einem früheren Zeitpunkt war es zu vergleichbaren Vorfällen gekommen: So wurde am 3. April ein Kabbalat Schabbat einer Berliner Organisation, der online über eine Videokonferenz durchgeführt wurde, durch unbekannte Nutzer_innen mit antisemitischen Inhalten gestört. Die Teilnehmer_innen befand sich gerade in einer Andacht, weshalb die Videokonferenz stummgeschaltet war. Nachdem eine Person sich zunächst nur kurz zugeschaltet hatte, klinkte sie sich etwas später mit weiteren Nutzer_innen dazu. Die Täter_innen posteten zuerst rassistische und homophobe Inhalte in den Chat und teilten ihre Bildschirme mit der Konferenz, sodass pornografische Inhalte zu sehen waren. Als sie bemerkten, dass es eine jüdische Gruppe war, die sie störten, teilten sie verschiedene antisemitische Inhalte im Chat der Videokonferenz. Der Administrator hielt die Gruppe an, nicht auf die Bildschirme zu schauen und beendete die Sitzung schließlich nach einer zehnminütigen Störung.
Zudem kam es bereits am 9. April in einem Webinar einer in Berlin ansässigen Gedenkinitiative zu antisemitischen Störungen durch unbekannte Nutzer_innen. Die Organisation hatte via Social Media öffentlich zu einem Webinar eingeladen, um über die Regierungsbildung in Israel zu sprechen. Nach ca. 40 Minuten schalteten sich vier Nutzer_innen ein, die auf Englisch mit rassistischen und antisemitischen Inhalten störten. Auch in diesem Vorfall wurden pornografische Inhalte über den geteilten Bildschirm gezeigt. Das Webinar wurde daraufhin abgebrochen. Die Veranstaltenden zeigten später die Störung an.
Sollten Euch weitere Vorfälle von antisemitischen „Zoombombings“ oder Störungen von Online-Veranstaltungen bekannt werden, meldet diese Vorfälle bitte hier. Unterstützung und Beratung dazu, wie man solche Störungen vermeiden und mit ihnen umgehen kann, bieten mobile Beratungsstellen wie die MBR Berlin an.
Erinnerungsabwehr und Antisemitismus um den 27. Januar 2020
23. Februar 2020
RIAS Bundesweite KoordinationErinnerungsabwehr und Antisemitismus um den 27. Januar 2020
Zum 75. Mal jährte sich 2020 die Befreiung des Vernichtungs- und Konzentrationslagers Auschwitz. Rund um die Gedenkveranstaltungen anlässlich des „Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ kam es zu mehreren erinnerungsabwehrenden und antisemitischen Vorfällen wie Störungen von Gedenkfeiern, Verbreitung rechter und antisemitischer Propaganda oder Schmierereien und Beschädigungen an Erinnerungsorten für ermordete Jüdinnen_Juden und andere Opfer des Nationalsozialismus.
Insgesamt wurden RIAS – bundesweite Koordination 14 Vorfälle bekannt. In neun Fällen handelte es sich um gezielte Sachbeschädigungen, in weiteren fünf Fällen um verletzendes Verhalten.
Um den 27. Januar
Potsdam, Brandenburg: Vor einer Waldstadter Schule wurden mit Kreide mehrere rechte Sprüche auf den Gehweg geschmiert. Unter anderem hieß es: „Deutsche wehrt euch“, „Geld ist dein Gott“ und „Ein Pass macht dich nicht deutsch“.
27. Januar
Berlin-Friedrichshain: Die Titelseite der Zeitung „Der Tagesspiegel“, auf welcher Porträts von Schoa-Überlebenden abgedruckt waren, wurde in mehrere Teile zerrissen und in einer abschließbaren Werbevitrine am U-Bahnhof Frankfurter Allee „ausgestellt“.
Berlin-Mitte: Die an einem Stolperstein in der Almstadtstraße abgelegten Blumen sowie eine Kerze wurden nach sehr kurzer Zeit entfernt.
Berlin-Schöneberg: Am Kaiser-Wilhelm-Platz wurde der an das Vernichtungslager Trostenez erinnernde Schriftzug des Mahnmals „Orte des Schreckens“ beschmiert.
Forst (Lausitz), Brandenburg: In der Nacht wurde das Denkmal am Platz des Friedens, an dem am 27. Januar eine Kranzniederlegung stattfand, mit weißer Farbe beschmiert.
Neustrelitz, Mecklenburg-Vorpommern: Wenige Stunden nach einer Gedenkveranstaltung wurde das Mahnmal für die Opfer des Faschismus in der Marienstraße beschmiert.
Hannover, Niedersachsen: Auf die Gedenktafel zur Erinnerung an das Außenlager des KZ Neuengamme in Hannover-Ahlem wurde ein etwa fünf mal fünf Zentimeter großes Hakenkreuz gekratzt.
Essen, Nordrhein-Westfalen: An einem Plakat der Ausstellung „Survivors. Faces of Life after the Holocaust“ im Bahnhof Essen-West wurde ein Hakenkreuz geschmiert.
Pirna, Sachsen: Am Rande der Gedenkveranstaltung am Denkmal in der Grohmannstraße zeigte eine junge Frau den Hitlergruß.
Sondershausen, Thüringen: Am Mittag brachte ein Mann an der Gedenktafel für die 1938 geschändete und 1945 niedergebrannte Synagoge in der Bebrastraße einen Aufkleber mit antisemitischen Äußerungen an. Am nächsten Tag wurde ein weiterer Sticker am Schlossmuseum entdeckt.
28. Januar
Passau, Bayern: In der Nacht auf den 28. Januar wurden die am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus abgelegten Blumenköpfe abgerissen und zusammen mit Schleifen und Bändern verstreut. Ein Kranz wurde auf die Treppe zum Inn geworfen.
Velbert, Nordrhein-Westfalen: Über Nacht wurden die am Gedenkstein für die ermordeten Jüdinnen_Juden abgelegten Blumengestecke entfernt.
29. Januar
Rehlingen-Siersburg, Saarland: Das Mahnmal für die 1940 in das Lager Gurs verschleppten Jüdinnen_Juden neben der Martinskirche in Siersburg wurde beschädigt. Vier junge Bäume und ein Rosenstrauch, die zum Mahnmal gehören, wurden umgeknickt, herausgerissen oder abgesägt.
31. Januar
Weimar, Thüringen: Das zur Freiluftausstellung „Die Zeugen“ gehörende Porträt des KZ-Überlebenden Andrej Moisejenko wurde mit einem Hitler-Bart beschmiert.
Neben den genannten Vorfällen verbreitete Nikolai Nerling, auch bekannt als „der Volkslehrer“, ein angeblich am 27. Januar vor der Gedenkstätte KZ Neuengamme gedrehtes Video. Nerling filmte eintretende Besucher_innengruppen ab. Im Hauptteil nimmt er Presseberichte über das Gedenken zum Anlass, einen „Schuldkult“ zu imaginieren und eine Umdeutung und Bagatellisierung der Erinnerungskultur vorzunehmen. Bei einer ähnlichen Aktion in der Gedenkstätte Dachau im Februar 2019 sprach Nerling besuchende Schüler_innen direkt an und soll Aussagen wie „Glaubt nicht alles, was euch hier erzählt wird“ und „Das war alles nicht so schlimm, wie es hier dargestellt wird“ getätigt haben. Infolge dieser Aktion wurde Nerling im Dezember 2019 wegen Volksverhetzung und Hausfriedensbruch in erster Instanz verurteilt.
Antisemitische Reaktionen in sozialen Netzwerken im Kontext der Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit
9. Dezember 2019
RIAS Bundesweite KoordinationAntisemitische Reaktionen in sozialen Netzwerken im Kontext der Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit
Die seit dem 2. Dezember 2019 laufenden Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS) haben für Jüdinnen_Juden in Deutschland eine erschütternde und mitunter persönlich verletzende Debatte nach sich gezogen. Vielfach bewirkte diese Debatte, dass sich Jüdinnen_Juden wider Willens einer öffentlichen Diskussion stellen mussten, bei der sie die Angemessenheit ihres individuellen Gedenkens an ihre eigenen Angehörigen vor der postnationalsozialistischen Mehrheitsgesellschaft rechtfertigen mussten. In dieser Debatte kam es wiederholt zu einer Instrumentalisierung der Opfer der Schoa für eigene politische Zielstellungen. Eine empathielose und anmaßend geführte Diskussion kann bei Nachkommen der Opfer der Schoa im schlimmsten Fall zu retraumatisierenden Auswirkungen führen und gemachte Erfahrungen der Nichtzugehörigkeit verstetigen.
Auf Kritik aus der jüdischen Community an den aktuellen Aktionen des ZPS reagierten viele Unterstützer_innen mit zum Teil antisemitischen und bagatellisierenden Argumentationsmustern. In Kommentarspalten bei Facebook und Antworten auf Twitter kam es nach unserer Analyse wiederholt zu persönlichen Anfeindungen gegen jüdische Einzelpersonen oder Aktivist_innen.
Täter_innen-Opfer-Umkehr
Im Zuge der Kritik an den Aktionen des ZPS wurden kritische jüdische Stimmen wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert, nichts gegen den aktuellen Rechtsruck zu tun.
Am 4.12. auf Twitter, direkt an eine jüdische Journalistin, die sich vorher kritisch zu Aktion geäußert hatte:
„Was machst du um deiner Verantwortung gerecht zu werden?“Am 4.12. auf Twitter, an einen jüdischen Journalisten:
„Sind Sie genau so empört, wenn ein Asylbewerber von Nazis tätlich angegriffen wird?“Am 4.12. auf Facebook an eine jüdische Aktivistin:
„Jetzt werden hier die Mahnenden zu Tätern gemacht – unfassbar.“Übertragung von Verantwortung für gesellschaftliche Missstände
Immer wieder wurden dabei auch Stimmen laut, die der Aktion kritisch gegenüberstehenden Jüdinnen_Juden vorwarfen, nichts gegen Antisemitismus zu tun.
Am 3.12. auf Twitter an einen jüdischen Aktivisten:
„Hast du mal überlegt, was dein Großvater gewollt hätte?“Am 4.12. an einen jüdischen Journalisten:
„Warten wir still und ruhig bis zu nächsten Machtergreifung.“Am 5.12. auf Facebook an eine jüdische Aktivistin:
„Regt sich jemand auf, das im Elsass Auf französischer Seite jüdische Friedhöfe wirklich geschändet worden sind. Bis jetzt sah ich noch keinen Post dazu. Scheinheilige Doppelmoral ist das.“Am 5.12. auf Twitter an eine jüdische Funktionärin:
„Die jüdischen Verbände in Deutschland fordern immer lauter Es muss mehr Geschichtsbildung in Schulen geben. Jetzt wurde mehr Geschichtsbildung von denselben Verbänden blockiert. Kann Mensch sich nicht ausdenken!“Anmaßende Projektion moralischer Überlegenheit auf Kosten von Jüdinnen_Juden
Den Nachfahren von Opfern der Schoa wurde wiederholt vorgeworfen, sich selber nicht um die Schicksale der ermordeten Familienmitglieder gekümmert zu haben. Viele stellten das ZPS als den alleinigen Akteur dar, der sich um die Würde der Opfer der Schoa kümmert. Hierzu trug die Selbstinszenierung des ZPS bei, indem sie gerichtet an die Nachkommen ‚Wertschätzung‘ für ihre Aktion einforderten. So schrieb ZPS auf Twitter: „Wir hoffen, dass die Angehörigen wertschätzen können das wir die Opfer des Holocaust der Lieblosigkeit entrissen haben.“ (sic). Dieses Argument wurde dann vielfältig gegen Angehörige der Opfer der Schoa eingesetzt.
Am 2.12. auf Twitter an einen jüdischen Aktivisten:
„Wäre es dir lieber, die, Asche deines Großvaters wäre weiterhin unter einem Feldweg oder Bahndamm als Füllmaterial begraben?“Am 2.12. auf Twitter an zwei erkennbar jüdische Personen:
„Wäre die Asche denn vergessen im Damm besser aufgehoben?“Am 4.12. auf Twitter an einen jüdischen Journalisten:
„Irgendwo auf dem Feld, in Dämmen verbaut oder auf Müllkippen verstreut lag die Asche natürlich viel würdevoller …“„Jüdische Sonderrolle“
In sozialen Netzwerken wurde wiederholt Jüdinnen_Juden vorgeworfen, sie würden die Meinungen Angehöriger anderer Opfergruppen im Holocaust ignorieren und eine „Sonderrolle“ für sich beanspruchen:
Am 3.12. auf Twitter an einen jüdischen Aktivisten:
„Die Meinung der anderen Opfergruppen interessieren dich offensichtlich nicht. Warum eigentlich?“Am 5.12. auf Twitter an eine jüdische Journalistin:
„Sie benutzen ihren Urgroßvater auch gerade… Es scheint okay zu sein wenn es jüdische Menschen mit Ihren Vorfahren machen …“Am 5.12. auf Twitter an einen jüdischen Journalisten:
„Das Leid von Millionen zum persönlichen Eigentum und nem ‚Vorrecht‘ auf Meinungshoheit zu machen, ist ne zienmlich miese Nummer.“Am 5.12. auf Facebook an eine jüdische Aktivistin:
„Ganz ehrlich - ich wünsche mir von „weißen“, den selben Aufschrei, wenn es um die Geschichte des Genozid der Nativen und Schwarzen handelt! Als wenn es sich um ‚weiße‘ jüdisch Gläubige handeln würde …“Verwendung von NS-Sprache
Im Kontext der Kunstaktion des ZPS wurden teilweise auch Begriffe genutzt, die durch den Nationalsozialismus geprägt sind. So wurde laut dem ZPS die Aktion von „ihrem Sonderbetonkommando“ durchgeführt. Der Begriff „Betonkommando“ bezeichnete ein Arbeitskommando von Insassen von Auschwitz-Monowitz, die gezwungen wurden, „15 bis 30 m unter der Erde gelegene Bunker zu errichten, die als Luftschutzunterstände dienten. 1944 arbeiteten in diesem schweren Kommando 35 jüdische Kinder aus Ungarn im Alter von acht bis zwölf Jahren“. Zudem aktualisierte ZPS im Zuge der aktuellen Aktionen seine Selbstbeschreibung und bezeichnete sich nun als „Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit“. Im Lichte der Aktion erscheint die Verwendung dieses militaristischen Begriffs mehr als fragwürdig.
Antisemitische Vorfälle rund um den 9. November
18. November 2019
RIAS Bundesweite KoordinationAntisemitische Vorfälle rund um den 9. November
2019 jährten sich die Novemberpogrome von 1938 zum 81. Mal. Auch dieses Jahr kam es zu zahlreichen antisemitischen Vorfällen. Hierzu zählten antisemitische Störungen von Gedenkveranstaltungen, gezielte Sachbeschädigungen von Erinnerungsorten und Gedenkzeichen für Opfer der Schoa und antisemitische Versammlungen. Eine besondere Rolle nahm ein rechtsextremer Aufmarsch am 9. November in Bielefeld ein.
Insgesamt dokumentierte Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – bundesweite Koordination 25 antisemitische Vorfälle, die zwischen dem 1. und dem 16. November geschahen und einen direkten oder indirekten Bezug zum Gedenktag bzw. zur Erinnerung an die Novemberpogrome haben. Acht dieser Vorfälle standen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem geschichtsrevisionistischen Aufmarsch der Neonazi-Kleinstpartei Die Rechte in Bielefeld am 9. November. Alle Vorfälle sind dem Post-Schoa Antisemitismus zuzuordnen, wobei in drei der Vorfälle auch Stereotype des israelbezogenen Antisemitismus, in zweien des modernen Antisemitismus und in einem Vorfall ein Stereotyp des antisemitischen Otherings verwendet wurden.
Bei den 25 Vorfällen handelt es sich um einen Angriff, sechs gezielte Sachbeschädigungen, eine Bedrohung und 17 Fälle von verletzendem Verhalten. Die letztgenannten Fälle beinhalten vier antisemitische Versammlungen am 8. und 9. November. Drei dieser Versammlungen sind als rechtsextrem einzustufen, eine dem antiisraelischen Aktivismus zuzuordnen. Insgesamt wurden elf Vorfälle dem rechten Spektrum zugeordnet. Je ein Vorfall wurde als links-antiimperialistisch und als antiisraelischer Aktivismus eingestuft. Die verbliebenen zwölf Vorfälle konnten nicht einem eindeutigen politischen Spektrum zugeordnet werden.
Vorfälle im Zusammenhang mit dem Neonazi-Aufmarsch am 9. November in Bielefeld
Wie schon im vergangenen Jahr fand in Bielefeld anlässlich des 91. Geburtstags der Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck-Wetzel ein Aufmarsch statt, organisiert durch die Neonazi-Kleinstpartei Die Rechte. Im Vorfeld gab es einige Kontroversen um ein Verbot des Aufmarschs am Jahrestag Novemberpogrome. Während das Verwaltungsgericht in Minden das Verbot des Marsches durch die Polizei u.a. mit der Begründung, die inhaltliche Ausrichtung weise „keine Stoßrichtung gegen das Gedenken an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft“ auf, wurde die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bielefeld in einem Zeitungsartikel mit der Frage zitiert: „Wie schrecklich ist es, dass zum Beispiel am 9.11. Die Rechte in Bielefeld aufmarschieren darf, weil die Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck im Gefängnis einsitzt?“
Am Aufmarsch beteiligten sich etwa 230 Personen (etwa halb so viele wie 2018), die neun Transparente mit sich führten, davon wurde auf sieben von diesen „Freiheit für Ursula Haverbeck“ gefordert. Unter den Parolen „Hoch die nationale Solidarität“, „Alles für Volk, Rasse und Nation“ sowie „Haverbeck freilassen“ liefen die Neonazis vom Bielefelder Hauptbahnhof zur Zwischenkundgebung am Verwaltungsgericht und wieder zurück. Einzelne Teilnehmer_innen trugen T-Shirts der Partei „Die Rechte“, auf denen „Freiheit für Haverbeck“ gefordert wurde. Daneben wurden Postkarten für die Inhaftierte sowie Blumensträuße ausgegeben.
Zu Beginn des Aufmarsches wurde neben den Auflagen auch ein Grußwort von Haverbeck verlesen.
Auf der Zwischenkundgebung wurden insgesamt sechs Redebeiträge gehalten. Ein Vertreter des rechtsextremen geschichtsrevisionistischen Vereins Gedächtnisstätte Guthmannshausen sagte: „Weg mit dem obsoleten verfassungswidrigen und nichtigen § 130 StGB. Zu dieser Forderung gehört auch die Freilassung der über diesen Paragraphen verurteilten über tausend politischen Gefangenen in Deutschland, allen voran Ursula Haverbeck, die man mit ihren nunmehr 91 Jahren glaubt, mit ihren berechtigten Fragen so zum Schweigen zu bringen.“ Ein langjähriger Neonazi-Aktivist und ehemaliger NPD-Funktionär begann seine Rede mit einer Anspielung auf die letztjährige Demonstration mit der Aussage „Auschwitz – ich hätte da mal eine Frage“. Derselbe Redner weiter: „Also der Propagandasender der blutigsten und mörderischsten Form des Bolschewismus, der Millionen und Abermillionen Opfer gefordert hat, dass da dieser Radiosender gemeldet hat, einige Tage nach Kriegsende, dass in Auschwitz-Treblinka [sic] sieben Millionen Juden umgebracht wurden – sieben Million Menschen – von Juden haben die nicht einmal gesprochen. […] Wie kommt denn dieser kommunistische Terrorsender Radio Moskau dazu, solch eine Zahl von sieben Millionen in Treblinka, nur einige Tage nach Kriegsende zu verbreiten? […] Könnte es nicht auch einige Tage nach Kriegsende eine kommunistische Propagandazahl sein? Müsste man da nicht mal hinterfragen?“ Ein dem Reichsbürger-Milieu nahestehender Sprecher, der schon beim Aufmarsch 2018 die letzte Rede hielt, sprach von „eine[r] sechs-Millionen-Opfer-Theologie, mit der [Jüdinnen_Juden] bereits Jahrzehnte vor Hitlers Machtergreifung an die Öffentlichkeit traten.“ An einer anderen Stelle bezeichnete er den rechtsextremen Terroranschlag an Yom Kippur in Halle als eine Inszenierung. Nach der Zwischenkundgebung marschierten die Neonazis zurück zum Hauptbahnhof, wo die Versammlung beendet wurde.
Im Vorfeld sind im Zusammenhang mit den Mobilisierungsbemühungen für den Aufmarsch weitere antisemitische Vorfälle bekanntgeworden.
Am 1., 2. und 3. November wurden im Bielefelder Stadtgebiet jeweils Werbeflyer für den Aufmarsch ausgelegt. Auf den Flyern wurde die Freilassung Haverbecks gefordert.
Ebenfalls am 3. November stellten sich mindestens fünf Personen vor das Gebäude der JVA Bielefeld-Brackwede, in welcher Haverbeck ihre Haftstrafe verbüßt, und präsentierten ein Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für Haverbeck“. Eine weitere, ähnliche Aktion ist RIAS – BK bekannt.
Am 7. November wurden gezielt Werbeflyer für den Aufmarsch in Bielefeld vor der Synagoge in Minden ausgelegt.
Am 8. November sang ein bekannter rechtsextremer Video-Aktivist vor dem Gebäude der JVA Bielefeld-Brackwede ein Lied für Haverbeck und filmte sich dabei.
Störungen des Gedenkens und weitere antisemitische Vorfälle rund um den 9. November
In Tübingen (Baden-Württemberg) wurde am 5. November vor dem Denkmal zur Erinnerung an die 1938 zerstörte Synagoge auf den Boden gesprüht: „[Anarchiezeichen] FCK ISRL“.
Am Freitagmorgen, 8. November, pöbelten zwei Jugendliche in Nidda (Hessen) eine Frau, die einen Stolperstein reinigte, antisemitisch an.
Am gleichen Tag störten in Leipzig (Sachsen) Personen eine Gedenkinitiative bei der Reinigung der Stolpersteine. Sie drängelten sich durch die Menschenmenge, warfen die Kerzen um und zertraten die Blumen.
Am Abend wurden in München (Bayern) bei einer „PEGIDA München“-Kundgebung zwei Videos unkommentiert abgespielt, in denen antisemitische Stereotype verwendet wurden.
Am Samstagmorgen, 9. November, wurden Stolpersteine in Nordenham (Niedersachsen) beschmiert und mit antisemitischen Stickern überklebt vorgefunden.
In Leipzig (Sachsen) wurden Stolpersteine am Morgen des 9. November mit einer aufgebrachten Schlamm- und Dreckschicht beschmiert vorgefunden. Als eine Frau am frühen Nachmittag die Steine reinigen wollte, beschimpfte ein Mann sie antisemitisch. Er stellte sich vor ihr und sagte: „Solche Leute wie ihr fahren auch bald wieder mit dem Zug nach Auschwitz.“ Daraufhin ging er weiter.
In Bönen (Nordrhein-Westfalen) pöbelte am selben Tag ein vorbeigehender Mann Schüler_innen, die Stolpersteine reinigten, mit den Worten „Schon wieder die Juden, die sollte man alle vergasen!“ an.
Ebenfalls am 9. November verbreiteten be einer rechtsextremen Demonstration aus dem Reichsbürger_innen-Milieu in Berlin-Mitte mehrere Sprecher antisemitische Verschwörungsmythen. So behauptete ein Redner mehrfach, Deutschland würde von „Zionisten“ regiert.
Am selben Tag wurde – wie schon in den Vorjahren 2017 und 2018 – ebenfalls in Berlin-Mitte auf einer Kundgebung aus dem Umfeld von BDS Berlin Israel als „Apartheid“ delegitimiert.
Am Nachmittag des 9. November griff eine Gruppe von ca. fünf Personen eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Novemberpogrome in Arnstadt (Thüringen) an. Die Gruppe, die anscheinend von einem Fußballspiel kam, rief den 25 Gedenkenden, darunter auch Kinder, Sätze wie „Wir sind Deutsche und ihr nicht!“, „Ihr nehmt den wahren Deutschen ihren Ehrentag weg!“ und „Ihr spuckt auf die Gräber unserer Großväter!“ zu. Erst als zwei Personen aus der Gruppe Teilnehmende der Veranstaltung auch körperlich angriffen, griffen die umstehenden Polizist_innen durch den Einsatz von Pfefferspray ein, mit dem sie auch Teilnehmer_innen der Gedenkveranstaltung verletzten.
Am frühen Abend des 9. Novembers wurde die Gedenkveranstaltung in Wolfenbüttel (Niedersachsen) von einem Autofahrer gestört, der mehrmals laut hupend daran vorbeifuhr.
In Merseburg (Sachsen-Anhalt) wurden am Abend desselben Tages an einem geputzten Stolperstein Rosen zertreten und Kerzen entwendet vorgefunden. Nachdem die Gedenkenden neue Kerzen und Rosen aufstellen, wurden diese kurze Zeit später erneut zerstört.
Ebenfalls am Abend des 9. Novembers pöbelte ein Mitarbeiter einer Fast-Food-Kette Teilnehmer_innen einer Gedenkdemonstration in Berlin-Moabit mit den Worten „Ja, aber was Israel macht, ist okay?“ an.
Am 10. November wurden kurz vor einer Gedenkveranstaltung in Erlangen (Bayern) in der Nähe des Jüdischen Friedhofs aus einer Schreckschusspistole Schüsse abgegeben.
Vor der regionalen Gedenkveranstaltung am 13. November wurden am jüdischen Friedhof bei Harzgerode (Sachsen-Anhalt) am Gedenkstein für die Opfer der Schoa geschmierte NS-Symbole (Hakenkreuze und Sig-Runen) vorgefunden.
Am 16. November wurde in Berlin-Prenzlauer Berg festgestellt, dass am Gedenkort für das SA-Konzentrationslager am Wasserturm, in das auch Jüdinnen_Juden verschleppt wurden, die Informationstafel gezielt beschädigt wurde.
Antisemitische Vorfälle mit Bezug auf rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur
21. Oktober 2019
RIAS Bundesweite KoordinationAntisemitische Vorfälle mit Bezug auf rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur
In den Tagen nach dem Terroranschlag auf eine Synagoge in Halle wurden RIAS – bundesweite Koordination insgesamt 15 antisemitische Vorfälle mit unmittelbarem Bezug zur Tat bekannt. Die Vorfälle zeigen, dass sich unabhängig von der konkreten Verantwortung für den Anschlag zahlreiche Personen positiv auf den Doppelmord und den versuchten Anschlag auf Jüdinnen_Juden beziehen.
Am 9. Oktober, Jom Kippur, kam es in Halle zu einem rechtsextremen Terroranschlag: Nachdem es dem Täter, Stephan B., nicht gelang in die Synagoge einzudringen, tötete er zwei Menschen in deren unmittelbarem Umfeld. Im Innern der Synagoge mussten währenddessen mehr als fünfzig Personen mehrere Stunden verharren. Als Reaktion auf diesen antisemitisch-motivierten Anschlag organisierten Bürger_innen an mehreren Orten in der Bundesrepublik Gedenk- und Solidaritätskundgebungen. Während die meisten ohne eine Störung verliefen, wurden dem Projekt RIAS – Bundesweite Korrdination (RIAS-BK) über Meldungen sowie ein Online- und Pressemonitoring sieben gezielte Störungen und acht weitere antisemitische Vorfälle mit direktem Bezug zu den Ereignissen in Halle bekannt.
Bei den hier dokumentierten Vorfällen handelt es sich um einen Angriff, zwei gezielte Sachbeschädigungen, zehn Fälle verletzenden Verhaltens und eine Massenzuschrift. Ist bei zehn Vorfällen der politische Hintergrund unbekannt, sind vier Vorfälle dem rechten Spektrum und einer dem links-antiimperialistischem Spektrum zuzuordnen. Zehn der Vorfälle verwendeten Stereotype des antisemitischen Otherings, sieben die des Post-Schoa-Antisemitismus und fünf die des israelbezogenen Antisemitismus. Moderner bzw. verschwörungsideologischer Antisemitismus spielte in zwei Fällen eine Rolle.
9.10., Berlin-Mitte: Im Anschluss an eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Terroranschlags von Halle am Brandenburger Tor liefen die Teilnehmer_innen der Kundgebung geschlossen zu einer weiteren Kundgebung an der Synagoge in der Oranienburger Straße. Auf Höhe des S- und U-Bahnhofs Friedrichstraße zeigte eine Person dem Demonstrationszug den Hitlergruß. Die Polizei stellte umgehend die Personalien des Mannes fest.
9.10., Berlin, online: RIAS Berlin erhielt wenige Stunden nach dem Terroranschlag eine E-Mail, in der auf den Anschlag Bezug nehmend Massentierhaltung mit der Schoa verglichen wurde. Zudem hieß es, Jüdinnen_Juden würden „in Deutschland sehr anständig behandelt“.
9.10., Dortmund (Nordrhein-Westfalen): Während einer Schweigeminute für die Betroffenen des Terroranschlags beim Fußballländerspiel Deutschland gegen Argentinien fing eine Person im Publikum an, die deutsche Nationalhymne zu singen. Ein anderer Zuschauer rief lautstark: „Halt die Fresse“. Die Intervention war im ganzen Stadion deutlich zu vernehmen.
10.10., Oldenburg (Niedersachsen): Kurz nach dem Beginn einer Gedenkkundgebung fuhr ein Radfahrer gezielt in die Teilnehmenden. Während er auf die Personen zufuhr, schrie dieser aggressiv Unverständliches. Im Anschluss an den Angriff konnte der Radfahrer, der von Augenzeug_innen dem lokalen rechten Milieu zugeordnet wurde, flüchten.
10.10., Halle (Saale) (Sachsen-Anhalt): Der stadtbekannte rechte Aktivist, Sven L., störte bewusst ein angekündigtes stilles Gedenken, indem er gezielt am gleichen Ort eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn eine Kundgebung anmeldete. Er stellte sich auf einen kleinen Transporter und schrie in ein Mikrofon. L. verkauft im Internet unter anderem Sticker, um Stolpersteine für NS-Opfer zu überkleben, und Motive eines Davidsterns, der mit „AfD-Sympathisant“ oder „Dieselfahrer“ überschrieben ist.
10.10., Nürnberg (Bayern): Bei einer „Fridays for Future“-Kundgebung präsentierte ein Teilnehmer ein Schild mit der Aufschrift: „Wäre das Klima eine Synagoge…. Was für ein Aufschrei!!!“
11.10., Berlin, online: Ein Blogger verschickte an mehrere Adressat_innen, darunter auch eine jüdische Organisation, eine E-Mail, in der er einem Journalisten vorwarf, „die AfD mit dem virtuellen Judenstern zu etikettieren, um die NATO-Lösung der Deutschenfragevoranzutreiben“. Der Journalist hatte zuvor einen Kommentar über die Mitverantwortung der AfD am gesellschaftlichen Klima, das zum Anschlag führte, veröffentlicht.
11.10., Chemnitz (Sachsen): Vor der Synagoge versammelte sich eine Gruppe von Menschen, um an den Terroranschlag in Halle zu erinnern. In einer vorbeifahrenden Straßenbahn zeigte ein Mann in Richtung der Kundgebung gut erkennbar für die Teilnehmenden den Hitlergruß.
12.10., Oranienburg (Brandenburg): Vor dem Pokalspiel Oranienburger FC Eintracht 1901 und dem SV Babelsberg 03 wurde durch Anhänger_innen der Heimmannschaft die Gedenkminute durch Pfiffe gestört. Zudem berichtete ein Zeuge, dass während der Schweigeminute zwei augenscheinliche Gäste des Heimbereichs an den Toiletten sagten, der Täter von Halle hätte "mal weiter schießen sollen".
13.10., Gehrden in der Region Hannover (Niedersachsen): Ein Gedenkkranz für Halle wurde angezündet und ein Zettel mit Solidaritätsbekundungen dabei vernichtet. Der Kranz und der Zettel waren an der Gedenktafel für die zerstörte Synagoge abgelegt.
14.10., Kassel (Hessen): Zwei Personen nahmen in einer E-Mail an eine jüdische Institution den Terroranschlag zum Anlass, mit den Adressierten über Israel diskutieren zu wollen, und wiesen die in der Vergangenheit in der Öffentlichkeit durch Dritte vorgebrachte Kritik, ihre Positionen seien antisemitisch, von sich.
14.10., Berlin, online: Eine jüdische Person des öffentlichen Lebens, die einige Tage zuvor von einer Zeitung zu dem Terroranschlag interviewt wurde, erhielt eine Nachricht über ein Web-Kontaktformular. Darin wurde die Verantwortung der Jüdinnen_Juden für den Antisemitismus impliziert.
15.10., Berlin-Mitte: Auf eine der Stelen des Denkmals für die ermordeten Juden Europa wurde mit roter Schrift „Free Stepi“ geschmiert. Der Zeitpunkt und der Inhalt der Schmiererei legen nahe, dass es sich um eine Solidarisierung mit dem Attentäter Stephan B. handelt.
15.10., Denzlingen (Baden-Württemberg): Unbekannte schmierten „Juden töten ist geil – danke an Halle 2019“ auf die Rückwand der Treppe zur Unterführung am Bahnhof.
15.10., Berlin, online: Eine jüdische Institution erhielt eine E-Mail, in der der Verfasser auf Halle Bezug nahm, um gleich daraufhin Jüdinnen_Juden die Verantwortung für Antisemitismus zuzumessen. Zudem schrieb der Verfasser: „Ich bin Rentner und habe Angst vor Juden.“
Die hier dokumentierten vielfältigen Formen der antisemitischen Abwehr des Gedenkens an die Opfer und Überlebenden des Anschlags zeigen: In seinen antisemitischen Überzeugungen ist Stephan B. nicht alleine, sie werden von Menschen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen aus ganz Deutschland geteilt und zur Legitimation verschiedenster antisemitischer Handlungen genutzt. Dies belegen nicht zuletzt auch die zahlreichen antisemitischen Reaktionen, welche die Berichterstattung zum Terroranschlag beispielsweise in den sozialen Medien hervorrief.
Antisemitische Störung bei „Seret Filmfestival“
9. September 2019
RIAS BerlinAntisemitische Störung bei „Seret Filmfestival“
In einem Kino in Berlin-Charlottenburg sollte am Samstag die Filmvorstellung des Netanjahu-kritischen Films „King Bibi“ inklusive einer Diskussion mit dem Regisseur stattfinden. Die Veranstaltung fand im Rahmen des deutsch-israelischen Film- und Fernsehfestivals „Seret International“ statt, das auch von mehreren Sponsoren unterstützt wird, die sich kritisch gegenüber der derzeitigen israelischen Regierungspolitik positionieren.
Im Vorfeld: Kundgebung gegen das Festival am 5. September
Der Störung vorrausgegangen war bei der Eröffnung des Filmfestivals eine BDS-Kundgebung von ca. 10 Personen vor dem Eingang des Kino Babylon in Berlin-Mitte. Dabei präsentierten die BDS-Aktivist_innen ein Transparent, auf dem das Staatswappen Israels durchgestrichen war. Daneben stand auf Englisch und Hebräisch die Parole „Say no to Apartheid“, mit der Israel dilegitimiert wurde. Auch wurden entsprechende Parolen gerufen.
Die Choreographie der Störung am 7. September
Am vergangen Samstag betraten nach dem Beginn des Films nach und nach Personen den Filmsaal, die später an den Störaktionen beteiligt waren. Sofort mit dem Start der Diskussionsrunde startete eine choreographierte Störung der Veranstaltung. Zuerst stand eine Person auf und schrie dabei Israel delegitimierende Slogans und bezeichnete in homogenisierender Weise alle am Festival beteiligten Organisationen als Teil einer „Zionist Entity“. Der Bitte, den Raum zu verlassen, kam er nicht nach.
Als der BDS-Aktivist letztendlich den Raum verlassen hatte, stellten sich zwei Personen vor die Leinwand, die ein Transparent mit der Aufschrift „No Kultur (sic) in whitewashing Apartheid“ präsentierten. Währenddessen standen zwei Personen im Publikum auf und lasen einer Liste arabischer Namen vor, zudem riefen sie auf Deutsch „Faschisten“. Sie verweigerten sich jeglicher Diskussion und reagierten nicht auf Bitten der Festivalleitung, den Raum zu verlassen.
Eine sechste Person blieb im Publikum und versuchte später, Teilnehmer_innen der Veranstaltung zu fotografieren.
Das „Seret Filmfestival“ war schon 2017 betroffen von einer Störaktion durch BDS-Aktivist_innen
Bereits im Oktober 2018 wurde eine Filmvorführung beim „Seret Filmfestival“ im Kino Babylon, teilweise durch die selben Personen, gestört. Damals präsentierten vor der Vorführung eines Films über die Schoa während der Vorschauen zwei Personen ein Transparent mit der Aufschrift „No Culture in whitwashing Apartheid“. Auch in ihren Parolen deligitimerten sie Israel als „Apartheid“. Eine weitere Person befand sich im Publikum, um die Aktion zu dokumentieren.
Die beiden damals beteiligten BDS-Aktivist_innen, von denen eine Person auch an der Störung am vergangenen Samstag beteiligt war, hatten bereits im Juni 2017 in der Humboldt-Universität eine Veranstaltung mit einer Schoa-Überlebenden gestört.
In den beschriebenen Fällen stand im Mittelpunkt der BDS-Aktionen die Behinderung des Ablaufs der jeweiligen Veranstaltung: Sie verweigerten sich jeglicher Diskussion und verfolgten als einziges Ziel, das Event zu sprengen. Dabei ignorierten sie Aufforderungen der Veranstalter_innen, die Räume zu verlassen, und nahmen physische Auseinandersetzung in Kauf oder suchten diese.
Israelfeindschaft und Antisemitismus zur Pride Week 2019 in Berlin
1. August 2019
RIAS BerlinIsraelfeindschaft und Antisemitismus zur Pride Week 2019 in Berlin
Das Monitoring verschiedener Veranstaltungen und die Auswertung von Vorfall Meldungen, die RIAS Berlin in den vergangenen Tagen erreicht haben, zeigt: Im Rahmen der Berliner Pride Week 2019 kam es in Berlin zu deutlich weniger antisemitischen Vorfällen als in den Jahren zuvor. Ausnahmen bildeten Auseinandersetzungen um den „Radical Queer March“ in den Sozialen Medien sowie das Agieren von Personen aus dem Spektrum des israelfeindlichen Aktivismus bei der Demonstration selbst.
Keine Vorfälle beim Motzstraßenfest und bei Filmnacht bekannt
In den vergangenen Jahren wurden der RIAS Berlin von Veranstaltungen, die im Rahmen der jährlichen Pride Week stattfanden, immer wieder antisemitische Vorfälle gemeldet. Diese gingen in der Mehrzahl von Gruppen oder Personen aus, die dem Milieu des israelfeindlichen Aktivismus zuzurechnen waren. Die Vorfälle reichten in ihrer Qualität dabei von verletzendem Verhalten wie antisemitischen Aufklebern oder Schmierereien bis hin zu Angriffen auf Personen, die israelische Symbole an sich trugen.
Erfreulicherweise wurden der RIAS Berlin im Jahr 2019 weder vom Motzstraßenfest in Schöneberg, noch von der „Israeli Queer Movie Night“ im Kino Babylon in Mitte Vorfälle bekannt. Allerdings wurde eine antisemitische Beleidigung gegenüber Personen gemeldet, die den CSD gerade verlassen hatten.
Online-Mobilisierung gegen CSD und Radical Queer March sowie für BDS
In den sozialen Medien wurde jedoch sowohl gegen den CSD als auch gegen den Radical Queer March aus dem Umfeld der BDS - Bewegung mobilisiert. Blieb diese Mobilisierung im Falle des CSD wirkungslos, sah dies beim Radical Queer March anders aus: Die Organisator_innen der Demonstration hatten am 15. Juli auf Facebook auf Nachfrage angekündigt, dass sie „bei dem March keine antisemitischen Gruppen und Inhalte, dementsprechend auch den BDS nicht, tolerieren“ würden. Daraufhin gab es auf der Facebook-Seite der Veranstaltung eine Vielzahl von Kommentaren von Personen, die sich für BDS aussprachen. Zahlreiche dieser Kommentare sind dem israelbezogenen und dem Post-Schoa Antisemitismus zuzuordnen, einige der Aussagen seien hier benannt: So hieß es in den in der Regel englischsprachigen Kommentaren beispielsweise, dass Israel faschistisch sei. Eine Person schrieb beispielsweise: „Ja, Israel ist ein faschistischer Staat der einen langsamen Genozid am palästinensischen Volk begeht. Das einzige was fehlt sind Gaskammern“. In diesem Sinne sprach ein_e User_in davon, dass Hitler Israel lieben würde. Eine andere Person behauptete, dass Deutsche heutzutage „Israel-Flaggen anstelle von Hakenkreuz-Flaggen schwenken“ würden. Ein_e weitere_r User_in schrieb: „Es gibt einen Grund, warum die zionistische Besatzung von Palästina mit deutschem Nazismus verbunden ist: David Ben Gurion und seine Freunde nutzten (…) GENAU die selben Mittel, die Nazi Deutsche (und Italiener) gegenüber jüdischen Menschen im jüdischen Holocaust nutzten.“ (alle Übersetzungen durch RIAS Berlin). Die Gleichsetzung israelischer Politik mit den Verbrechen der Nationalsozialisten ist eine Form der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr.
Verschiedene Einzelpersonen veröffentlichen schließlich einen Aufruf für einen „Queers for Palestine“-Block auf dem Radical Queer March, dem dann am Samstag, dem 27.Juli 2019 ca. 120 Teilnehmer_innen folgten. Von Teilnehmer_innen dieses Blocks wurden antisemitische Parolen gerufen sowie israelfeindliche und terrorverherrlichende Plakate gezeigt. So waren „From the River to the Sea, Palestine will be free“ und „No Pride in Apartheid“-Rufe zu hören. In diesen Parolen wird das Existenzrecht Israels bestritten und der jüdische Staat zum rassistischen Kolonialstaat dämonisiert.
Mindestens eine Person trug ein Plakat mit der Aufschrift „Solidarity with Khaled Barakat“ mit sich. Barakat ist Funktionär der Terrororganisation „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP). Erst 2014 hatten zwei PFLP Mitglieder in einer Synagoge in Jerusalem vier Rabbiner und einen Polizisten ermordet, ein weiterer Rabbiner starb an den Folgen des Anschlags. Die PFLP bekannte sich zu der Tat und bezeichnete sie als Form des Widerstandes, die verstärkt werden müsse.
Die Organisator_innen des „Queers for Palestine“ Blocks“ kündigten bereits an, auch nächstes Jahr „wieder zu kommen“. Ihren Protest beschrieben sie in einer nach der Demonstratoin veröffentlichten Erklärung als „spontan“, dankten aber zugleich der Gruppe „Berlin against Pinkwashing“ für deren Unterstützung. Diese Kleinstgruppe ist seit Jahren in Berlin aktiv, bei ihren Aktionen kam es in der Vergangenheit mehrfach zu antisemitischen Vorfällen.
Update: Das Organisationsteam des Radical Queer March hat am 1. August 2019 eine Stellungnahme zu den Vorfällen aus dem BDS-Block veröffentlicht. Demnach gab es „verschiedene Versuche von Mitgliedern des Orga-Teams mit Personen eine Übereinkunft über das Abnehmen von Nationalflaggen, Symboliken und Inhalten, die in Teilen antisemitisch waren, zu erwirken.“ In der Folge sei es zu „gewalttätigen Übergriffen gekommen - diese umfassten gezieltes Abfilmen von Personen, sexistische verbale Angriffe, wie auch körperlichen Angriffen“ gekommen. Darüber hinaus habe es „Störungen von Redebeiträgen“ gegeben, „die durch Rufe übertönt wurden, was als gewaltsam empfunden wurde“.
Qudstag-Marsch 2019
6. Juni 2019
RIAS BerlinQudstag-Marsch 2019
„Wir werden nicht zulassen, dass die Demo verboten wird, […] wir dürfen auch nicht Hizbollah-Flaggen zeigen und so verzichten wir auch drauf. Jeder weiß was Israel ist, jeder weiß auch, welche Leute wir lieben, aber wir können das nicht immer hier kundtun, sonst wird die Demo verboten. Also bitte, bitte haltet euch daran.“ – Jürgen Grassmann, Sprecher der ausrichtenden Quds-AG
Am diesjährigen Berliner Qudstag-Marsch vom Adenauerplatz bis zum Wittenbergplatz in Berlin nahmen zwischen 900 und 1.000 Personen teil. Das Motto der Demonstration lautete: „Für einen gerechten Frieden in Palästina und der Welt!“ Angemeldet waren 2.000 Teilnehmer_innen. Die tatsächliche Teilnehmer_innenzahl befindet sich damit in einer vergleichbaren Höhe wie in den letzten Jahren. Bekannt sind organisierte Anfahrten mit Bussen aus Hamburg, Hannover, Bottrop (über Dortmund), Münster, Aachen (über Düren) und Frankfurt am Main. Der antisemitische und israelfeindliche Charakter der Demonstration zog ebenfalls Personen aus dem links-antiimperialistischen, neonazistischen und verschwörungsideologischen Milieu an.
Eine Inszenierung für die Öffentlichkeit
Der diesjährige Qudstag-Marsch muss auch im Lichte der öffentlichen und medialen Debatten der vergangenen Tage und Wochen bewertet werden: So stand der Qudstag-Marsch im Vorfeld der Veranstaltung im breiten Fokus der medialen Öffentlichkeit. In mehreren Beiträgen wurde das Verbot des Marsches gefordert. Auch warf das Verbot der schiitischen libanesischen Terrororganisation Hizbollah im Vereinigten Königreich einen Schatten auf die Veranstaltung in Berlin. In der Konsequenz wurden die Rufe nach der Einstufung der gesamten Hizbollah als terroristische Organisation auch in Deutschland laut.
Folgerichtig standen in diesem Jahr die Verhinderung dieses Verbots des Qudstag-Marsches im Mittelpunkt des Agierens der Organisator_innen des Marsches, wie an einem Appell des Sprechers der ausrichtenden Quds-AG, Jürgen Grassmann, während des Marsches deutlich wird:
„Ich will nicht, dass zehn Leute wie Du einfach sagen, wir dürfen das [die Parole ‚Kindermörder Israel!‘, die per Auflage untersagt worden war, Anm. d. Verf.] nicht mehr sagen. Verzichtet doch einmal drauf, wir wissen doch sowieso was Israel ist. Wir wollen die Demo behalten, und ich bitte euch inständig, jeder der auch nur die Anzeichen hat, dem zuwider zu handeln, meldet den, der muss den Zug verlassen. Wir werden nicht zulassen, dass die Demo verboten wird, wir verzichten darauf. Wir dürfen auch nicht Hizbollah-Flaggen zeigen und so verzichten wir auch drauf. Jeder weiß was Israel ist, jeder weiß auch, welche Leute wir lieben, aber wir können das nicht immer hier kundtun, sonst wird die Demo verboten. Also bitte, bitte haltet euch daran. Allahu Akbar.“
An einem anderen Zeitpunkt brachte Grassmann es mit folgenden Worten auf den Punkt: „Wir haben eine Strategie. Wir wollen nicht, dass diese Demo verboten wird.“ Dieser „Strategie“ wurden auch die religiösen Anrufungen, also die Kommunikation nach innen (vgl. Auswertung 2018) untergeordnet: Vom Lautsprecherwagen selber kamen nur Mitglieder der Organisationsstruktur zu Wort sowie bei der Abschlusskundgebung in einem „Interview“ ein Mitglied der jüdisch-ultraorthodoxen Gruppe Neturei Karta, die das Existenzrecht Israels nicht anerkennt.
Ziel der Organisator_innen war es, stärker die Kontrolle über die Außenwirkung des Marsches zu behalten. Dabei wurde am Konzept der zurückliegenden Qudstag-Märsche angeknüpft und sich stärker auf Debatten der deutschen Mehrheitsgesellschaft bezogen. So wurden einheitliche Plakate mit dem Hashtag „# niewieder“ verteilt oder Argumentationsfiguren, die von der antisemitischen BDS-Kampagne genutzt werden, aufgegriffen. Nichtsdestotrotz befanden sich in den vorgegebenen Parolen und auf Schildern zahlreiche antisemitische Inhalte.
Im Gegensatz zu den Jahren zuvor nahmen keine offen erkennbaren schiitischen Geistlichen am Marsch teil. Ein Grund hierfür könnte die Sorge der Würdenträger um den Fortbestand der jeweiligen Finanzierungen ihrer Institutionen sein. So gab es 2018 insbesondere in Hamburg eine umfassende öffentliche Kritik an der Teilnahme von Führungspersonen des Islamischen Zentrums Hamburg (IZH) wie dem stellvertretenden Leiter, Seyed Mousavi, oder dem Sprecher des IZH und Leiter der Islamischen Akademie Deutschland Hamidreza Torabi.
Antisemitismus auf den neuen „offiziellen“ Schildern und in Parolen
Bereits einige Tage vor der Demonstration wurden auf der Webseite der Organisator_innen Bilder von Plakaten veröffentlicht, die auf dem Qudstag-Marsch mitgeführt wurden. Können diese Plakat-Vorgaben als Teil des Versuches gedeutet werden, die Außendarstellung der Demonstration stark zu bestimmen, finden sich in diesen „offiziellen“ Plakaten und Schildern dennoch antisemitische Stereotype: So wird Israel als ein rassistisches Unterfangen bezeichnet und delegitimiert, wenn es beispielsweise heißt: „Zionismus ist Rassismus – Stop Apartheid Israel“. Dass Israel nicht als legitimer Staat wie alle anderen auch betrachtet wird, zeigt sich unter anderem, wenn der jüdische Staat auf einem Plakat nur in Anführungszeichen geführt wird: „‚Israel‘ ist das einzige Regime der Welt, das Kinder strafrechtlich verfolgt und in Militärgerichten verurteilt!“ Entsprechend fanden sich in vom Lautsprecherwagen aus vorgetragenen, von den Teilnehmer_innen erwiderten Parolen antisemitische Versatzstücke. So wurde Israels Politik im Zuge einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr in die Nähe der Vernichtungspolitik der Nazis gerückt und Israel damit dämonisiert, wenn es heißt: „Menschen deportiert, Merkel salutiert!“ In einer Parole wurden antisemitische Verschwörungsmythen bedient und suggeriert, die Debatte über Antisemitismus sei ein jüdisches Täuschungsmanöver: „Judenhass ist die List, Maske runter, Zionist!“
Antisemitische Plakate und Äußerungen der Teilnehmer_innen
Die ersten Teilnehmer_innen des Qudstag-Marsches trafen gegen 14:15 Uhr am Auftaktort direkt an der U-Bahnstation Adenauerplatz ein. Bis zum Beginn der Kundgebung um 15:10 Uhr war keine Organisationsstruktur wahrnehmbar. Diese Zeit vor dem Beginn der rigiden Kontrolle durch die Organisator_innen nutzten einige Teilnehmer_innen als Bühne für ihre Anliegen. Eine Gruppe von Unterstützer_innen der Huthi-Rebellen aus dem Jemen, die vom Iran unterstützt werden, liefen geschlossen einige Meter in Richtung der Route des Zugs. Dabei präsentieren diese neben einer großen Jemen-Fahne einige offizielle Plakate des den Huthis zugeordneten „Ansar Allah Media Center“. Zwei Plakate beinhalteten den Wahlspruch der Huthis „Allahu Akbar – Tod Amerika – Tod Israel – Verdammt seien die Juden – Sieg dem Islam“. Mindestens eines dieser Plakate war bis zu dem Zeitpunkt, als der Marsch die Gegenkundgebung am Georg-Grosz-Platz passierte, zu sehen. Des Weiteren wurden aus der Gruppe Plakate an andere Teilnehmende verteilt. Die Plakate mit dem antisemitischen Wahlspruch waren so auch während der Demonstration sichtbar.
Ebenfalls hielt eine Einzelperson lautstark eine Ansprache, zunächst direkt an die Gegendemonstrierenden am Adenauerplatz gerichtet, und drohte:
„Wir warten noch auf den ersten Angriff von Israel. Wir marschieren von Südlibanon mit den Palästinensern zusammen. 500 Palästinenser mit Millionen von Schiiten in Südlibanon nach Israel in sha Allah, wir zeigen [es] dieser Welt. Das wird ein Sieg gegen Israel, das wird Euer letzter Tag in sha Allah. […] Gott hat gesagt, wenn die Quds zerstören, an diesem Tag wird Jerusalem zerstört. Ich verspreche Euch, ich schwöre bei dem Gott, an den die Juden glauben. Sie wollen zerstören. Erst die Zerstörung von Al Quds, dann wird vom Himmel Jerusalem zerstört. Das ist ein Signal für die Israelis, für die Juden.“
Vor Ort war auch Usama Z., der regelmäßig seine antisemitischen Plakate an verschiedenen Orten in Berlin, insbesondere bei Demonstrationen, zeigt. In einem Interview am Rande des Startpunkts leugnete er die Schoa.
Zudem wurde am Startpunkt des Marsches die antisemitische Parole „Kindermörder Israel“ gerufen, was durch die Polizei beanstandet wurde. Auf den ersten Metern der Demonstration wurden die Rufe auf Initiative Einzelner wiederholt, woraufhin die Polizei den Zug unterbrach. Daraufhin erfolgte eine Ermahnung vom Lautsprecherwagen, dies zu unterlassen, um nicht die Zukunft des Marsches zu gefährden.
Nach der Zwischenkundgebung am U-Bahnhof Kurfürstendamm setzten sich junge Teilnehmer_innen an die Spitze des Zuges und dessen Struktur wurde gelockert. Zwar dominierten die Parolen „Freiheit für Gaza/Palästina“ und „Free Free Gaza/Palestine“, doch kurz vor dem Wittenbergplatz wurde „Nieder mit dem Zionismus“ und vereinzelt „Raus mit den Zionisten“ skandiert. Hinzu kam der religiöse Schlachtruf „Labayka ya Hussein“ („Wir stehen Dir bei, oh Hussein!“) – eine Parole, die sich auf die historische Schlacht von Kerbela bezieht, welche die Trennung von Schia und Sunna markierte, und als Signal der Bereitschaft für den Kampf einzuordnen ist bzw. von dem Anführer der Hizbollah Hassan Nasrallah auch so interpretiert wurde.
Hizbollah-Bezüge und Terrorverherrlichung im Laufe des Marsches
Wie bei jedem Marsch seit 2016 umfassten die erteilten Auflagen ein Verbot von Symbolen der Hizbollah auf Kleidung oder Fahnen, wie auch Verbot von Hizbollah verherrlichenden Sprüchen. Gegen diesen Auflagenbescheid erhoben die Organisator_innen am 29. Mai Widerspruch, dem am 31. Mai vom Verwaltungsgericht Berlin in zwei Punkten stattgegeben wurde, darunter auch in Bezug auf das Verbot von Symbolen der Hizbollah und der ihr nahestehenden Organisationen. Auf eine Beschwerde des Landes Berlin hin kassierte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg am Tag des Marsches in einem Eilverfahren die Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
Kurz nach dem Eintreffen des Lautsprecherwagens am Auftaktort wurde die Ansage gemacht: „Nur genehmigte Plakate, keine eigenen nehmen, keine eigenen Fahnen oder Symbole.“ Von den Organisator_innen ausgegeben wurde wie schon in den vergangenen Jahren ein mitgeführtes Plakat mit Porträts von Nasrallah, dem iranischen religiösen Führer Ali Chamenei und dem Kommandanten der iranischen Quds-Einheiten Qassem Soleimani sowie dem Spruch auf Arabisch „Hizbollah – Das sind die Sieger“. Darüber hinaus hatten die bereits genannten Unterstützer_innen der jemenitischen Huthi-Rebellen Plakate mitgebracht und schon vor dieser Ansage verteilt, unter denen sich auch mindestens eines mit Gesichtern von Nasrallah und dem Führer der Huthi-Bewegung, Abdul-Malik al-Huthi, befand.
Nachdem die Gegenkundgebung auf dem George-Grosz-Platz hinter sich gelassen wurde und damit das Interesse der Öffentlichkeit nachließ, hielt Grassmann auf Höhe der U-Bahnstation Kurfürstendamm eine Rede, in welcher er mehrmals positiv auf die Hizbollah Bezug nahm. So bezeichnete er die Terrororganisation als „Widerstandszelle“, die es „zum ersten Mal gewagt [hat], die israelische Armee direkt anzugreifen“. Dieses Modell des Widerstands habe Palästinenser_innen ihre Würde zurückgegeben. Angriffe auf den Norden Israels durch die Hizbollah im Jahr 2000 wurden von Grassmann als „Erfolg des islamischen Widerstandes“ gefeiert: „Die Besatzungsarmee wurde im Jahr 2000 zu einer peinlichen Flucht aus dem Süden Libanons gezwungen. Das war Hizbollah!“ In ihrer Gesamtheit kann die Rede, vor allem die Aufzählung als positiv beurteilter Gewaltmaßnahmen gegen Israel, als Verherrlichung der Hizbollah und Gutheißen der Gewalt gesehen werden. Diese Aussagen wurden von den Teilnehmer_innen des Marsches durch Applaus und zustimmende Rufe unterstützt. Schon vorher bezog sich Grassmann auf die Hizbollah, als er sagte, „jeder weiß auch, welche Leute wir lieben“.
Erneut trug ein Redner, T-Shirts mit einer Symbolik, die mit der Hizbollah assoziiert werden kann: Auf gelbem Hintergrund mit grüner Umrahmung umschließt eine Faust die Wurzel der oben herausragenden Zeder. Die Faust ist Ausdruck für den Gebiets- und Herrschaftsanspruch der Hizbollah im Libanon (symbolisiert durch die Zeder) und im Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan (symbolisiert durch die Wurzel).
Bereits zu Beginn des Marsches trug eine Person ein T-Shirt, das die palästinensische Terrororganisation Hamas verherrlichte. Auf der Vorderseite war das Symbol der Al-Qassam-Brigaden, dem militärischen Arm der Hamas, zu sehen. Auf der Rückseite stand neben den Umrissen des gesamten Gebiets zwischen Mittelmeer und Jordan: „Hamas Al-Qassam Brigarden [sic]“. Die Polizei sprach die Person am Auftaktort an. Der Mann nahm aber kurze Zeit später wieder an der Veranstaltung teil.
Daneben gab es wie in den letzten Jahren positive Bezüge auf die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Die PFLP setzt sich die Abschaffung des Staates Israel zum Ziel und ist seit den 1960er-Jahren für zahlreiche Terroranschläge in Europa und Israel verantwortlich. Ein Teilnehmer trug einen Button mit dem Logo der PFLP sowie einen Schal mit Porträts von Abu Ali Mustafa und George Habasch – verstorbene Führungspersonen der PFLP. Nach Abu Ali Mustafa ist der militärische Arm der PFLP benannt.
Geschichtsrevisionismus auf der Abschlusskundgebung
Bei der Abschlusskundgebung am Wittenbergplatz kam es zu einem „Interview“ mit einem Neturei Karta-Vertreter. Dieser gab den „Zionisten“ die Schuld am „Holocaust“ und am Antisemitismus nach 1945. Auf die durch einen Moderator gestellte Frage, ob er am Morgen nach dem „Niedergang Israels“ „etwa Angst um [sein] Leben hätte“, antwortete er: „The biggest enemy of Judaism is Zionism. They bring us the Holocaust in the begin. They give the boost to Hitler to kill us. And they try all the time since then to make antisemitism in all the world. [sic]“ Ins Deutsche wurde dies wie folgt übertragen: „Der Zionismus ist der größte Feind des Judentums. Sie waren es, die den Holocaust erst möglich gemacht haben. Sie haben für die Bedingungen gesorgt, die für diesen Massenmord gesorgt haben.“ Diese Argumentationsfigur ist eine häufige Form des Post-Schoa-Antisemitismus: In einer Täter_innen-Opfer-Umkehr werden die deutschen Täter_innen und ihre Helfer_innen entschuldigt, während den historischen Opfern, den Jüdinnen_Juden, die Schuld an der Schoa gegeben wird. Danach beendete Grassman die Veranstaltung mit den Worten „Ich bitte und bedanke mich, nächstes Jahr werden wir, in sha Allah, noch freier sprechen dürfen.“
Antisemitische Vorfälle am Rande des Marsches
In drei uns bekannt gewordenen Situationen wurden Teilnehmer_innen der Gegendemonstration „Gegen den Quds-Marsch!“ angefeindet. Gegen 14:45 wurden zwei Frauen, die auf dem Kurfürstendamm vom Adenauerplatz in Richtung George-Grosz-Platz gingen, von drei Männern mit dem sogenannten „Deutschen Gruß“ angepöbelt. Die beiden Frauen gingen nicht darauf ein und setzten ihren Weg fort.
Gegen 15:20 wurde in einem Café am Georg-Grosz-Platz eine weitere Teilnehmerin der Gegendemonstration, die an zwei israelsolidarischen Pins als solche erkennbar war, antisemitisch beschimpft. Sie wollte Getränke kaufen und wartete in der Schlange, als sie Gesprächsfetzen von drei Personen vor ihr hörte. Ein junger Mann erwähnte die Hizbollah. Dann sah er sie an und erblickte die Pins der Frau, woraufhin er sagte, „Eigentlich müsste Hitler wiederkommen und auch den Rest töten.“ Die Betroffene verließ das Café umgehend und stellte eine Anzeige.
Auf dem Rückweg wurden am U-Bahnhof Kurfürstendamm gegen 18:15 Uhr ein Mann und eine Frau antisemitisch angepöbelt. Die Teilnehmer_innen der Gegendemonstration, die anhand Israel-Fähnchen und eines Banners mit dem Stadtwappen von Jerusalem als solche erkennbar waren, warteten auf die Bahn, als sie hörten, dass ein Mann, der in Begleitung eines weiteren Mannes war, hinter ihnen „Kindermörder Israel“ und „Israel bringt Kinder um“ rief. Die Betroffenen forderten den Mann auf, sie in Ruhe zu lassen, doch dieser setzte fort und rief: „Israel raus aus Palästina, Palästina gehört den Palästinensern! Juden raus aus Jerusalem, Israel ist Besatzungsmacht! Kindermörder Israel!“ Auch auf weitere Einwände der Betroffenen reagierte der Mann nicht, wie auch dessen Begleiter, der sich etwas abseitig hielt und nichts sagte. So hörten die Pöbeleien erst auf, als die Betroffenen in ihre U-Bahn einsteigen konnten.
Exkurs: Der Qudstag-Marsch in Frankfurt am Main
Seit 2015 wird jährlich durch einen schiitischen Verein aus Offenbach am Main zeitlich parallel zum Marsch in Berlin ein Qudstag-Marsch in Frankfurt am Main durchgeführt. In Frankfurt beteiligen sich vornehmlich türkischsprachige Anhänger_innen der Schia.
Bis 2017 waren offene Hizbollah-Bezüge sichtbar. So wurden zwischen 2015 und 2017 jedes Jahr mehrere Porträts von Nasrallah mitgeführt, bis 2016 auch Fahnen der Hizbollah. 2015 wurde das Symbol der Terrororganisation für das Ankündigungsplakat verwendet. 2016 wurde auch auf die Hamas Bezug genommen, als ein Bild des 2004 getöteten Anführers der palästinensischen Terrororganisation Scheich Ahmad Yassin mitgeführt wurde.
2019 beteiligten sich laut der Polizei 350 Personen am Qudstag-Marsch in Frankfurt am Main. Ein Teil der männlichen Teilnehmer trug T-Shirts mit dem Logo des schiitischen Vereins auf der Vorderseite. Auf der Rückseite stand neben den Umrissen des gesamten Gebiets zwischen Mittelmeer und Jordan „Freiheit für Palästina“. Auf Schildern waren unter anderem Porträts der Ajatollahs Chomeini und Chamenei sowie Abdul-Malik al-Huthi abgebildet. Auch in Frankfurt wurde während des Zuges der Schlachtruf „Labayka ya Hussein“ skandiert. Im Gegensatz zu Berlin findet der jährliche Qudstag-Marsch in Frankfurt kaum Beachtung von Medien, Politik und Zivilgesellschaft.
Fazit
Der Qudstag-Marsch hat auch 2019 nichts von seinem antisemitischen Charakter verloren, trotz der von den Organisator_innen forcierten – und auch wörtlich so benannten – Strategie der Täuschung der Öffentlichkeit. Diese hatten die Organisator_innen angesichts der bestehenden Gefahr eines Verbots des Marsches infolge der öffentlichen Diskussion entwickelt. Die Strategie umfasste den Verzicht auf einige Elemente der vergangenen Jahre wie religiöse Ansprachen oder externe Redner_innen (mit Ausnahme der Antworten eines Neturei Karta-Mitglieds). Auch beteiligten sich dieses Jahr keine offen erkennbaren schiitischen Geistlichen, die in den vergangenen Jahren sehr eng mit dem Marsch in Verbindung gebracht wurden.
Die Außenwirkung des Marsches als vermeintlich nicht antisemitisch stand im Mittelpunkt. Es wurde versucht, eine möglichst strenge Kontrolle über die Äußerungen der Teilnehmer_innen auszuüben und so jeglichen Verstößen gegen die Auflagen zuvorzukommen. Hier offenbarte sich wieder eine bevormundendes Verhältnis der Organisation zu den eigenen Teilnehmer_innen, die Grassmann vergangenes Jahr als „nicht besonders hochgebildete […] Brüder“ bezeichnete. Trotzdem konnte, gerade angesichts des Anlasses des Marsches – des Aufrufs zur Gewalt gegen Israel – nicht auf Hizbollah-Bezüge verzichtet werden. So wurde noch im gleichen Satz, während die Teilnehmer_innen ermahnt wurden, sich an die Regeln zu halten, die Hizbollah glorifiziert. Ähnlich verhielt es sich bei den einstudierten Parolen und vorgegeben Plakaten, die mehrheitlich von unterschiedlichen Formen von Antisemitismus gekennzeichnet waren. Das alles nächstes Jahr „noch freier“ äußern zu dürfen, wie Grassmann es sich zum Abschluss des Marsches gewünscht hatte, kann in der Konsequenz nur offene Gewaltbefürwortung und noch expliziterer Antisemitismus bedeuten.
Antisemitische Gewalt, Israel-Delegitimierung und Schoa-Relativierung beim „Al Nakba-Tag“ 2019 in Berlin
19. Mai 2019
RIAS BerlinAntisemitische Gewalt, Israel-Delegitimierung und Schoa-Relativierung beim „Al Nakba-Tag“
Monitoring der „Solidaritätsveranstaltung anlässlich des 71. Jahrestages der Vertreibung des palästinensischen Volkes aus seiner Heimat“ auf dem Hermannplatz, Berlin-Neukölln, 4. Mai 2019
Am 4. Mai 2019 organisierte „das palästinensische Komitee zu Gedenken an Al-Nakba“ eine als Kulturveranstaltung angekündigte Kundgebung auf dem Hermannplatz. Dazu wurde eine Bühne sowie Markstände für einzelne Aussteller_innen aufgebaut.
Vor Ort mit Ständen waren u.a. die Gruppe BDS-Berlin, die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), die Palästinensische Stimme, die LAG Internationals des Landesverbands Berlin der Partei Die Linke, „Arbeiter_innen Macht“, Generalunion der palästinensischen Ingenieure und „Palästina Haus e.V.“ sowie kleinere Einzelgruppen. Daneben wurden Literatur und Essen angeboten.
Am Stand der BDS-Gruppe war ein Plakat aufgehängt, auf dem Israel als Apartheid und Kolonie dämonisiert wurde. Ebenfalls wurde auf einem bedruckten Papier ein Boykott-Aufruf gegen den Eurovision Song Contest in Tel Aviv, worauf eine Doppel-Sig-Rune abgebildet war, ausgestellt. Diese implizite Gleichsetzung von Israel und NS wurde später mit einem BDS-Propagandaaufkleber unkenntlich gemacht. Derselbe Aufruf, ebenfalls mit einer Doppel-Sig-Rune, befand sich weithin sichtbar auch auf einem zeitweise ausgestellten Banner inmitten des Hermannplatzes, welches schließlich von der Polizei entfernt wurde.
Während der Veranstaltung kam es zu einer körperlichen Auseinandersetzung, bei der ein Israeli angegriffen wurde. Der scheinbar alkoholisierte Betroffene, der eigenen Angaben zufolge zufällig vor Ort war, pöbelte vor der Bühne lautstark gegen die Veranstaltung, indem er u.a. „Israel! Israel!“ und „Palestine fuck off!“ rief. Daraufhin wurde er von mehreren Personen weggedrängt und kurze Zeit später in der Nähe eines Kunststandes von ca. einem Dutzend Männer bedrängt und von mehreren geschlagen. Während aus dem im Internet kursierenden Video ersichtlich ist, dass ausgestellte Bilder umgeworfen wurden, als der Betroffene geschubst und an ihm gezerrt wurde, lässt sich die Behauptung des „Komitee Palästina Tag 2019“, der Betroffene habe randaliert und als erster zugeschlagen, auf Grundlage des Videos nicht belegen.
Forderungen nach Abschaffung Israels
In der Rede von BDS-Berlin sagte eine Rednerin, es sei das natürliche Recht der Palästinenser_innen „auf Rückkehr in ihre Heimat, und wenn das passiert, haben wir das Ende der Nakba, dann haben wir ein freies Palästina.“ Dabei bezog sie sich auf den gewaltsamen „Great March of Return“, dessen Ziel es ist, die Grenze zwischen Gaza und Israel zu durchbrechen.
Einer Aussage der Rednerin der Demokratischen Komitees Palästinas zufolge bedeute die Erinnerung an die Nakba, „dass es ein Palästina geben soll vom Jordan bis zum Meer.„ Auch ein Redner, der für die Palästinensische Gemeinde Berlin sprach, forderte „ein freies Palästina vom Fluss bis zum Meer„. An einem anderen Zeitpunkt wurde aus dem Publikum der Sprechchor „From the river to the sea – Palestine will be free“ angestimmt.
An mehreren Ständen wurden Umrisse eines gewünschten palästinensischen Staates präsentiert, der das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und dem Jordan beansprucht.
##Delegitimierung Israels als „Apartheid“ oder „Kolonialmacht“ Neben diesen Äußerungen, die den Wunsch nach Abschaffung des jüdischen Staates offen zum Ausdruck brachten, wurde von mehreren Redner_innen Israel als ein rassistisches oder koloniales Unterfangen delegitimiert. Von einem „israelische[n] Kolonialsystem“ sprach der Redner, der für die Palästinensische Gemeinde Berlin angekündigt wurde. Die Rednerin von BDS-Berlin warf Israel „Siedlerkolonialismus, […] Besatzung und Apartheid“ vor, während der Redner für den Bezirksverband Neukölln der Partei Die Linke eine Bezeichung Israels als „Apartheidsystem […], vergleichbar mit dem in Südafrika„ zustimmend zitierte.
Schoarelativierung und Revisionismus
In einigen Beiträgen kam es zu offenen oder impliziten geschichtsrevisionistischen Äußerungen. Mit einem Vergleich zwischen der Politik Israels und dem Nationalsozialismus relativierte ein Redner der MLPD die Schoa, als er behauptete, „Nazi-Verbrechen können nicht rechtfertigen, dass „heute ein anderes Volk, das palästinensische Volk, aus ihrem Land vertrieben wird mit fast denselben Mitteln und Methoden.“ Die Existenz eines „Schuldkults“ implizierte der Redner der LAG Internationals des Landesverbands Berlin der Partei Die Linke, als er sagte, „Viele Deutsche [weigern sich] für das Recht der Palästinenser aufzustehen angesichts ihrer Geschichte. Es kann nicht sein, dass die Palästinenser bezahlen müssen für die Verbrechen der Deutschen der dreißiger und vierziger Jahre.“
Terrorverherrlichung auf der Bühne
Auf der Bühne gab es mehrere positive Bezugnahmen auf die in der EU-Terrorliste geführte Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). Die PFLP setzt sich die Abschaffung des Staates Israel zum Ziel. Eine Rede hielt Abla Sa'adat, Ehefrau des inhaftierten PFLP-Generalsekretärs Ahmad Sa'adat. Ein Vertreter der MLPD, der ebenfalls zu den Redner_innen gehörte, trug einen Schal mit einer „50“, wobei das Symbol der PFLP in die „0“ eingefügt war. Schals mit dieser Symbolik tauchten erstmals zur 50-Jahrfeier der PFLP in Berlin im Dezember 2017 auf. Eine Vertreterin der „Demokratischen Komitees Palästina e.V.“ bagatellisierte schließlich Terrorismus als „Befreiungskämpfe“.
RIAS Berlin wurde zudem bekannt, dass es in einem Fall zu rassistischen Pöbeleien gegenüber den Teilnehmer_innen der Kundgebung kam.
Antisemitische Vorfälle rund um Demonstrationen am 1. Mai 2019
19. Mai 2019
RIAS Bundesweite KoordiantionRIAS – Bundesweite Koordination bekannt gewordene antisemitische Vorfälle rund um Demonstrationen am 1. Mai 2019
Für Versammlungen und Aufmärsche am 1. Mai 2019 hatten mehrere AfD-Landesvebände und rechtsextreme Parteien mobilisiert. Bei mehreren dieser Veranstaltungen fanden sich in Reden und auf Transparenten verschwörungsmythologische, Schoa relativierende oder in Frage stellende und sonstige antisemitische Inhalte wieder, zudem kam es bei der DGB-Demonstration in Köln zu einer antisemitischen Pöbelei eines Teilnehmers. Eine Zusammenfassung der RIAS – bundesweite Koordination.
Duisburg: Solidaritätsbekundungen mit Ursula Haverbeck
In Duisburg versammelten sich etwa 180 Personen zu einem Aufmarsch der neonazistischen Kleinstpartei „Die Rechte“. Diese fokussierte sich in ihrer Außendarstellung auf den aktuellen Europawahlkampf. Bei der Veranstaltung selbst dominierten dann allerdings Solidaritätsbekundungen mit der inhaftierten und mehrfach verurteilten Schoa-Leugnerin und EU-Spitzenkandidatin der Partei, Ursula Haverbeck, das Bild.
Bereits am Auftaktort wurden T-Shirts verkauft, auf denen die Freiheit für Haverbeck gefordert wurde und ein Wahlkampfjingle abgespielt, in dem Haverbeck als Dissidentin und Bürgerrechtlerin verklärt wird. Auf dem Fronttransparent im Aufmarsch befand sich ein Konterfei der Schoa-Leugnerin sowie die Parole „Freiheit für Ursula“. Daneben trugen Teilnehmer_innen des Aufzugs die Wahlplakate zur Europawahl der Partei mit der Aussage „Israel ist unser Unglück“. Diese Aussage ist eine direkte Anlehnung an den Heinrich von Treitschkes Spruch „Die Juden sind unser Unglück“, der später die antisemitische Hetzschrift „Der Stürmer“ auf der Frontseite zierte.
Neben der Solidarisierung mit der Schoa-Leugnerin Haverbeck wurden in verschiedenen Reden wiederholt antisemitische und NS-verherrlichende Inhalte verbreitet. Immer wieder ertönten „Nie wieder Israel“-Rufe. Manfred Breidbach, der frühere stellvertretende Vorsitzende des NPD-Kreisverbandes Mettmann/Düsseldorf, bezog sich dann direkt auf den antisemitischen Mythos einer weltweiten jüdischen Weltverschwörung und gab Einblicke in die Kommunikationsstrategien rechter Gruppierungen: „Und wenn der deutsche Arbeiter dann mal das Maul aufmacht und die internationalistische Krake, welche hinter allem steht, beim Namen nennt, dann wird er in den Knast gesteckt. Wir dürfen die Dinge nicht bei dem Namen nennen. Dem Namen, der seit Ewigkeiten weltweit nichts weiter ist als nur noch ein Schimpfwort. Wir brauchen dieses Wort auch nicht zu benutzen, denn jeder weiß auch so, welcher alte Parasit damit gemeint ist.“ Zudem zitierte er ein Kampflied der SA, welches mit den Worten abschließt: „In die Parlamente schmeißt die Handgranaten rein. […] . Denn wir sind in unseren Herzen keine Demokraten, wir sind in unseren Herzen damals wie heute Hitler-Leute.“ Sven Skoda, der auf Platz 2 der Liste zur Europawahl für die Partei kandidiert, sagte, dass er der Aussage, dass alle Wähler_innen der Rechten die Schoa leugnen würden, zumindest für die Parteimitglieder nicht widersprechen würde.
Plauen: Antisemitische Kapitalismuskritik und Chiffren
In Plauen, Sachsen, beteiligten sich ca. 550 Personen am Aufmarsch der rechtsextremen Kleinstpartei „Der III. Weg“. Bereits im Vorfeld gab es antisemitische Untertöne. So hieß es in einem Artikel auf der Homepage der Partei bezüglich der Mobilisierung aus Chemnitz: „Auf zum Angriff auf die Börsendiktatur und dies ohne die Wahnvorstellungen des jüdischen Theoretikers Karl Marx!“.
Die Reden während des Aufmarsches selber waren dann geprägt von antisemitischen Chiffren und Verschwörungsmythen. So imaginierte ein Redner, dass „das angestammte Volk wortwörtlich bis auf das Blut bekämpft“ werden muss, um „das erschaffene Diktat aufrecht zu erhalten, welches der Machterhaltung somit dem Kapital und Globalisten dient“ und dass „die nicht endend wollende Asylflut nur ein weiteres Werkzeug des Globalkapitalismus“ sei. Die Rede des Parteivorsitzenden Klaus Armstroff war dann deutlich explizierter: „Zinsknechtschaft – durch die Spekulation des Großkapitals wird die Welt in den dritten Weltkrieg getrieben. Der Verschuldungstand der Staaten, der Wirtschaft und der Haushalte kann mit dem heutigen Geldsystem, als dem Zins und Zinsenzins-Kapitalismus, niemals bereinigt werden.“
Beim Aufmarsch trat eine Person mit einem „Solidarität für Haverbeck“ T-Shirt auf.
Erfurt: Verschwörungsmythen rund um Soros
Nach Erfurt lud die AfD Thüringen unter dem Motto „Blauer Frühling“ zum 1. Mai. Diesem Aufruf folgten dann ca. 800 Personen. Als Hauptredner traten der Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Alexander Gauland, sowie der Thüringer Fraktionsvorsitzende, Björn Höcke, auf. In seiner Rede präsentierte Höcke an antisemitische Verschwörungsmythen anknüpfbare Erzählungen von globalen Eliten bzw. den „Globalisten“, die scheinbar natürliche Werte, Traditionen und Kulturen zerstören. Er bezeichnete „die hemmungslose neoliberale Globalisierung und die EU […] in ihrer heutigen Form […] als eine Globalisierungsagentur, die den als pervers zu bezeichnenden Geist eines George Soros exekutiert“. Der amerikanisch-ungarische jüdische Investor George Soros dient verschiedenen politischen Spektren als Projektionsfläche für antisemitische Verschwörungsmythen und fungiert als Chiffre für die geheime Macht und Einflussnahme von Jüdinnen_Juden auf Politik und Medien.
Cottbus: Schoa-Relativierungen und Instrumentalisierung von Antisemitismus
Etwa 500 Personen folgten dem Aufruf der AfD Brandenburg und des neurechten Vereins „Zukunft Heimat“ zu einer Versammlung in Cottbus. Lars Schieske, Direktkandidat von der AfD Cottbus, stellte die Mitglieder der AfD auf eine Ebene mit Opfern der Schoa und relativierte damit die NS-Verbrechen: „Wir sind wie 1933, der Besuch in Gaststätten wird uns verwehrt, die Aufnahme in Vereinen wir uns verwehrt. Arbeitsverträge werden gekündigt, Autos beschädigt oder angezündet, Büros beschmiert oder Mitglieder niedergeschlagen.“ Nach dieser Aussage ging er direkt zum Thema Antisemitismus über, sah dieses aber als rein „importiertes Problem“, welches nichts mit der deutschen Bevölkerung zu tun hätte.
Wismar: Rassismus und Verschwörungsmythen
In Wismar hielt die NPD Mecklenburg-Vorpommern einen Aufmarsch mit ca. 250 Teilnehmer_innen ab. Vor Ort hielt der Vorsitzende der NPD-MV, Udo Pastörs, eine Rede. Neben offenen Rassismus sagte er in Bezugnahme auf eine Einwanderung von Geflüchteten: „In der sogenannten Bundesrepublik Deutschland auf die Verhältnisse, in einem Land das sich ein Staat nennt, aber immer noch amerikanische Kolonie ist und deswegen die Politik durchführen muss oder will oder soll, die dazu führt, dass wir genauso frei und genauso ökonomisch dominiert von wenigen Großkonzernen sind, wie unser großer, freiheitlicher Bruder aus den Vereinigten Staaten von noch Amerika.“ Damit knüpfte er an einen im modernen Antisemitismus zentralen Verschwörungsmythos, wonach die Kontrolle über Politik, Wirtschaft und Medien in den Händen von nur wenigen, meist als jüdisch wahrgenommenen Personen liegt.
Köln: Antisemitische Zwischenrufe auf DGB-Demo
Gemäß mehreren Zeugen fand während der DGB-Demonstration eine antisemitische Pöbelei statt. Nachdem ein Teilnehmer auf sein Plakat mit der Aufschrift „Demokratie ohne Meinungsfreiheit ist wie Physik ohne Materie“ angesprochen wurde, rief er „1.Mai, judenfrei“.
Rund um den 9. November: Antisemitische Vorfälle in Berlin und bundesweit
18. November 2018
RIAS BerlinRund um den 9. November 2018
Auch 2018, als sich die Novemberpogrome von 1938 zum 80. Mal jährten, kam es rund um den Gedenktag am 9. November zu zahlreichen antisemitischen Vorfällen: Hierzu zählten insbesondere rechtsextreme Störaktion von Gedenkfeiern, gezielte Sachbeschädigungen von Erinnerungsorten und Gedenkzeichen für Opfer der Schoa und rechtsextreme Versammlungen. Fast alle antisemitischen Vorfälle sind dem Post-Schoa Antisemitismus zuzuordnen. Das Gedenken an die antisemitischen Pogrome scheint somit nach wie vor einen großen mobilisierenden Faktor für die rechtsextreme Szene darzustellen.
Insgesamt liegt die Zahl der antisemitischen Vorfälle mit Bezug zum 9. November mit 36 deutlich über dem Niveau von 2017 (26). Die Zahlen umfassen jeweils antisemitische Vorfälle, die zwischen dem 30. Oktober und dem 15. November geschahen und einen direkten oder indirekten Bezug zum Gedenktag bzw. zur Erinnerung an die Schoa haben. Während es 2018 in einem ähnlichen Maße zu Störungen von Gedenkveranstaltungen und gezielten Sachbeschädigungen von Erinnerungsorten und Gedenkzeichen kam und zudem das Spektrum des antiisraelischen Aktivismus unvermindert aktiv ist, muss eine deutliche Zunahme von antisemitischen Versammlungen aus dem rechtsextremen Spektrum konstatiert werden.
RIAS Berlin wurden rund um den 9. November neun antisemitische Vorfälle in Berlin bekannt. Dabei handelt es sich um drei gezielte Sachbeschädigungen und um sechs Fälle verletzenden Verhaltens, darunter drei antisemitische Versammlungen.
In sechs Vorfällen wurden Stereotype des Post-Schoa Antisemitismus verwendet, in jeweils zwei solche des israelbezogenen und des modernen Antisemitismus. Bei letzterem handelt es sich z.B. um antisemitische Verschwörungsmythen.
Fünf Mal konnte ein politischer Hintergrund eindeutig zugeordnet werden: Je ein Vorfall ist dem Spektrum des linken Antiimperialismus, des Rechtspopulismus, des israelfeindlichen Aktivismus, des Rechtsextremismus und von verschwörungsideologischen Milieus zuzurechnen. Bei den vier Fällen, die nach RIAS-Kenntnis nicht eindeutig einem politischen Spektrum zuzuordnen sind, handelt es sich um gezielte Sachbeschädigungen von Gedenkzeichen – so etwa, wenn keine Symboliken verwendet wurden.
Bundesweit hat RIAS rund um den 9. November 27 weitere antisemitische Vorfälle erfasst, die einen Bezug auf den Jahrestag der Novemberpogrome 1938 aufweisen. Dabei handelt es sich um einen Angriff, eine Bedrohung, elf gezielte Sachbeschädigungen und 13 Fälle verletzenden Verhaltens, darunter sechs antisemitische Versammlungen, sowie eine antisemitische Massenzuschrift.
In 26 Vorfällen wurden Stereotype des Post-Schoa Antisemitismus verwendet, in drei Fällen Stereotype mit Israelbezug und solche, die dem modernen Antisemitismus zuzuordnen sind, in zwei Fällen.
Sind bundesweit neun Vorfälle eindeutig dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen, zwei dem rechtspopulistischen und je eines dem links-antiimperialistischen Milieu und dem Milieu eines israelfeindlichen Aktivismus, handelt es sich bei den 14 Vorfällen, die nach RIAS-Kenntnis keinem eindeutigen Spektrum zugeordnet werden können, unter anderem um sieben gezielten Sachbeschädigungen von Gedenkzeichen ohne die Verwendung einer spezifischen Symbolik sowie um drei Hakenkreuz-Schmierereien.
Sowohl in Berlin als auch in anderen Bundesländern kam es immer wieder zu Störungen von Gedenkfeiern für die Opfer der Novemberpogrome 1938. So trug Andreas Wild, fraktionsloser Abgeordnete der AfD, bei der Gedenkveranstaltung im Berliner Abgeordnetenhaus sowie später bei einem Gedenkmarsch zum „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ eine blaue Kornblume – historisches Symbol der antisemitischen und deutsch-nationalen „Schönerer-Bewegung“ . Zu massiven Störungen einer Gedenkveranstaltung kam es in Dortmund-Dorstfeld: Eine Gruppe von Rechtsextremen trank in Sichtweite der Gedenkveranstaltung provokativ Alkohol und trug Partyhütchen. Bei Beginn der Veranstaltung ging ein Alarmgeber an, Böller explodierten. Insgesamt sind RIAS fünf Störungen von Gedenkveranstaltungen bekannt. Hiervon sind drei aus dem rechtsextremen Spektrum, während zwei Fälle nicht eindeutig zugeordnet werden können.
Insgesamt wurden im Zeitraum vom 9. bis 12. November RIAS neun antisemitische Versammlungen bekannt, darunter drei in Berlin. Hierbei handelte es sich um jeweils eine Versammlung aus dem verschwörungsmythologischen Spektrum, aus dem Milieu des israelfeindlichen Aktivismus sowie eine links-antiimperialistische Veranstaltung. Bundesweit dominierten jedoch Versammlungen aus dem rechtsextremen und rechtspopulistischen Spektrum: So gab es allein vier Versammlungen, bei denen die Freilassung der verurteilten und inhaftierten Schoa Leugnerin Ursula Haverbeck gefordert und beispielsweise ihr Geburtstag feierlich begangen wurde.
RIAS wurden zudem fünf weitere rechtsextreme Versammlungen bekannt, die zumindest implizit durch die Durchführung am 9. oder 10. November einen Bezug zum Jahrestag der Novemberpogrome nahelegen. Außer der Demonstration des Bündnisses „Wir für Deutschland“ in Berlin fanden diese alle in Mecklenburg-Vorpommern statt. So zogen am 10. November ca. 35 Neonazis in einem Fackelzug durch Güstrow, unter anderen am ehemaligen Standort der Synagoge vorbei, die in den Morgenstunden des 10. November 1938 von Nazis abgebrannt worden war. In Redebeiträgen wurde vor „Umvolkungsstrategien“ gewarnt, wenn auch nicht expliziert wurde, von wem diese ausgingen.
Die folgenden antisemitischen Vorfälle wurden der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) entweder direkt gemeldet oder sind ihr im Zuge eines Presse-Monitorings bekannt geworden.
Berlin
Bereits am 30.10. wurden in Friedrichshain-Kreuzberg mehrere Plakate, die mit der Aufschrift „Gedenken heißt Handeln. 80 Jahre Reichspogromnacht. Naziaufmarsch verhindern.“ mit der Aufschrift „Soros-Nutten“ und „Soros Huren“ beschmiert. Der Schoa-Überlebende und Philanthrop George Soros ist Projektionsfläche zahlreicher antisemitischer Verschwörungsmythen.
Am 6. November wurde der Stolperstein für Kiwe Wild in Mitte (Wedding) mit zwei SS-Runen beschmiert.
Ein Videoblogger filmte sich am 7. November dabei, wie er in Mitte (Moabit) auf ein Plakat, das anlässlich des 100. Jahrestags der Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland fragte: „Und wofür streitest Du?“ Bilder der Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck klebte und eine rechtsextreme Demonstration in Bielefeld bewarb. Das Video wurde auf YouTube hochgeladen.
Der AfD-Politiker Andreas Wild trug bei der Gedenkveranstaltung im Berliner Abgeordnetenhaus und beim anschließenden Gedenkmarsch zum „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ am 8. November eine blaue Kornblume – Symbol der von Georg von Schönerer 1891 gegründeten „Alldeutschen Vereinigung“. Die blaue Kornblume diente ab zwischen 1933–1938 als Erkennungszeichen für Anhänger_innen der in Österreich verbotenen NSDAP. Nachdem Wild daran gehindert wurde, am Denkmal Namen ermordeter Jüdinnen_Juden vorzulesen, kommentierte er dies auf Twitter mit „Kauft nicht bei Juden 2.0“ und relativierte damit die Schoa.
Am 9. November wurde am Potsdamer Platz im Rahmen eines internationalen Aktionstags unter dem Motto „Eine Welt ohne Mauern“ Israel aus dem Umfeld von BDS Berlin („Boykott, Desinvestition, Sanktionen“) als „Apartheid“ dämonisiert.
Ebenfalls am 9. November wurde auf einer Veranstaltung des verschwörungsideologischen Spektrums direkt vor dem Reichstagsgebäude in einem Redebeitrag gefragt, warum Anetta Kahane Regierungssprecherin sei. Die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung ist Projektionsfläche zahlreicher antisemitischer Verschwörungsmythen. Die Stolpersteine für Richard und Alfred Tworoger in Mitte wurden am 10. November mit SS-Runen beschmiert.
Auf die Stolpersteine für Emil Bab, Hans Richard Stern und Ingeborg Krause wurde in der Nacht zum 10. November Wachs aus Kerzen gekippt, die zuvor zum Gedenken neben die Steine gestellt worden waren. Der danebenliegende Stolperstein für Johanna Brüning wurde beim Versuch, ihn anzuzünden, beschädigt.
Im Rahmen der Versammlung „No Administrationshaft“ der Demokratischen Komitees Palästina Berlin am 10. November in Neukölln wurde Israels Existenzrecht bestritten, indem gerufen wurde: „From the River to the Sea, Palestine will be free.“ Israel wurde zudem als Kolonisator dämonisiert.
Bundesweit
Am 5. November wurde in Eberswalde (Brandenburg) auf einen Anbau des Denkmals der ehemaligen Synagoge mit roter Farbe ein 6 Meter breiter Schriftzug geschmiert. Ebenfalls am 5. November sprach auf einer Veranstaltung des „Bürgerbündnisses Havelland“ in Rathenow ein Redner von einem „Schleier des Schuldkultes“. Zudem berief er sich positiv auf die neonazistische Kampagne für die Freilassung der inhaftierten Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck.
In Versmold (Nordrhein-Westfalen) wurden am 6. November Flugblätter, welche die „Freiheit für Ursula Haverbeck“ forderten, in Briefkästen von Privathaushalten eingeworfen.
Am Abend des gleichen Tages störten in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) Neonazis einen Vortrag mit dem Titel „Antisemitismus – Geschichte und Gegenwart“. Die Neonazis kündigten an, in 1,5 Jahren in Dortmund andere Seiten aufzuziehen, man rate Bürgern, entweder wegzuziehen oder sich zu benehmen. Während der Störung wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Der Staat Israel ist unser Unglück“ gezeigt, welches sich auf den historischen Ausspruch Heinrich von Treischkes „Die Juden sind unser Unglück“, der später auch als Schlagwort der NS-Hetzschrift „Der Stürmer“ fungierte, bezieht.
Am 7. November entdeckte die Polizei in Sondershausen (Thüringen) an einem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof ein eingeritztes Hakenkreuz.
Während einer Gedenkveranstaltung in Dortmund-Dorstfeld (Nordrhein-Westfalen) am 8. November störten Neonazis das Gedenken durch demonstratives Feiern, beispielsweise durch das Tragen von Partyhütchen und das Trinken von Alkohol in unmittelbarer Nähe zum Veranstaltungsort. Als die Gedenkveranstaltung begann, startete ein Alarmgeber und Böller wurden gezündet.
Am 9. November wurden in Chemnitz insgesamt 13 Stolpersteine an vier unterschiedlichen Orten beschädigt. Die Steine, die an David, Rosa und Hermann Moerdler, Mendel und Minna Brantwein, Sigismund, Bajla Ides, Ingrid, Manfred Gerhard und Joachim Nachmann, Bernhard Stieglitz, Jette Tamler und Paul Fischer erinnerten, wurden mit einer Chemikalie, vermutlich Bitumen, irreparabel beschädigt.
Das Gedenken einer Schulklasse vor dem jüdischen Friedhof in Warburg (Nordrhein-Westfalen) wurde am 9. November durch demonstrative Motorengeräusche der Mofas mehrerer Jugendlicher gestört.
Am Abend des gleichen Tages wurde bei einer Veranstaltung von „Pro Chemnitz“ in einem Redebeitrag die Schoa relativiert. Ein Redner hatte behauptet, die Ermordung des deutschen Botschafters in Frankreich durch einen Juden habe die Leute so aufgestachelt, dass sie in Deutschland gegen die Juden vorgegangen seien. Die Lehre aus der Verfolgung der Juden müsste sein, die Waffengesetze zu lockern: „Wer dafür sorgt, als Staatsgewalt, dass Menschen wehrlos werden, indem man es ihnen verbietet, Waffen [zu] besitzen, der will sie auch weiter diskriminieren, der will sie auch deportieren und in Lager sperren.“
Ebenfalls am 9. November wurde in Frankfurt an der Oder (Brandenburg) eine Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen durch einen betrunkenen Mann gestört. Dieser rief unter anderem, als er die Versammlung am Synagogengedenkstein passierte: „Scheiß auf die bösen Juden!“
In Plauen (Sachsen) ereignete sich am 9. November ein Angriff, als ein Mann, der Stolpersteine reinigte von einemjungen Paar zunächst mit „Rotfront verrecke Du Schwein“ beschimpft wurde. Im Folgenden wurde der Betroffene ins Gesicht gespuckt versucht, ihn anzugreifen. Der Betroffene konnte nur durch die Verwendung eines Pfeffersprays einen körperlichen Angriff abwenden.
Am 10. November wurde das Gedenkzeichen Stolperschwelle vor der TU Braunschweig (Niedersachsen) zum wiederholten Male mit roter Farbe beschmiert. Auf einer Steintreppe des jüdischen Friedhofs in Boitzenburg (Mecklenburg-Vorpommern) wurde durch die Polizei ein geschmiertes Hakenkreuz entdeckt, welches vermutlich rund um den 10. November angebracht worden war.
Veranstaltungsplakate für eine Gedenkveranstaltung an die Novemberpogrome in Hagen (Nordrhein-Westfalen) wurden am 10. November abgerissen und in die Volme geworfen. Auch ein öffentliches Klavier, dass für die Veranstaltung mit dem Titel „Das Klavier in der Volme“ aufgestellt wurde, wurde beschädigt.
Die rechtsextreme „Kameradschaft Güstrow“ veranstaltete am 10. November, dem 80. Jahrestag der Pogrome in der Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, unter dem Motto „Für die Zukunft unserer Kinder“ einen Fackelmarsch, an dem 35 Personen teilnahmen. In Reden wurde das antisemitische Stereotyp der „Umvolkung“ bedient, auch wenn die „Umvolkungsstrategen“ nicht explizit benannt wurden. Die Demonstration passierte den Standort der am 10. November 1938 zerstörten Synagoge.
Auf einer Kundgebung der „Palästinensischen Gemeinde in Koblenz und Umgebung e.V.“ am 10. November wurde Israel als „Apartheid“ und „Völkermörder“ dämonisiert. Auf Transparenten wurde eine Karte von Israel/Palästina gezeigt, auf der Israel nicht verzeichnet war.
In Bielefeld (Nordrhein-Westfalen) fand am 10. November eine Demonstration für die Freilassung der verurteilten Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck statt – Anlass war ihr 90. Geburtstag am 8. November. An der Versammlung nahmen ca. 400 Personen teil. Auf einem Schild hieß es unter anderem: „Die Lüge ist uns ein Groll auch wenn dies Staatsräson sein soll.“ Ein Teilnehmer trug ein T-Shirt, auf dem das Eingangstor von Auschwitz-Birkenau zu sehen war sowie die Aufschrift: „Auschwitz – ich hätte da mal eine Frage“. Zudem wurden Luftballons mit der Aufschrift „Solidarität mit Ursula Haverbeck“ fliegen gelassen – angeblich 88 an der Zahl („88“ ist der Zahlencode für „Heil Hitler“). In einer Ansprache hieß es hierzu: „Als allererstes möchte ich das Gaskommando bitten, unablässlich weiterzuarbeiten, sich nicht aufhalten zu lassen. Lasst Gas in die Luftballons strömen!“ Ein Redner bezeichnete Erinnerungspädagogik als „eine seelische Vergewaltigung“ und „Völkermord“. In der letzten Rede hieß es zudem: „Die Juden haben Christus verworfen, haben ihn kreuzigen lassen, und haben sein Opfer für sich nicht in Anspruch genommen und brauchten einen anderen Mythos. Den haben sie geschaffen, und der findet auch seinen Niederschlag im Paragraph 130 Strafgesetzbuch.“ Im Zuge der Demonstration wurde unter anderem „Nie wieder Israel“ und „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ gerufen.
Auch in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) fand am 10. November eine rechtsextreme Demonstration mit 700 Teilnehmer_innen statt. Ähnlich wie in Bielefeld wurde auch hier die Freilassung Haverbecks gefordert. Die Schoa wurde zudem relativiert, indem in einer Rede von einem „Bombenholocaust in Magdeburg“, vom „deutsche[n] Holocaust, der im Zweiten Weltkrieg über unser Volk erbracht wurde“, gesprochen wurde. In einer anderen Rede wurden „Merkel und Konsorten“ als „Erfüllungsgehilfen von Soros und Rothschild“ bezeichnet.
In Pforzheim (Baden-Württemberg) wurden am Sonntag, den 11. November zwei Kränze der jüdischen Gemeinde und der Stadt Pforzheim zerstört aufgefunden. Sie waren zuvor in Erinnerung an die Novemberpogrome niedergelegt worden.
Auf einem Spielplatz in München (Bayern) wurden im Laufe des Wochenendes antisemitische und rassistische Schmierereien angebracht.
In Dresden (Sachsen) fand in der Nähe der PEGIDA-Demonstration am 12. November ein Infostand mit Merchandise-Artikeln für die Kampagne zur Freilassung der Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck statt.
Am 14. November wurden alle Bodenstrahler rings um das Mahnmal am Opernplatz in Hannover (Niedersachsen) zerstört. Das Mahnmal erinnert an die jüdischen Hannoveraner_innen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden.
In Jever (Niedersachsen) wurden alle 70 Rosen, die Schüler einer örtlichen Schule bei der Verlesung der Namen der ermordeten Jüdinnen_Juden Jevers am 9. November niedergelegt hatten, gestohlen.
Auch in Gütersloh (Nordrhein-Westfalen) wurden Kerzen, die am 9. November am Gedenkstein in der Daltropstraße aufgestellt worden waren, in den darauffolgenden Tagen zerstört und umgeworfen.
Im Rahmen einer Aktuellen Stunde, die am 14. November im Brandenburger Landtag in Potsdam anlässlich des 80. Jahrestages der Novemberpogrome stattfand, relativierte der AfD-Abgeordnete Steffen Königer die Schoa. Königer spielte auf die Verfolgung von Jüdinnen_Juden im Nationalsozialismus an, als er sagte: „Wir werden genauso ausgegrenzt, indem vor Restaurants Schilder stehen mit der Aufschrift ‚Für AfDler Zutritt verboten.‘ An was erinnert uns das? An welche Heuchelei erinnert uns das, die hier im Landtag stattfindet?“
Weitere rechtsextreme Versammlungen
Bei einer Reihe von rechtsextremen Versammlungen ist anzunehmen, dass sie aufgrund der Abwehr der Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 bewusst auf das Wochenende rund um den 9. November gelegt wurden. In Berlin demonstrierte das Bündnis „Wir für Deutschland“ unter dem Motto „Trauermarsch für die Toten von Politik“ mit 120 Teilnehmer_innen. In Stralsund demonstrierten am Abend des 9. November etwa 100 Anhänger der Initiative „Vereint für Stralsund“ unter dem Motto „Heimatliebe ist kein Verbrechen“. Der Demonstrationszug passierte den ehemaligen Standort der Synagoge. Ebenfalls am 9. November veranstalteten Neonazis ein „Heldengedenken“ auf dem Neuen Friedhof in Rostock.
Antisemitismus und Terrorverherrlichung im Block des „Internationalistischen Bündnisses“ auf der #Unteilbar-Demonstration am 13. Oktober in Berlin
17. Oktober 2018
RIAS BerlinAntisemitismus und Terrorverherrlichung im Block des „Internationalistischen Bündnisses“ auf der #Unteilbar-Demonstration am 13. Oktober in Berlin
Im Rahmen der Demonstration „#Unteilbar“ am vergangenen Samstag wurde in einem Block der Demonstration durch eine Person aus dem Milieu des israelfeindlichen Aktivismus eine antisemitische Rede gehalten.
Der Aktivist, der dem Umfeld der Gruppe FOR-Palestine zuzuordnen ist und in der Vergangenheit auf PFLP Veranstaltungen in Berlin gesprochen hat, setzte in seiner Rede die Situation der Palästinenser_innen mit der systematischen Judenvernichtung im nationalsozialistischen Deutschland gleich, womit er eine Umkehr der Täter-Opfer-Rollen vornahm und die Schoa relativierte. Als politisches Ziel wurde die Vernichtung Israels genannt: Man wolle „bis zur Befreiung von ganz Palästina 48“ kämpfen. Die Rede hielt er auf dem Lautsprecherwagen des „Internationalistischen Bündnisses“ am Auftaktort der „#Unteilbar“-Demonstration. Dieses Wahlbündnis ist von der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) initiiert und schließt auch die Gruppe „Sympathisanten der PFLP“ ein, eine Unterstützungsorganisation für die Terrororganisation „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP).
Unmittelbar vor der Demonstration „#Unteilbar“ hatte am Alexanderplatz bereits eine weitere Kundgebung stattgefunden, auf der es zur Terrorverherrlichung kam. An einer Versammlung der „Bundesweiten Montagsdemonstration“ an der Weltzeituhr hielt Ibrahim I., ein Vertreter des Vereins „Demokratische Komitees Palästinas e.V.“ eine Rede, in der er sagte: „Es ist ein legitimer Kampf und das Recht mit alle Mitteln [sic] die Besatzung in diesen zionistischen Staat zu bekämpfen.“ Während seiner Ansprache trug Ibrahim I. einen Schal mit einer „50“, wobei das Symbol der PFLP in die „0“ eingefügt war. Schals mit dieser Symbolik tauchten erstmals zur 50-Jahrfeier der PFLP im Dezember 2017 auf.
Etliche Teilnehmer_innen dieser Kundgebung begaben sich im Anschluss zur „#Unteilbar“-Demonstration und beteiligten sich am Block des „Internationalistischen Bündnisses“. Schilder mit PFLP-Logos wurden bis kurz vor Ende der „#Unteilbar“-Demonstration gezeigt. Im Block des „Internationalistischen Bündnisses“ liefen auch Jugendliche mit Warnwesten des Vereins „Hrak e.V.“ mit. Auf diesen waren die Umrisse des gesamten britischen Mandatsgebiets Palästina zu sehen, die zu einem Unterarm mit Faust stilisiert waren. Wie das JFDA - Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus dokumentierte, war auf einem Plakat, das an dem Lautsprecherwagen angebracht war, die zur Vernichtung Israels aufrufende Parole „From the river to sea Palestine will be free“ geschrieben.
Im Block des „Internationalistischen Bündnisses“ auf der „#Unteilbar“-Demonstration kam es somit zu antisemitischen Äußerungen, außerdem wurden Logos einer Terrororganisation offen gezeigt. Dass sich die MLPD und das von ihr geformte Internationalistische Bündnis sich mit den Zielen der PFLP identifizieren, ist seit längerem bekannt. So trat die Vorsitzende der MLPD Gabi Fechtner im Dezember 2017 bei der 50-Jahrfeier der PFLP in Berlin auf. An die Terrororganisation richtete sie sich dabei mit den folgenden Worten: „Wir haben auch immer unmissverständlich erklärt, die PFLP ist keine Terrororganisation, sie ist eine revolutionäre Befreiungsorganisation. Und sie gehört nicht auf Terrorlisten, sondern sie gehört unterstützt mit allem was uns möglich ist. Und deshalb sind wir stolz, mit euch zusammen zu arbeiten. Wir sind stolz, diese Zusammenarbeit noch weiterzuentwickeln. Lasst uns an der Basis zusammenarbeiten.“
Dokumentation antisemitischer Vorkommnisse in Dortmund am 21. und 27. September 2018
28. September 2018
RIAS Bundesweite KoordiantionDokumentation antisemitischer Vorkommnisse in Dortmund am 21. und 27. September 2018
Innerhalb von sieben Tagen traten Rechtsextreme in Dortmund mehrmals mit antisemitischen Inhalten in Erscheinung. Die Akteure stammen allesamt aus dem Umfeld der neonazistischen Kleinstpartei „Die Rechte“, die u.a. für die Aktionswochen zur Freiheit für die inhaftierte Schoa-Leugnerin Ursula Haverbeck mitverantwortlich ist. Haverbeck ist zudem Spitzenkandidatin der Partei „Die Rechte“ für die kommende Europawahl. Auch fielen Personen aus diesem politischen Spektrum mehrmals durch das Stören der alljährlichen Gedenkveranstaltung der Jüdischen Gemeinde Dortmund am 9. November auf. Antisemitische Agitationen sind seit vielen Jahren fester Bestandteil der politischen Praxis der Dortmunder Neonazi-Szene.
Am 21. September liefen ca. 100 Personen der örtlichen Neonazi-Szene unter der Parole „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ durch die Dortmunder Stadtteile Marten und Dorstfeld.
Am 27. September fand in der Innenstadt von Dortmund eine Kundgebung statt, an der sich ca. 25 Personen beteiligten. Dabei wurden zwei Transparente mitgeführt. In Anlehnung an die von Heinrich von Treitschke stammende antisemitische Parole „Die Juden sind unser Unglück“ aus dem Jahr 1879, welche später die nationalsozialistische Hetzschrift „Der Stürmer“ zierte, stand auf einem der mitgeführten Transparente „Der Staat Israel ist unser Unglück“. Das Andere enthielt die Aufschrift: „Die Presse hetzt, die Polizei folgt blind, doch ihr werdet sehen: Euer Grundgesetz schützt auch Antisemitismus.“
Erster Redner der Kundgebung war Sascha Krolzig, der Anfang des Jahres wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, nachdem er in einem Online-Bericht den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Herford/Detmold als „frechen Judenfunktionär“ beleidigt hatte. In seiner Rede projizierte Krolzig zahlreiche Verschwörungsmythen auf den jüdischen amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros, dem er unterstellte, seine „Macht und Geld […] zum Schaden der europäischen Völker“ einzusetzen. Krolzig erwähnte Soros‘ jüdische Herkunft wiederholt und verschleierte nur fadenscheinig, dass diese in seinem antisemitischen Weltbild für die Vorwürfe zentral sei.
Die mediale Diskussion infolge der Berichterstattung zu den oben beschriebenen Vorfällen am 21. September nannte er „eine deutschlandweite Medienhetze“ und imaginierte einen Moment herbei, in dem „das Schwert des Antisemitismusvorwurfs […] stumpf wird, wo einfach gesagt wird: ‚ja Mensch nennt uns doch so, ist uns doch egal.‘ Wer schon alles als Antisemit bezeichnet wurde, ob es ein Martin Walser ist, ob es ein Jürgen Möllemann ist, ob es ein Martin Hohmann ist.“
Krolzig beendete seinen Beitrag mit einer Verherrlichung der nationalsozialistischen Verbrechen und einer impliziten Leugnung der Schoa: „Wir wissen, dass unsere Weltanschauung wahrhaftig ist. Denn die Wahrheit macht uns frei.“
Zu befürchten ist es, dass von der Dortmunder Neonazi-Szene in nächster Zeit, insbesondere um den 9. November wie in der Vergangenheit weitere antisemitische Provokationen ausgehen. Bereits angekündigt ist eine Demonstration anlässlich Haverbecks Geburtstag am 10. November in Bielefeld.
Israelfeindschaft und Antisemitismus zur Prideweek in Berlin
2. August 2018
RIAS BerlinIsraelfeindschaft und Antisemitismus zur Prideweek in Berlin
Seit einigen Jahren werden RIAS rund um die Demonstrationen und Feierlichkeiten des Christopher Street Day (CSD) immer wieder israelfeindliche und antisemitische Aktivitäten gemeldet. In diesem Zusammenhang ist seit 2015 insbesondere die kleine Gruppe „Berlin against Pinkwashing“ (BaP) aktiv. An den Aktivitäten der Gruppe beteiligen sich Personen aus dem Umfeld der Gruppen FOR-Palestine, der Jewish Antifa Berlin sowie BDS Berlin. Neben öffentlichen Auftritten bewirbt die Gruppe auf Facebook Veranstaltungen der Gruppen BDS-Berlin, die jährliche „Nakba“ Demonstration in Berlin Neukölln oder Kundgebungen des Vereins „Demokratische Komitees Palästina“. Letzterer veranstaltet jährlich eine Feier zur Gründung der Terrorgruppe P.F.L.P. in Berlin. Auch mobilisiert BaP für den Boykott des Pop-Kultur-Festivals.
Beim Auftreten der Gruppe kam es wiederholt zu antisemitischen Vorfällen. So störten BaP-Aktivist_innen 2016 die Eröffnung des CSD. Als ein Vertreter der israelischen Botschaft seine Rede begann, drängte eine Gruppe von acht bis zehn BAP-Aktivist_innen Parolen rufend in Richtung des Wagens, von dem aus die Rede gehalten wurde. Sie versuchten dabei unter Anwendung von Gewalt die von CSD-Ordner_innen und israelsolidarischen Teilnehmer_innen gespannte Absperrung zu durchbrechen. Im selben Jahr beteiligte sich die Gruppe zusammen mit Gruppen wie zum Beispiel BDS-Berlin, Jugendwiderstand, FOR-Palestine und „Demokratische Komitees Palästina“ an der Nakba-Demonstration in Berlin-Neukölln. Die anwesenden Gruppen forderten die „Entkolonisierung Palästinas“ sowie die „Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand in all seinen Formen“.
Auch im Rahmen der Prideweek 2018 war BaP wieder aktiv.
So wurden am Vorabend des Lesbisch-Schwulen Stadtfest in Berlin-Schöneberg eine Woche vor dem CSD im Umfeld des Festes dutzende Sticker verklebt, auf denen Israel als Apartheid delegitimiert wird. Auf einem Aufkleber stand “No Pride in Israeli Apartheid”. Dieser Slogan wurde auch mit Kreide, aber auch mit Hilfe von Schablonen („Stencils“) rund um den Veranstaltungsort geschmiert. Weitere auf Aufklebern verwendete Slogans waren: „No Pride in Motzstraßenfest until Palestine is free“, „Stop using queer* rights for state propaganda: say no to pinkwashing“, „Queers against Occupation“ und „Free Palestine“. Am Sonntag war die Mehrzahl der Sticker bereits entfernt worden.
Auch Usama Z. versuchte, das Straßenfest als Bühne zu nutzen. Z. zeigt regelmäßig an öffentlichen Plätzen und auf Demonstrationen Plakate mit NS-relativierenden Inhalten. Auf ihnen werden u.a. der Begriff „Nazi“ von „Nationalistisch Zionistisch“ abgeleitet und Zionist_innen als Faschist_innen bezeichnet. Am Sonntag wurde Usama Z. kurz nach seinem Erscheinen durch die Verantwortlichen vom Gelände des Festes verwiesen. Nach einer kurzen Feststellung der Personalien durch die Polizei durfte er seine antisemitischen Schilder jedoch vor dem Eingang zum Fest zeigen.
Zu Protesten gegen die „Israeli Queer Night“ am 26. Juli im Kino Babylon in Berlin Mitte mobilisierte BaP. So kamen ca. 10 Personen zusammen, auf einem mitgeführten Transparent wurde Israel als Apartheid delegitimiert. In einem verteilten Flyer war hingegen lediglich von einem „Apartheid-ähnlichen Regime“ die Rede. Der Flyer wird von der Gruppe schon seit Beginn ihrer Aktivitäten 2015 verteilt. Im Umfeld des Kinos wurden dieselben Sticker verklebt wie schon beim Motzstrassenfest.
Während der BaP-Kundgebung protestierten einige Menschen gegen die israelfeindlichen Aussagen, dabei trugen sie eine Israel und eine Regenbogen-Fahne mit Davidstern bei sich. Kurz vor dem Beenden dieser Gegenproteste fuhr ein Fahrradfahrer an den Protestierenden vorbei und schrie „Fickt euch ihr scheiß Judenficker“. Die Polizei nahm zwar die Verfolgung auf, konnte aber den Täter nicht mehr stellen.
Auf dem CSD am 28. Juli war BaP zeitweise mit Mitgliedern der Gruppe „Revolution“ unterwegs. „Revolution“ nimmt regelmäßig an israelfeindlichen Veranstaltungen teil, so auch an der letztjährigen „Nakba“-Demonstration in Neukölln. Eine Person aus dem „Revolution“-Block drohte damals gegenüber Gegendemonstrant_innen mit einer Halsabschneiden-Geste. Auch beim CSD wurde das gleiche Transparent gezeigt und die gleichen Aufkleber verklebt wie in den Tagen zuvor.
Trotz eines aufkommenden Unwetters störten Mitglieder von BaP einen Stand der Botschaft des Staates Israel. Dabei positionierten sich ca. zehn Aktivist_innen mit ihrem Transparent vor dem Stand. An der Störung waren Personen aus dem Umfeld der Gruppen BDS Berlin, Jewish Antifa Berlin und „Revolution“ beteiligt. Mit Personen, die ihre Solidarität mit den Standbetreuer_innen zeigten, kam es zu physischen und verbalen Auseinandersetzungen. Als eine Frau aus dieser Gruppe einen Aufsteller mit der Aufschrift „Hier können Sie Ihren Namen auf Hebräisch schreiben lassen“ umtrat und versuchte, ihn weiter zu beschädigen, wollte ein Mann sie daran hindern und hielt sie am Arm fest. Daraufhin trat die Frau den Mann ans Schienbein und in den Schritt. Nur weil sie zeitgleich zurückgezogen wurde, kam es zu keinen Verletzungen. Im Anschluss schritt die Polizei ein und nahm Ermittlungen auf. Die Frau beteiligte sich, wie auch ein anderer störender Aktivist, bereits im vergangenen Jahr an der Störung einer Veranstaltung mit einer Schoa-Überlebenden. Wie RIAS damals berichtete, hatte einer der Aktivist_innen der Referentin zugerufen: „Gerade Sie als eine Holocaust-Überlebende sollten sich schämen, hier zu sitzen und zu rechtfertigen, dass Israel das Gleiche den Palästinensern antut was Ihnen angetan wurde.“1
Dass im Rahmen solcher gesuchten Konfrontation durch BDS-Unterstützer_innen auch einzelne Personen angegangen werden, zeigte sich im Rahmen einer weiteren Situation im Umfeld des CSD. So wurden am Pariser Platz zwei Personen angegangen, die eine Regenbogenfahne mit Davidstern sowie ein Regenbogen-Israelfähnchen aus Papier bei sich trugen: Mit den Worten „Das ist totales Pinkwashing, was ihr hier macht“ wurde ihnen das Fähnchen abgenommen und zerrissen.
Die israelfeindlichen und antisemitischen Vorfälle rund um den CSD führen bei jüdischen Teilnehmer_innen der Veranstaltungen durchaus zu Verunsicherung. So formulierte die Gruppe Latkes* in einem Interview bezüglich der Vorfälle beim XCSD 2016: „Wir hatten das Gefühl, dass wir dort, wo wir uns eigentlich zu Hause fühlen, nicht erwünscht sind. Schlimm war noch dazu, dass überhaupt nicht darüber gesprochen wurde und wird – auch nicht, als das Orgateam zerbrochen ist und es seitdem keinen Kreuzberger CSD mehr gibt.“2
Aktionswoche für Schoaleugnerin Haverbeck
26. Juni 2018
RIAS BerlinAktionswoche für Schoaleugnerin Haverbeck
Am vergangenen Sonntag wurde in Dortmund ein jüdischer Mann bereits zum wiederholten Male innerhalb weniger Tage von Neonazis angegriffen. Am frühen Nachmittag des 24. Juni beleidigten drei polizeibekannte Neonazis den Mann antisemitisch und versuchten, ihm ins Gesicht zu schlagen. Der Betroffene konnte den Schlag jedoch abwehren, er erstattete Anzeige. Am Abend desselben Tages traf er erneut auf einen der drei Rechtsextremen, der ihm gemeinsam mit einer weiteren Person den Hitlergruß zeigte und einen Gegenstand auf ihn warf. Wie das Online-Nachrichtenmagazin Watson unter Berufung auf die Dortmunder Polizei berichtete, war der Betroffene bereits am 21.6. aus einer rechtsextremen Solidaritätskundgebung für die Schoaleugnerin Ursula Haverbeck heraus antisemitisch beleidigt und angegriffen worden. Die Attacken werfen somit ein Licht auf eine rechtsextreme Kampagne gegen deren Inhaftierung. Der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) liegen zahlreiche Hinweise auf rechtsextreme Aktivitäten im Rahmen einer bundesweiten „Aktionswoche“ zur Freilassung Haverbecks vor. Auch die Kundgebung in Dortmund war Teil dieser Kampagne.
Anfang April 2018 hatte die rechtsextreme Kleinstpartei „Die Rechte“ die derzeit wohl bekannteste deutsche Schoaleugnerin Ursula Haverbeck zur Europawahl 2019 aufgestellt. Durch den zum damaligen Zeitpunkt absehbaren Haftantritt von Haverbeck erhoffte man sich erhöhte mediale Aufmerksamkeit und einen Mobilisierungsschub innerhalb der politischen Rechten.
Welche Rolle die Inhaftierung von Haverbeck für die deutsche Rechte hat, zeigte sich bereits kurz vor ihrem Haftantritt am 1. Mai bei einer bundesweit beworbenen Demonstration der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) in Erfurt. So erschien der Demonstrationsblock der rechtsextremen Kleinstpartei „Die Rechte“ in T-Shirts mit dem Aufdruck „Solidarität mit Ursula Haverbeck“ und auf einem Hochtransparent wurde „Freiheit für Ursula“ gefordert. Aber auch Frank Franz, Parteivorsitzender der NPD, nannte Haverbeck in seiner Rede ein „Vorbild“. Udo Voigt, der für die NPD im Europäischen Parlament sitzt, ging in seiner Rede ebenfalls auf Haverbeck ein und bagatellisierte deren und Horst Mahlers strafbare Schoaleugnungen als „unangenehme Meinung“.
Als direkte Reaktion auf die tatsächliche Inhaftierung Haverbecks am 7. Mai fand kurze Zeit später in Bielefeld eine Solidaritätsdemonstration mit ca. 400 Teilnehmer_innen statt. Hier fand sich eine Mischung aus bekannten Schoaleugner_innen, Reichsbürger_innen und organisierten Rechtsextremen ein. Am Tag darauf fand eine weitere Kundgebung mit etwa 25 Personen in Dessau-Roßlau (Sachsen-Anhalt) statt.
Vornehmlich in Nordrhein Westfalen folgten etwas mehr als ein Dutzend Solidaritätsbekundungen für Haverbeck mit geringer Außenwirkung. Es wurden Transparente an Brücken befestigt oder Poster verklebt. Daneben nutzten die Mitglieder der Partei „Die Rechte“ auch rechtsextreme Szeneevents um für den Fall zu werben. Beim Rechtsrockfestival im thüringischen Themar wurde das Solidaritätsshirt am parteieigenen Stand verkauft und bei der wenig besuchten Demonstration „Tag der deutschen Zukunft“ in Goslar führte der Demonstrationsblock der „Rechten“ ebenfalls ein „Freiheit für Ursula Haverbeck“ Transparent mit. Anklang fand das Engagement für die Schoaleugnerin auch im rechtspopulistischen Milieu: So wurden im Umfeld der bundesweiten AfD-Demonstration am 27. Mai in Berlin Flyer für die anstehende Aktionswoche ausgelegt. Auch bei den wöchentlichen Pegida-Kundgebungen in Dresden wurden in den vergangenen Montagen mindestens zwei unterschiedliche Transparente mitgeführt, die sich für die Freiheit von Haverbeck aussprachen.
Für den Zeitraum vom 16.–24. Juni 2018 riefen Personen um die Kleinstpartei „Die Rechte“ zu einer bundesweiten Aktionswoche unter dem Motto „Sofortige Freilassung von Ursula Haverbeck“ auf. Unterstützt wurde diese außerdem von der NPD-Nachwuchsorganisation „Junge Nationalisten“ und einer rechtsextremen Gruppe aus Baden-Württemberg. Dementsprechend war der tatsächliche Aktionsradius der Aktionen auch hauptsächlich auf NRW und Baden-Württemberg beschränkt. Neben spontan stattfindenden Mahnwachen wurden Flyer verklebt und Transparente angebracht. Außerdem kam es vereinzelt überregional zu Transparentaktionen, Schmierereien und dem Verteilen von Flyern. Zum Ende fanden noch zwei angemeldete Kundgebungen in Dortmund und Hamm statt – in Dortmund kam es schließlich zu der Beschimpfung eines Gegendemonstranten, die sich wenige Tage später nochmals wiederholen sollte.
Als Fazit kann festgehalten werden, dass sich der Aktionismus auf Personenkreise rund um die Kleinstpartei „Die Rechte“ beschränkte. Diesen gelang es nicht, eine größere Öffentlichkeit oder Aufmerksamkeit fernab von rechtsextremen Szenekreisen zu erreichen. Exemplarisch dafür kann die im Rahmen der Aktionswoche initiierte Onlinepetition gesehen werden: Sie fand lediglich 216 Unterstützer_innen. Dennoch zeigt die Kampagne, dass die rechtsextreme Szene versucht, sich angesichts des Erfolgs der AfD durch die Profilierung als radikalere Akteurin von dieser abzugrenzen. Während Politiker_innen der AfD die Erinnerung an die Schoa und an die Massenverbrechen der Deutschen vehement ablehnen und als „Schuldkult“ in antisemitischer Art und Weise diffamieren, wird die Leugnung der Schoa somit in der rechtsextremen Szene jenseits der AfD künftig wohl eine noch größere Rolle spielen. Dass sich das gewalttätige Potential, welches solchen rechtsextremen Kampagnen bei aller Erfolglosigkeit innewohnt, jederzeit entladen kann, zeigen die Angriffe in Dortmund deutlich.
Auswertung des Qudstag-Marsches 2018
14. Juni 2018
RIAS BerlinAuswertung des Qudstag-Marsches 2018
Am diesjährigen Qudstag-Marsch vom Adenauerplatz bis zum Wittenbergplatz in Berlin, der unter dem Motto „Für ein freies Palästina und ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller Religionsgemeinschaften!“ stattfand, nahmen nach eigenen Zählungen ca. 1200 Personen teil. Die Teilnehmenden-Zahl verdoppelte sich im Vergleich zum Vorjahr beinahe (650) und erreichte erstmals das Niveau von 2014, als es vor dem Hintergrund der militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und islamistischen Terrororganisationen im Gaza-Streifen zu einem zusätzlichen Mobilisierungseffekt kam.
Hintergründe und Ausdrucksformen bei Protesten im Dezember 2017 gegen die Verlegung der US-Botschaft in Israel
12. Dezember 2017
RIAS BerlinHintergründe und Ausdrucksformen bei Veranstaltungen bei Protesten gegen die Verlegung der US-Botschaft in Israel im Dezember 2017
Infolge der Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump am 6. Dezember, die Botschaft der Vereinigten Staaten von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, kam es deutschlandweit zu antiisraelischen Kundgebungen und Demonstrationen.
Der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) und dem Internationalen Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA) sind insgesamt 21 solcher Versammlungen bekannt, bei zwölf liegen Belege für gewaltverherrlichende und antisemitische Bildsprache und Parolen vor. Bei den anderen kann das nicht ausgeschlossen werden.
Allgemeine Einschätzung
Die Dynamik und Heftigkeit der aktuellen antiisraelischen Proteste weist schon nach wenigen Tagen Parallelen mit der Situation im Sommer 2014 auf, als es vor dem Hintergrund einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation Hamas im Gaza-Streifen europaweit zu antisemitischen Ausschreitungen mit Verletzten und dutzenden Demonstrationen sowie Sachbeschädigungen kam.
Wie schnell die gegenwärtige Situation, in der auf Demonstrationen nicht nur Gewalt befürwortet wird, sondern auch offen antisemitische Parolen skandiert werden, eskalieren und sich gegen jüdischen Personen und Einrichtungen richten kann, zeigte sich am Samstagabend in Göteborg: mindestens zehn Täter warfen Molotov-Cocktails auf den Innenhof einer Synagoge, wobei die Flammen vermutlich nur aufgrund des starken Regenfalls nicht um sich griffen. In einem angrenzenden Raum befand sich zum Tatzeitpunkt eine Gruppe von 20 Jugendlichen.1 Bereits am Donnerstagvormittag wurden die Scheiben und die Verglasung der Eingangstür eines zum Tatzeitpunkt geschlossenen jüdischen Restaurants „HaCarmel“ in Amsterdam eingeschlagen. Der Täter war während der Tat mit einer Kufiya vermummt, führte eine Palästina-Fahne bei sich und soll während der Aktion „Allahu Akbar“ und „Palestine“ gerufen haben.2
Wer steckt hinter der aktuellen antiisraelischen Kampagne?
An der europaweiten Koordination der aktuellen Kampagne scheinen der Hamas- bzw. der globalen Muslimbruderschaft nahestehende Organisationen maßgeblichen Anteil zu haben. Auf einem am 8. Dezember veröffentlichten Schaubild werden Demonstrationen in über 40 Städten in 16 EU-Mitgliedsstaaten aufgeführt, welche maßgeblich von der Hamas- bzw. der Muslimbruderschaft nahestehenden Organisationen organisiert wurden oder unter maßgeblichen Einfluss ihrer Strukturen stattfanden.3 In Deutschland gibt es Indizien dafür, dass die Koordination zu großen Teilen auf die Palästinensische Gemeinschaft Deutschland (PGD e.V.) zurückgeht. So fand am 5. Dezember in Berlin ein Koordinierungstreffen bei der PDG e.V. statt.4 Die PGD e.V. sowie ihr nahestehende Frauen- und Jugendorganisationen traten seither als Veranstalterinnen mehrerer Versammlungen in unterschiedlichen deutschen Städten auf. Die PGD e.V. führte im April 2015 gemeinsam mit dem britischen Palestinian Return Center in Berlin Treptow-Köpenick die jährlich stattfindende Konferenz der Europäischen Palästinenser durch,5 welche bereits seit 2010 von der Berliner Innenverwaltung als die wichtigste Aktivität von Hamas-Anhänger_innen bewertet wird.6
Welche Rolle nehmen türkische Nationalist_innen und Islamist_innen ein?
Auf größeren Demonstrationen und Kundgebungen (Berlin, Dortmund, München) waren die Flaggen der Türkei nicht zu übersehen. Türkisch sprechende Milieus wurden zudem auch durch türkischsprachige Ankündigungstexte angesprochen. In den nächsten Tagen muss genau beobachtet werden, inwieweit Anhänger_innen des türkischen Präsidenten7 die Demonstrationen in Deutschland zunehmend prägen werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit die drastischen mitunter antisemitischen Äußerungen des türkischen Präsidenten innerhalb der türkischen Communities aufgegriffen werden und in der Folge zu einer größeren Mobilisierung seiner zahlreichen Anhänger_innen in Deutschland auf den antiisraelischen Demonstrationen führen.
Wie schon im Sommer 2014 organisierte laut einem Pressebericht8 die islamistische IGMG am Pariser Platz in Berlin am 8. Dezember eine separate Kundgebung, auch waren dutzende türkische Flaggen bei der späteren Versammlung der PGD e.V. feststellbar.
Welche Rolle spielen religiöse Anrufungen für die aktuellen Mobilisierungen?
Auf vielen Demonstrationen der vergangenen Tage kam es ähnlich wie bei den antiisraelischen Protesten im Jahr 2014 zu religiösen Anrufungen einer muslimischen Identität und zur politischen Instrumentalisierung islamischer Glaubenssätze. Daher sollte in der kommenden Zeit besondere Aufmerksamkeit auf Stellungnahmen religiöser Autoritäten und die inhaltliche Ausrichtung von Gebeten in Berliner Moscheen gelegt werden.
Bereits am 7. Dezember hatte der Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland e.V. (RIGD) in einer Pressemitteilung zur Beschäftigung mit der Thematik „Jerusalem“ in den Freitagsgebeten aufgerufen. In der öffentlichen Erklärung heißt es: „1. Der östliche wie der westliche Teil Jerusalems sind als arabisches muslimisches Land zu betrachten, das nicht alleiniger Besitz der Palästinenser ist, sondern Besitz aller Muslime weltweit.“9
Antisemitische Ausdrucksformen und Gewaltverherrlichung bei Veranstaltungen im Kontext der Proteste gegen die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem zwischen dem 7. und dem 11. Dezember 2017
RIAS Berlin und IIBSA sind insgesamt 21 Versammlungen bekannt, welche die Ankündigung der Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem zum Anlass hatten. Bei den folgenden zwölf liegen Belege für gewaltverherrlichende und antisemitische Bildsprache und Parolen vor. Bei den anderen kann das nicht nicht ausgeschlossen werden.
7. Dezember 2017
Berlin (Pariser Platz), 21:30–22:30 Uhr, ca. 40 Teilnehmende
Antisemitische Aussagen: In einer Rede wurde erklärt, dass die Palästinenser_innen „die Zeche“ für die NS-Verbrechen zahlen müssten. Weiter hieß es: „die wollen uns auslöschen – das ist die Wahrheit.“ Außerdem wurde behauptet, russische oder deutsche Jüdinnen_Juden könnten nicht von Antisemitismus betroffen sein, da sie keine „Semiten“ wären, während die Palästinenser_innen als „ursemitisches Volk“ rassifiziert wurden.
Symbole antisemitischer Terrororganisationen: Hamas-Flagge, Hamas-Stirnband. Gewaltaufrufe: In einer Rede fiel die Aussage, dass 99 Prozent des palästinensischen Volks „hinter jedem Widerstand“ stehen würden: „Gewalt kann und muss die Lösung sein“.8. Dezember 2017
Berlin (Pariser Platz), 16–19 Uhr, ca. 1.200 Teilnehmende, Veranstalter: Palästinensische Gemeinschaft Deutschland (PGD) e.V.10
Antisemitische Parolen: „Chaibar, Chaibar, ya yahud, dschaisch Mohammed saya'ud“ („Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer kommt bald wieder!“); „Kindermörder Israel“; „Tod Israel“. Symbole antisemitischer Terrororganisationen und antisemitische Bildsprache: Hamas-Flaggen, Hamas-Stirnband, Hizbollah-Flagge, Transparent „Trumpism Lobbyism Fuck Zionism get out“, Verbrennung einer Israel-Flagge und von einem Laken mit aufgemaltem Davidstern.11 Gewaltaufrufe: „Intifada“-Sprechchöre.Düsseldorf, 13–16 Uhr
Gewaltverherrlichende Bildsprache: Demonstrierende bildeten einen Kreis bzw. Gang, traten und spuckten auf eine am Boden liegende Israel-Flagge.
Antisemitische Gewaltaufrufe: Aufforderung zur Intifada gegen Israel.Hamburg – US-Konsulat, 14–16 Uhr, ca. 200 Teilnehmende; Veranstalter: Palästinensische Gemeinschaft Deutschland (PGD) e.V.*12
Antisemitische Bildsprache: Schilder mit einer durchgestrichenen Israel-Flagge und dem Schriftzug „Free Palestine/Boykott Israel“.Koblenz, 18–19:30 Uhr, ca. 40-60 Teilnehmende
Antisemitische Parolen: „Chaibar, Chaibar, ya yahud, dschaisch Mohammed saya'ud” („Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer kommt bald wieder!“).Mainz, 15–17.30 Uhr
Antisemitische Bildsprache: Darstellung einer Landkarte ohne Israel auf dem Ankündigungsplakat, Bild einer durchgestrichen Israel-Flagge wird mit Füßen getreten und versucht, zu verbrennen.9. Dezember 2017
Bremen, ab 10 Uhr, 50–100 Teilnehmende
Antisemitische Parolen: „Kindermörder Israel“.Dortmund, ab 12 Uhr, 300–350 Teilnehmende
Antisemitische Parolen: „Zionisten sind Faschisten“.Stuttgart, 15–17 Uhr, Veranstalter: Palästinensische Gemeinschaft Deutschland (PGD) e.V.13
Antisemitische Bildsprache: Plakat „Die Hauptstadt von Israel ist Washington – Fuck Trump und seine Anerkennung“, Plakat „Apartheid in Jerusalem – Nein Danke!“.München, 14 Uhr, mehrere hundert Teilnehmende
Angriff: Ein Teilnehmer brach durch die Polizeikette und versuchte, Gegendemonstrant_innen ein Transparent zu entreißen, die Polizei ging dazwischen und führte ihn ab.
Antisemitische Bildsprache: In der ersten Reihe wird ein Plakat mitgeführt, welches eine Landkarte ohne Israel zeigt.
Gewaltaufrufe: Aufforderung zur Intifada gegen Israel.10. Dezember 2017
Trier
Antisemitische Bildsprache: Plakat mit der Aufschrift „Stoppt den Kindermord und Kindesmissbrauch an palästinensischen Kindern – Israel muss vor den internationalen Strafgerichtshof“; Plakate mit einer Karikatur von Netanyahu als Monster, der nach dem Felsendom greift, darunter drei Personen, die sich Ohren, Augen und Mund zu halten.Berlin (Karl-Marx-Straße), 14–17 Uhr, ca. 2.500 Teilnehmende
Antisemitische Parolen: „Kindermörder Israel“, „From the river to the sea – Palestine will be free“, „Chaibar, Chaibar, ya yahud, dschaisch Mohammed saya'ud“ („Chaibar, Chaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer kommt bald wieder!“).
Symbole antisemitischer Terrororganisationen und antisemitische Bildsprache: Hamas-Flagge, Hamas-Stirnband; Transparent „Trumpism Lobbyism Fuck Zionism get out“, Verbrennung von einer selbstgemalten Israel-Flagge.
Gewaltaufrufe und Symbole von Terrororganisationen die Gewalt propagieren: „Intifada bis zum Sieg“, Aufforderung zur Intifada gegen Israel, Verherrlichung von Märtyrern, Schals von der Terrrororganisation „Palestinian Front the Liberation of Palestine“.
- Vgl.: Expressen GT, 9.12.2017, in: https://www.expressen.se/gt/brinnande-foremal-har-kastats-mot-synagoga-polisen-pa-plats-med-flera-patruller/ (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Vgl.: AT5, 7.12.2017, in: http://www.at5.nl/artikelen/176055/man-met-palestijnse-vlag-slaat-ruiten-joods-restaurant-in (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Veröffentlicht auf palabroad.org, 8.12.2017, vgl.: https://palabroad.org/post/view/1033 (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Posting auf dem Facebook-Profil von PGD e.V., 5.12.2017, vgl.: https://www.facebook.com/PalastinensischeGemeinschaftInDeutschlandEv/photos/a.709630205728462.1073741827.511034972254654/1928967957128008/?type=3&theater (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Hrg.), Verfassungsschutzbericht Berlin 2015, S. 57.↩↩
- Senatsverwaltung für Inneres und Sport (Hrg.), Verfassungsschutzbericht Berlin 2010, S.25 ff.↩↩
- U.a. Erdogan-Rede am 10.12.2017, vgl.: https://www.youtube.com/watch?v=kgD24Q1s9kA (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Die Welt, 9.12.2017, vgl.: https://www.welt.de/politik/deutschland/article171430290/Demonstranten-verbrennen-israelische-Flaggen-in-Berlin.html (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Pressemitteilung des RIGD am 7.12.2017, vgl. https://rigdonline.de/pressemitteilung-stellungsnahme-des-rates-betreffs-jerusalem/?lang=de (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Facebook-Posting der PGD e.V., 7.12.2017, vgl.: https://www.facebook.com/PalastinensischeGemeinschaftInDeutschlandEv/photos/a.709630205728462.1073741827.511034972254654/1930432680314869/?type=3&theater (Zugriff zuletzt am 12.12.2017)↩↩
- YouTube-Video des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus, veröffentlicht am 8.12.2017, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=AMIOARJJdcA (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
- Der Link ist abgelaufen. Ein Screenshot liegt vor.↩↩
- Facebook-Posting von Deutsch-Palästinensische Frauen für Frieden e.V., 8.12.2017, vgl.: https://www.facebook.com/1107784702684364/photos/pcb.1408140109315487/1408140059315492/?type=1&theater (Zugriff zuletzt am 12.12.2017).↩↩
RIAS-Sammlung bekannt gewordener antisemitischer Vorfälle in Berlin und im Bundesgebiet rund um den 9. November 2017
14. November 2017
RIAS BerlinRIAS-Sammlung bekannt gewordener antisemitischer Vorfälle in Berlin und im Bundesgebiet rund um den 9. November 2017
Rund um den 79. Jahrestag der Novemberpogrome kam es zu etlichen antisemitischen Vorfällen, insbesondere zu Störungen des Gedenkens und Provokationen durch Rechtsextreme. Die Abwehr der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus bildet eine verbreitete Form des Post-Schoa-Antisemitismus. Die folgenden Vorfälle wurden der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) entweder direkt gemeldet oder sind ihr im Zuge eines Presse-Monitorings bekannt geworden.
Im gesamten Bundesgebiet kam es zu antisemitischen Sachbeschädigungen sowie zu Störungen des Gedenkens. Nach der Veröffentlichung der Sammlung wurden RIAS weitere Vorfälle gemeldet welche Hier ergänzt wurden.
Berlin
In der Nacht vom 6. auf den 7. November wurden in Berlin-Neukölln 16 Stolpersteine gestohlen und vier weitere beim Versuch, diese aus dem Boden herauszureißen, beschädigt. Das Bündnis Neukölln und andere gehen davon aus, dass hinter der Aktion Neonazis stehen, und stellen einen Zusammenhang zu anderen rechtsextremen Übergriffen im Ortsteil Britz her.
Die antifaschistische Gedenkdemonstration in Berlin-Moabit am Abend des 9. November wurde mindestens drei Mal gestört. So wurde von Umstehenden oder Anwohner_innen unter anderem „Nieder mit Israel“, „Free Palestine“, „Ob Ost – Ob West, nieder mit der Roten Pest“ gerufen. Teilnehmende der Demonstration wurden als „Faschisten“ beschimpft.
Auf dem Potsdamer-Platz fand ebenfalls am 9. November eine Kundgebung der Gruppe BDS-Berlin statt. An dieser beteiligen sich etwa zehn Personen. Unter dem Label der Boykott-Bewegung wird Israel als „Apartheid“ und „Kolonie“ delegitimiert und zum Boykott von israelischen Waren aufgerufen.
Nordrhein-Westfalen
In Bünde (Nordrhein-Westfalen) wurde in der Nacht zum 9. November auf das Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden das Wort "#LÜgE" mit Kreide gekritzelt. Am nächsten Tag fotografierte eine Person aus dem Umfeld der rechtsextremen Kleinstpartei „III. Weg“ Personen kurz vor dem Beginn der Gedenkveranstaltung.
In Dortmund (Nordrhein-Westfalen) störten, wie schon in den Jahren zuvor, mehrere Neonazis die Gedenkfeier am Mahnmal für die Synagoge Dorstfeld. Dabei konnten diese nach ersten Störversuchen eine Kundgebung anmelden, die sogar mit einer Soundanlage ausgestattet war und an der mindestens neun Personen teilnahmen. Die Neonazis hielten hierbei Reichsfahnen und riefen mehrmals lautstark „Nie wieder Israel“. Auch ein Transparent mit der Aufschrift „Ein Volk, das seit zweitausend Jahren verfolgt wird, muss doch irgendwas falsch machen“ wurde gezeigt. Die Mobilisierung zu diesen Aktionen fand hauptsächlich über den offiziellen Twitter-Account des Dortmunder Ablegers der rechtsextremen Partei „Die Rechte“ statt.
In Siegen (Nordrhein-Westfalen) wurden in der Nacht vom 7. auf den 8.11. einen Stolperstein mit einem Hakenkreuz beschmiert sowie Blumen, die zum Gedenken neben die Stolpersteine gelegt worden waren, zerstört. Die Blumen waren am Abend des 7. im Rahmen eines „antifaschistischen Gedenkspaziergangs“ niedergelegt worden. Es wurde Anzeige erstattet, die Schmiererei wurde entfernt.
In Ratingen (Nordrhein-Westfalen) wurde am 7. November an die Außenwand einer Gaststätte der Schriftzug „Juden“ geschmiert, in unmittelbarer Nähe sind Stolpersteine verlegt.
Rheinland-Pfalz
In Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) wurde in der Nacht zum 10. November ein Kranz, der anlässlich des Gedenkens an den 9. November niedergelegt wurde, zerstört.
In Mainz (Rheinland Pfalz) wurden am Nachmittag des 9. November Rosen zerstört oder entfernt, die im Gedenken an die Opfer der Schoa an Stolpersteinen niedergelegt worden waren. Insgesamt wurden an allen fünf Orten, an denen im Stadtteil Ebersheim Stolpersteine verlegt sind, Rosen zerstört, entwendet oder weggeworfen. Auch in den vergangenen Jahren war es hier am 9. November in kürzester Zeit zur Zerstörung oder Entfernung von an Stolpersteinen niedergelegten Blumen gekommen. Anzeige wurde erstattet.
Thüringen
In Arnstadt (Thüringen) wurde im Zeitraum vom 1. September bis 8. November der Gedenkstein für die jüdische Gemeinde beschädigt.
In Gotha (Thüringen) fand eine rechtsextreme Kundgebung am jüdischen Friedhof statt, an der fünf Personen teilnahmen. Dabei führten diese neben Reichsfahnen auch ein Transparent mit, auf dem „Schluß mit dem Schuldkult“ gefordert wurde. Im Anschluss fuhren die Neonazis zum Denkmal für die am 9. November 1938 zerstörte Synagoge, um dort gegen eine am Denkmal endende Gedenkveranstaltung zu protestieren. Beide Kundgebungen der Rechtsextremen waren angemeldet.
In Meiningen (Thüringen) wurde bereits am 3. oder 4. November das Denkmal für Max Reger im Englischen Garten mit der Aufschrift „WAR EIN JUDE“ beschmiert. Die Sachbeschädigung wurde bei der Polizei angezeigt, Mitglieder der Partei Die Linke entfernten den Schriftzug am Sonntag. Der Komponist, Organist und Pianist Max Reger war ab 1911 Hofkapellmeister in Meiningen. Das Denkmal für den Katholiken Reger war schon 1937 errichtet worden.
In Apolda (Thüringen) wurden um den 9. November neben mehreren Stolpersteinen SS-Runen auf dem Boden geschmiert.
Sachsen
Teilnehmende einer Gedenkandacht der Kirchengemeinde Cyrill-Methodosius in Bautzen (Sachsen) wurden am Nachmittag des 9. November aus mehreren Autos heraus fotografiert und als „Judendrecksau“ beschimpft. Bereits zuvor war die Andacht am Postplatz aus einer Gruppe Jugendlicher heraus beschimpft worden.
In Dresden (Sachsen) wurde eine am 9. November an einem Stolperstein aufgestellte Kerze kurz darauf entwendet. Nachdem diese ersetzt wurde, trat ein Passant die neue Kerze schimpfend um.
Ebenfalls am 9. November wurden in Dresden durch einen Polizeibeamten Personen angewiesen, Kerzen, die zum Gedenken neben Stolpersteinen aufgestellt wurden, zu löschen. Diese verstehe er als „unbeaufsichtigtes Feuer“. Am nächsten Tag distanzierte sich die sächsische Polizei von dem Verhalten ihres Beamten.
In Döbeln (Sachsen) störten Mitglieder der NPD-Jugendorganisation JN den örtlichen Gedenkmarsch, indem sie sich mit Schildern mit der Aufschrift „Wer kriecht kann nicht stolpern!“ vor den Gedenkenden platzierten und Fotos machten. Die Aufschrift nahm Bezug auf die Döbelner Stolpersteine bzw. die Putzaktion einer lokalen Initiative anläßlich des 9. November.
In der Nacht auf den 10. November wurde an eine Kirche in Oschatz (Sachsen) ein 1,40×2 Meter großer Davidstern mit beleidigender Aufschrift geschmiert. Die Polizei ermittelt.
Hessen
Einen Artikel der rechtskonservativen Zeitung „Junge Freiheit“ aufgreifend stellte am 9. November der AfD-Kreisverband Fulda (Hessen) ein Bild von Martin Hohmann auf Facebook. Auf dem Sharepic heißt es zudem: „Bundestageinzug von Martin Hohmann – Eine späte Rehabilitierung – Geradlinigkeit kann sich durchsetzen“. Martin Hohmann hatte 2003 bei einer Rede zum Tag der deutschen Einheit die Juden als ein „Tätervolk“ bezeichnet und wurde im Zuge der darauffolgenden Debatte aus der CDU ausgeschlossen.
In Wiesbaden (Hessen) wurde die Glasvitrine am Mahnmal für die in Sobibor ermordeten Geschwister Stock am gleichnamigen Platz zerschlagen.
Baden-Württemberg
In Konstanz (Baden-Württemberg) wurden in der Zasiusstraße im Stadtteil Paradies mehrfach Blumen sowie eine Kerze zerstört, die an einem Stolperstein niedergelegt wurden.
Niedersachsen
In Oldenburg (Niedersachsen) wurden Gedenkende, die beim Erinnerungsgang israelische Flaggen trugen, angefeindet. Ein jugendlicher Passant kommentierte die Flaggen mit den Worten, es sei „schade, dass Al Qaida nicht da ist, um Allahu Akbar zu machen [sic]“.
In Nordhorn (Niedersachsen) wurde in der Nacht vom 11.11 auf den 12.11 ein Gedenkkranz in der alten Synagogenstraße zerstört.
Antisemitische und israelfeindliche Vorfälle beim Straßenumzug zum Christopher Street Day (CSD) am 21. Juli 2016 in Berlin
21. Juli 2017
RIAS BerlinAntisemitische und Israel-feindliche Vorfälle beim Straßenumzug zum Christopher Street Day (CSD) am 21. Juli 2016 in Berlin
Am vergangenen Wochenende wurden rund um das Schwul-Lesbische Straßenfest in der Schöneberger Motzstraße etliche mit Kreide aufgetragene Sprüche und Sticker entdeckt, die Israel „Pinkwashing“ vorwarfen und als Apartheid dämonisierten. Da die „Pride-Saison“ auch schon in den letzten Jahren von gezielten Störaktionen und antisemitischen Gewalt-Vorfällen begleitet wurde, wollen wir kurz vor dem Christopher Street Day (CSD) in Berlin auf einige der Vorkommnisse im vergangenen Jahr aufmerksam machen.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) erhielt im Nachgang des letztjährigen CSD ausführliche Berichte über antisemitische und Israel-feindliche Vorfälle, die sich im Kontext der Parade ereigneten. Die meldende Person nahm zeitweise als Ordner und später als Teilnehmer an der CSD-Parade teil. Während der ganzen Zeit trug die Person offen eine Israel-Fahne mit sich herum.
Der erste Vorfall war eine gezielte Störung von ca. 15 Aktivist_innen des Zusammenhangs „Berlin Against Pinkwashing“1 (BAP) während der Eröffnungsreden des CSD gegen 12:20 Uhr. Die Gruppe hatte zunächst, auf dem Gehweg stehend, am Kranzler-Eck ein Transparent mit der Aufschrift „Queers against Israeli Apartheid – Berlin against Pinkwashing“ sowie mehrere Styroporplatten und A4-Zettel mit weiteren Israel als Apartheid dämonisierenden Sprüchen hochgehalten. Als ein Vertreter der israelischen Botschaft seine Rede begann, drängte eine Gruppe von acht bis zehn BAP-Aktivist_innen Parolen rufend in Richtung des Wagens, von dem aus die Rede gehalten wurde. Sie versuchten dabei unter Anwendung von Gewalt, die von CSD-Ordner_innen und Israel-solidarischen Teilnehmer_innen gespannte Absperrung zu durchbrechen. Als ihnen mit Parolen geantwortet wurde, eskalierte die Situation für einen kurzen Augenblick. Nur die herbeigerufene Polizei vermochte es, der Störaktion ein Ende zu setzen, drängte die BAP-Aktivist_innen aus der Parade und erteilte der Gruppe Platzverweise für den gesamten Aufzug. An der Aktion nahmen auch Aktivist_innen der Berliner Gruppe F.O.R. Palestine teil, welche die willkürliche Tötung israelischer Zivilist_innen als Form des legitimen Widerstands betrachtet.
Der zweite Vorfall ereignete sich, als sich der Zug um 12.45 Uhr in Bewegung setzte. Die meldende Person war als Ordner an einem der Paradewagen eingesetzt. Ein am Rand stehender Mann rief ihm an der TauentzienStraße, Ecke Joachimsthaler Straße, zu: „Was willst du denn mit dieser dreckigen Fahne hier?“ Dem folgten weitere antisemitische Äußerungen, die nur bruchteilhaft verstanden wurden. Es fielen Sätze wie „Die Juden sollten sich schämen…“ und „Die Juden sind die wahren Mörder …“ bis hin zur Rechtfertigungen von Genoziden an Jüdinnen und Juden. Als er angesprochen wurde, entfernte sich der Mann zunächst, kam dem Ordner dann aber bedrohlich nahe und versuchte mehrfach gezielt das Gesicht des Ordners mit der Israel-Fahne zu fotografieren.
Gegen ca. 13:45 Uhr trat ein Mann auf Höhe An der Urania auf den Ordner zu und beleidigte ihn mit den Worten „Drecks Jude - Mörder, Mörder“. In der gleichen Situation lief ein Mann vorbei, der ein T-Shirt trug, auf dem mit Edding geschrieben war: „Queer against Israeli Apartheid – No Pinkwashing of Berliner CSD“.
Neben diesen antisemitischen Vorfällen, die mehr oder weniger in der Menge und der Lautstärke untergingen hatte die meldende Person auch viele positive Begegnungen mit Teilnehmenden, welche sich nicht an der Israel-Fahne störten.
Auswertung des Qudstag-Marsches 2017
2. Juli 2017
RIAS BerlinAuswertung des Qudstag-Marsches 2017
Am diesjährigen Qudstag-Marsch vom Adenauerplatz bis zum Wittenbergplatz in Berlin, der unter dem Motto „Nein zu Trump! Nein zur zionistischen Apartheid! Nein zum Terror und deren Unterstützern! Nein zum Krieg!“ stattfand, nahmen zwischen 600 und 650 Personen teil, wobei der Frauen- und Kinderanteil größer als im Vorjahr war.
Schoa relativierende Rede und israelbezogener Antisemitismus auf einer Kundgebung in Berlin-Neukölln
28. April 2017
RIAS BerlinSchoa relativierende Rede und israelbezogener Antisemitismus auf einer Kundgebung in Berlin-Neukölln
Am 17. April 2017 nahmen etwa 50 Personen an einer Kundgebung der „Protest PA Security Coordination w/ Israeli Occupation“ gegen die Sicherheitskooperation zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde teil. Diese fand im Rahmen der internationalen Kampagne „End Security Coordination“ statt, die an diesem „Tag der palästinensischen Gefangenen“ Kundgebungen in acht Städten Europas und der USA einschloss.
Durch eine aggressiv gehaltene Rede fiel Tarek M. auf, der als Aktivist der Gruppe For One State and Return Palestine (FOR-Palestine) bekannt ist. Er und andere Aktivist_innen dieser Gruppe waren im vergangenen Jahr durch gewalttätiges Auftreten im Umfeld einer Filmvorführung im Kino Moviemento sowie am 1. Mai aufgefallen. Auf ihrem Internetblog fordert der Zusammenhang die Beseitigung Israels, die Bekämpfung des Zionismus mit allen dafür zur Verfügung stehenden Mitteln und legitimiert Angriffe und Tötungen gegen jüdische Zivilist_innen in Israel. In der am Hermannplatz gehaltenen Rede sprach M. dem Selbstverständnis der Gruppe entsprechend dem Staat Israel jede Existenzberechtigung ab: Zionisten hätten im Nahen Osten nichts verloren, es ginge der palästinensischen Befreiungsbewegung um den „gesamten palästinensische[n] Boden“. Mit dem Slogan „Nieder mit dem Zionismus“ und der Behauptung, der Zionismus sei ein Apartheidsystem, sprach er dem jüdischen Volk das Recht auf nationale Selbstbestimmung ab. Auch bei der Verwendung marxistischer Begrifflichkeiten konstruierte er die Israelis als homogenen Feind: Auch vom „israelischen Proletariat“ habe man nichts zu erwarten, da es vom Zionismus profitiere. M.‘s Rede war darüber hinaus von der Verherrlichung der Gewalt gegenüber Israelis geprägt. „Es lebe der palästinensische Widerstand in all seinen Formen“, so M., was implizit auch den Terror von Hamas und anderen Gruppen gegen die israelische Zivilbevölkerung miteinschloss.
Darüber hinaus relativierte Tarek M. in seiner Rede die Schoa: Angeblich würde „Deutschland (nochmal) genau das Gleiche“ wie „damals“ tun, nämlich die Augen darüber verschließen und sagen, „wir haben nicht gesehen, dass unsere Verwandten, unsere Bekannten, unsere Nachbarn verschleppt und in Konzentrationslagern ermordet wurden.“ Eine aus der Schoa resultierende Verantwortung der heutigen Gesellschaft tat M. als „deutsche Befindlichkeit“ ab und wies sie auch für sich zurück: „Es ist nicht unsere Geschichte, unsere Vergangenheit.“
Die genannten Passagen vermitteln einen Einblick in das Weltbild des Redners der Gruppe FOR-Palestine, welches jüdisches Leben im Nahen Osten auch unter Einbezug von unzulässigen Vergleichen der israelischen Politik mit dem Nationalsozialismus nahezu vollständig delegitimiert, gewaltvoll bedroht und negiert. Auch die Umstehenden rief M. zu Gewalttaten auf: „Wollt ihr mit uns kämpfen? Seid nicht solidarisch mit uns, sondern werdet ein Teil des Kampfes!“
Monitoring der Demonstration „Stoppt den Krieg gegen den Jemen“: Antisemitische Hetze unterm Brandenburger Tor
6. April 2017
RIAS BerlinMonitoring der Demonstration „Stoppt den Krieg gegen den Jemen“: Antisemitische Hetze unterm Brandenburger Tor
Am 1. April 2017 demonstrierten ca. 100 Personen gegen die militärische Intervention Saudi-Arabiens im Jemen. Die Route verlief direkt vom Potsdamer Platz vorbei am Denkmal für die ermordeten Juden Europas zum Brandenburger Tor. Der Veranstalter der Demonstration war der jemenitische Aktivist Saif al-W., der 2015 auffiel, als er auf dem Berliner Alquds-Marsch „Tod Amerika, Tod Israel, verdammt seien die Juden und Sieg dem Islam“ vom Lautsprecherwagen rief.
Neben Unterstützer_innen der schiitischen Huthi nahmen an der Demonstration Personen unterschiedlicher politischer Spektren teil. So waren sowohl Anhänger der „Antiimperialistischen Aktion“ als auch Personen aus dem Umfeld des rechtsextremen „Bärgida“-Aufzuges und der sogenannten „Montagsmahnwachen für den Frieden“ vertreten. Auch eine Person, die in der Vergangenheit aktiv in einer neonazistischen, sogenannten „nationalrevolutionären“ Kameradschaft mitwirkte, nahm an der Demonstration teil. Am Startpunkt war der von der Münchner „Montagsmahnwache für den Frieden“ bekannte Querfront-Aktivist Hendra K. vor Ort, der im März 2016 bei der ersten rechtsextremen „Merkel muss weg“-Demonstration als Redner auftrat und dabei durch die Verwendung antisemitischer Stereotype aufgefallen war. Auf einem Transparent bei der Demonstration am Samstag wurde suggeriert, dass u.a. Israel und die USA durch finanzielle Bestechung die Vereinten Nationen am Eingreifen in den Konflikt hindern würden.
Der Querfront-Charakter der Demonstration wird insbesondere an den Redner_innen am Endpunkt der Demonstration direkt am Brandenburger Tor deutlich: So sprachen Elke F. und der Schwede Ulf. S. vom „Schiller Institut“. Dieses Institut gilt als „Think Tank“ der LaRouche-Sekte, die in Deutschland z.B. als Kleinstpartei „Bürgerbewegung Solidarität“ (BüSo) in Erscheinung tritt und unter anderem mit Verschwörungsmythen auffällt. Bei einem weiteren Redner handelte es sich um Said D. Dieser hatte 1970 in Jordanien die militärische Ausbildung einer Gruppe der „Roten Armee Fraktion“ in Begleitung von Horst Mahler organisiert und spricht sich seit den 2000er Jahren offen für eine – auch militante – Bekämpfung der „faschistischen Zionisten“ und ihrer Unterstützer_innenkreise aus.
Als letzter Redner trat der erst zur Abschlusskundgebung erschienene Jürgen G. auf, der über Jahre den Al-Quds-Marsch in Berlin organisierte. Seine Rede war gespickt von antisemitischen Verschwörungsideologemen und obsessiver Israelfeindschaft. So behauptete er, die „zionistische Führung“ stecke hinter dem „saudischen Schreckensregime“, er dagegen sei heute vor Ort, „um die deutsche Öffentlichkeit eindringlich über die Wahrheit über die zionistisch ausgerichtete USA-Regierung aufzuklären.“ G. zufolge haben „alle diese reichen Ölstaaten mit ihren reaktionären Regimen sowie Israel“ einen „teuflischen Plan ausgeheckt“, den sie mit „Bombardierung aus der Luft, ISIS-Mörderbanden auf dem Boden“ umsetzen würden. Gegner dieses vermeintlichen Planes werden „durch dieses Machtvakuum – Banken, Amerika, Israel, Saudi-Arabien – in Schmutz und Elend gezogen, was auch wir zu spüren bekommen.“ Er wiederholte mehrfach diese Aussagen und resümierte: „ISIS ist ein Produkt der Zionisten – der Regierung von Amerika; und wir Muslime fallen alle darauf ein. Nieder mit dem zionistischen Regime in Israel! Nieder mit dem amerikanischen Regime!“
Sammlung bekannt gewordener antisemitischer Vorfälle in Berlin und im Bundesgebiet am 9. November 2016
Rund um den 78. Jahrestag der Novemberpogrome kam es zu etlichen antisemitischen Vorfällen, insbesondere zu Störungen des Gedenkens und Provokationen durch Rechtsextreme.
18. November 2016
RIAS BerlinSammlung bekannt gewordener antisemitischer Vorfälle in Berlin und im Bundesgebiet am 9.November 2016
Rund um den 78. Jahrestag der Novemberpogrome kam es zu etlichen antisemitischen Vorfällen, insbesondere zu Störungen des Gedenkens und Provokationen durch Rechtsextreme.
Im gesamten Bundesgebiet kam es zu Störungen des Gedenkens und antisemitischen ProvokationenBerlin
Eine Neonazi-Gruppe aus Berlin-Neukölln postete auf Facebook eine Karte mit jüdischen Einrichtungen in Berlin. Unter der Überschrift „Juden unter uns!“ und mit einem Verweis auf das Datum als „schöner Tag“ veröffentlichten sie die Adressen von Synagogen, Kindertagesstätten, Schulen und koscheren Supermärkten und Restaurants. Die Facebook-Seite ist mittlerweile gelöscht worden.
Der antifaschistischen Gedenkdemonstration am Abend in Berlin-Moabit wurde von einem Anwohner „dreckige Juden“ sowie „Freiheit für Palästina“ hinterher gerufen.
In den Wochen zuvor kam es in Moabit mehrfach zu Sachbeschädigungen an unterschiedlichen Erinnerungsorten für die deportierten Jüdinnen und Juden. Nur wenige Tage später am 12. November wurde das Mahnmal in der Levetzowstraße erneut mit den Wörtern „Jesus“, „Liebe“ und „Wahrheit“ vollgeschmiert. Am 16. November waren am Mahnmal auf der Putlitzbrücke nur doch die Reste einer nach dem 9. November angebrachten Schmiererei erkennbar. Auch das Schild der Initiative „Sie Waren Nachbarn“ wurde am 12. November erneut Ziel antisemitischer Sachbeschädigungen. Das Wort „Gas“ war durchgestrichen und ein „Nein“ neben die Aussage des Plakats „Von hier fuhren Züge in Gas“ angebracht.
Brandenburg
Laut einer Polizeimeldung wurden in Frankfurt/Oder (Brandenburg) vor dem jüdischen Gemeindezentrum Zettel mit einem Gedicht vorgefunden, welches den Hitlerputsch vom 9. November 1923 verherrlichte.
Nordrhein-Westfalen
In Dortmund (Nordrhein-Westfalen) störten mehrere Neonazis die Gedenkfeier am Mahnmal für die Synagoge Dorstfeld. Ausgestattet mit einer Palästina- und einer Reichs-Fahne riefen sie in unmittelbarer Nähe der Kundgebung „Nie wieder Israel“ und „Palästina bis zum Sieg“. Die Polizei erteilte neun Platzverweise. Der stellvertretende Landesvorsitzende der rechtsextremen Partei Die Rechte, M. Brück, der einen Online-Versand namens „antisem.it“ betreibt, versuchte sich unter die Gedenkenden zu mischen.
Baden-Württemberg
In Göppingen (Baden-Württemberg) wurde eine Gedenkfeier gestört. Es wurden Böller gezündet und aus Autos heraus, Deutschlandflaggen gezeigt und „Juden raus“ und „Juden raus aus Palästina“ gerufen. Bereits auf dem Weg zum Synagogenplatz waren antisemitische Aufkleber der rechtsextremen Partei „Der III. Weg“ verklebt worden.
Bayern
Das Müncher Aida-Archiv berichtete von einer NPD-Versammlung am 9. November in Freising (Bayern). Die 12 Teilnehmenden führten auch brennende Fackeln bei sich. Auf Transparenten war von „70 Jahre Siegerjustiz“ und „70 Jahre Lüge, Mord und Krieg“ zu lesen.
Thüringen
In Jena (Thüringen) zog „THÜGIDA“ mit Fackeln und Reichsfahnen durch das Damenviertel. Teilgenommen hatten laut Berichten auf Twitter auch verurteilte Schoa-Leugner wie Christian Bärthel und Jörg Krautheim.
In Dresden (Sachsen) und Pinneberg (Schleswig-Holstein) sind laut Berichten auf Twitter Kerzen und Blumen zerstört worden, die an Stolpersteinen abgelegt worden waren.
Strategie der Täuschung und antisemitische Ausdrucksformen auf einer Demonstration am 8. Oktober 2016 in Berlin-Mitte
13. Oktober 2016
RIAS BerlinStrategie der Täuschung und antisemitische Ausdrucksformen auf einer Demonstration am 8. Oktober 2016 in Berlin-Mitte
Am Samstag, den 8.Oktober 2016 zog eine Demonstration unter dem Motto „Raus aus der Nato“ vom Berliner Alexanderplatz vor die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika am Pariser Platz. Die Versammlung mit 280–300 Teilnehmenden fand parallel zu einer bundesweiten Demonstration der „Friedensbewegung“ mit mehreren tausend Teilnehmenden statt und ist Ausdruck einer teilweise erfolgreichen Strategie der Täuschung. Der Name der Veranstaltenden als „Friedensbewegung bundesweite Koordination“ soll den Status als Splitter-Gruppierung großmündig kaschieren. Etliche Menschen, die eigentlich zu der größeren Demonstration wollten, landeten aufgrund der räumlichen Nähe der beiden Auftaktorte, der fast identischen Werbebanner und der beide Versammlungen dominierenden ablehnenden Haltung der NATO gegenüber auf der falschen Veranstaltung.
Maßgeblich organisiert wurde die Täuschungsaktion von Frank Geppert – Mitinitiator der anti-amerikanischen „Engagierten Demokraten gegen die Amerikanisierung Europas“ (EnDgAmE) und der rechtsoffenen Montagsmahnwache Halle wowie Stephan Steins, welcher sich nach eigenen Angaben seit 1992 für die Zeitschrift „Rote Fahne“ verantwortlich zeigt. Beide sind darum bemüht, gesellschaftliche Widersprüche auf ein klares Freund-Feind-Schema zu reduzieren. Während Steins vorwiegend die Begriffe des „imperialen Faschismus“ bzw. die „imperiale Rechte“ zur Benennung des Feindes verwendet, zieht es Geppert vor die NATO und Mechanismen, wie TTIP als „Ermächtigungsgesetze“ direkt zu benennen. Die politische Agenda beider ist es, den Einfluss der USA auf die deutsche Gesellschaft als überproportional groß zu beschreiben, um quer zu politischen Lagern – ob mit palästinensischen Assad-Anhänger_innen, rechten Russlandfreund_innen, Reichsbürger_innen oder anti-imperialistischen Linken und TTIP-Gegner_innen ein anti-amerikanisches Bündnis zu bilden. Folgender Satz fasst die krude verschwörungstheoretische, nationalistische und anti-imperialistische Weltsicht der Organisator_innen zusammen: „Nur indem die USA weiterhin ihr eigenes künstliches Produkt BRD kontrollieren können, sekundiert durch die nationale deutsche Bourgeoisie, ist es dem Imperium möglich, seine aggressiven Expansionsbestrebungen durchzusetzen.“
Die Täuschung der Öffentlichkeit mündete in einem Bericht auf der Internetseite der „Roten Fahne“ mit dem Titel „Tausende fordern in Berlin: Raus aus der Nato!“. Zwar demonstrierten am Samstag tatsächlich mehrere Tausend Menschen für Frieden und gegen die NATO-Politik – am Brandenburger Tor schlossen sich auch die Teilnehmenden der hier dokumentierten Versammlung problemlos der großen Demonstration an – jedoch nahmen an der in dem „Rote Fahne“-Bericht mit Bildern beschriebenen Demo eben nur wenige Hundert teil.
Das Video unter Link zeigt antisemitische Gesprächsstrategien und Topoi von Teilnehmenden und einem Redner auf der „Raus aus der NATO!“ Demonstration.
Ein Teilnehmer führte ein Plakat mit einem Zitat des verurteilten Schoa-Leugners Horst Mahler mit sich, auf dem dieser sich für die Abschaffung des §130 StGB (Volksverhetzung) ausspricht. Auf der Rückseite fand sich zudem folgender Text: „Frieden geht nicht ohne Wahrheit: 1. Islamistischer Terror ist eine Erfindung westlicher Geheimdienste. 2. Zionisten stecken hinter den Geheimdiensten.“
Ab der elften Sekunde ist ein Gespräch zwischen dem Halter des Schildes und weiteren Teilnehmenden vernehmbar. Es beginnt mit der Aussage „Die, die Politik lenken sind die Juden, dass muss man sagen“. Der bärtige Mann mit Glatze, der am Abschlussort eine Rede hielt und durch die Moderation als Bernd vorgestellt wurde, sagt in der Situation u.a. folgendes: „der Glaube ist nur eine Tarnkappe“, so werde jegliche Religion missbraucht, um die Herrschaft des „auserwählten Volkes“ durchzusetzen. Auf die Bitte des hinzukommenden Mannes mit der Mütze, dass man Judentum und Zionismus unterscheiden möge, stellt der Halter des Transparents für sich fest: „Zionisten sind Juden, das kann man so sagen“. Durch diese unzweideutige Aussage enttarnt er seine Kommunikationsstrategie von „Zionisten“ statt von „Juden“ zu sprechen.
Ab Sekunde 56 wird eine Auseinandersetzung zwischen einer Teilnehmerin mit Usama Zimmermann über seine antisemitischen Plakate gezeigt. Usama Zimmermann mit seinen offen antisemitischen Plakaten tritt seit längerer Zeit immer wieder auf politischen Veranstaltungen auf, häufig steht er aber auch einfach am Hermannplatz, Kottbusser Tor oder am Pariser Platz. In der Filmsequenz sagt er u.a.: „Die Zionisten haben den 2.Weltkrieg gemacht und beschuldigen Neonazis. […] Die Zionisten geben die Schuld immer den Anderen.“ Für seine offenen Worte gegen die Allmacht der „Zionisten“ erhält Zimmermann von mehreren Personen Zuspruch, so von einer Unterstützerin des „Compact-Magazins“.
Ab Minute 1:31 sieht man den ersten Teil der Hauptrede der Demonstration durch den Palästinenser Said Dudin. Er organisierte 1970 in Jordanien die militärische Ausbildung einer Gruppe der „Roten Armee Fraktion“ in Begleitung von Horst Mahler und engagiert sich seit den 2000er Jahren offen für eine ggf. militante Bekämpfung der „faschistischen Zionisten“ und ihrer Unterstützer_innenkreise.
In dem Auszug seiner Rede relativiert er die nationalsozialistischen Nürnberger Gesetze, bezeichnet das Judentum als „bundesdeutsche Philosophie“ und erfindet ein Heer von 47.000 Soldaten („mit Weltkriegserfahrung“), welches 1946 durch die USA ins Mandatsgebiet Palästina entsandt wurde, mit deren Hilfe der Unabhängigkeitskrieg geführt worden sei, den er als „erste(n) Aggressionskrieg der zionistischen Kolonialisten“ bezeichnet.
Auswertung des Qudstag-Marsches 2016
7. Juli 2016
RIAS BerlinAuswertung des Qudstag-Marsches 2016
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS), Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) e.V und Register Charlottenburg-Wilmersdorf
Der diesjährige Qudstag-Marsch am 2. Juli wurde erstmals von Gerhard Bauer angemeldet, der auf der Auftaktkundgebung als „christlicher Freund“ anmoderiert wurde. Die Zahl der Teilnehmenden lag am Auftaktort zwischen 750–800 und kurz vor der Abschlusskundgebung bei 850–900 (2015: 800).
[Weiterlesen im PDF](https://report-antisemitism.de/media/16-07-07 Auswertung-des-Qudstag-Marsches-2016.pdf)
Antisemitische Ausdrucksformen am 7. Mai 2016 in Berlin Mitte
9. Juni 2016
RIAS BerlinAntisemitische Ausdrucksformen am 7. Mai 2016 in Berlin Mitte
Auftaktkundgebung der „Merkel muss Weg“ Demonstration
Die Rede von Eric Graziani Grünwald (ehemaliger Chef von Legida) bedient antisemitische Verschwörungtheorien und relativiert den Nationalsozialismus. Er behauptet Deutschland sei vor allem „unterdrückt“ von den „Banden-Lobbyisten mit ihren Rothschilds und Soros-Clanfamilien, die in der Führungsebene sitzen und Europa in ein Chaos der Verwüstung und Bürgerkriege stürzen". Er betrachtet die Merkel-Regierung „als gefährlicher als der Nationalsozialismus während des Dritten Reiches“. In der Rede des Schweizers Ignaz Bearth werden Angela Merkel und ihr „Regime“ als „Vasallen der US-Amerikaner“ charakterisiert.1
Demonstrationszug „Merkel muss Weg“
Immer wieder wurde die Parole „Nie wieder Israel“ gerufen.2 Journalist_innen wurden als „Lügenpresse“ oder „Judenpresse“ beschimpft.3 Mehrere Demonstrationsteilnehmer_innen trugen Aufkleber, auf denen „Fuck you Israel“, und ein durchgestrichener Davidstern abgebildet war. Ein Teilnehmer der Demonstration trug ein T-Shirt der rechtstextremen Band „Die Lunikoff Verschwörung“. Der darauf abgebildete Spruch „20 Jahre Rock ’n’ Rollocaust“ verherrlicht die Schoa.
Gegenproteste
Uns wurde gemeldet, dass am Auftaktort der „Merkel muss Weg“ Demonstration eine Person Schilder mit verschwörungstheoretischen Inhalten zeigte: „The Zionist hides Behind the Secret Agency and terroizes the Whole World“, “Die zionistischen niederländischen und deutschen Staatsanwälte mit Rechtsanwälten beteiligen am Mord der Ausländer und psychischer Folter“ (sic!) und „Der Zionismus stellt sich gegen alle Weltreligionen egal ob Moslem, Christ, oder Juden – Salafisten“ (sic!). Dieselbe Person mit den gleichen Schildern wurde uns in den vergangenen Monaten mehrmals gemeldet: z.B. am 14. April am Kottbusser Tor oder am 15. Mai in nahe des Karl-Marx-Platzes in Neukölln.
Folgendes wurde uns ebenfalls gemeldet: Gegen 17:30 Uhr bewegte sich eine Gruppe von Protestierenden auf der Mittelstraße bei dem Versuch näher an die „Merkel muss Weg!“ Abschlußkundgebung heranzukommen. Auf die Parole „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda“ rief ein ca. 60-jähriger Mann laut „Es gibt kein Recht auf Juden-Propaganda“ und behauptete dass die Demonstrierenden von Google und Facebook kontrolliert seien. Eine Reaktion auf diese antisemitische Parole blieb aus. Der Rufende verschwand in der Menge.
Die dritte Meldung an dem Tag bezieht sich auf einen Büchertisch von „Gustav Rust“ in der Ebertstraße. Die ausgelegten Bücher bedienen bereits von ihren Titeln her revisionistische, revanchistische und antisemitische Deutungen des Nationalsozialismus und der Schoa. Eine Auswahl der ausgelegten Büchertitel: „Prof. Dr. Marcel Reich-Ranicki. Der Eichmann von Kattowitz“, „Alliierte Kriegsverbrechen“, „Sachsenhausen – Vorkuta. Ten Years in the Hands of the Soviets“. Auf einem aufgestellten Poster sind Bilder aus dem Buch „Der Tod sprach polnisch – Dokumente polnischer Grausamkeiten an Deutschen 1921–1939“ abgedruckt. In einem Text wird behauptet ein Kommandeur des „rot-polnisches KZ Schwientochlowitz“ würde gegenwärtig durch Israel vor einer Strafverfolgung geschützt.
Antisemitische Vorfälle am 9. November in Berlin
10. November 2015
RIAS BerlinAntisemitische Vorfälle am 9. November in Berlin
Am 77. Jahrestag der Pogromnacht provozierten Rechtsextreme mit drei Versammlungen im Zentrum Berlins. Mehrere Orte des Gedenkens in Moabit wurden antisemitisch beschmiert. Die antifaschistische Demo zur Erinnerung an die Deportation Berliner Juden_Jüdinnen durch Moabit wurde beworfen und mehrfach antisemitisch angefeindet, ein Fahrgast meldete uns antisemitische Kommentare in der S-Bahn.
Schmierereien
Wie uns die Polizei mitteilte, stellte sie morgens am Mahnmal in der Levetzowstraße mit einem schwarzen Edding aufgetragenen Schriftzüge fest: „Ausc..it. 1058“ „Ausgelogen witz 1058“ „lernt die Wahrheit lest die Revisionsliste“, „höre die Wahrheit wer immer sie spricht“. Das Mahnmal an der Putlitzbrücke war ebenfalls mit schwarzer Farbe beschmiert: „Gaskammer-Lüge“, „Holohoax – Die Täter sind Zionisten“ „9.11. - false flg“.
Moabit.net informierte darüber, dass auf einem provisorischen Gedenkort an den historischen Gleisanlagen des Deportationsbahnhofs unter der Putlitzbrücke der Initiative „Sie waren Nachbarn“ in der Ellen-Epstein-Straße „Alles Lüge!“ aufgetragen wurde.
Das Stadtteilzentrum Marzahn-Mitte und zwei weiteren Einrichtungen in Marzahn, die z.T. in der Flüchtlingshilfe aktiv sind, wurden in der Nacht vom 9./10. November mit antisemitischen Schmierereien beschädigt. Auf eine Scheibe wurde mit silberner Farbe groß ein „J.“ und ein Davidstern aufgemalt.
Rechtsextreme Provokationen
Drei Veranstaltungen aus unterschiedlichen rechtsextremen Spektren wurden in den Bezirken Mitte und Pankow durchgeführt. Die Mahnwache der „Staatenlos“-Reichsbürger um R. Klasen fand dieses mal mit max. 20 Teilnehmenden unmittelbar vor dem Bundestagsgebäude Paul-Löbe-Haus statt. Wie schon in jüngster Vergangenheit nutzte auch die NPD den Tag, um in den Abendstunden, nur wenige 100 Meter vom „Mahnmal für die Ermordeten Juden Europas“ entfernt ihre rechtsextremen Deutungen zum 9. November vorzutragen. Das Team von Berlin rechtsaußen kommentierte die Aussagen des NPD-Landesvorsitzenden Schmidtke „Der 9. November – Der Tag an dem die Deutschen Geschichte schrieben“ mit „unfassbar“.
Der „48 Abendspaziergang“ von BÄRGIDA führte vom Alexanderplatz zum S-Prenzlauer Allee in Pankow. Auf dem Weg dorthin zog der Aufmarsch mit seinen 120 Teilnehmenden samt Reichsfahnen und Reichskriegsflaggen an der Synagoge Rykestraße vorbei, welche 74 Jahre zuvor geplündert und geschändet wurde. Noch am Hauptbahnhof in Mitte hatte ein Redner die Bundesregierung als „Brunnenvergifter“ bezeichnet, auf dem Weg zur Synagoge wurde „Nationaler Sozialismus jetzt!“ skandiert.
Anfeindungen gegen Demo in Moabit
Seit 1990 findet jedes Jahr zum Jahrestag der Pogromnacht eine antifaschistische Gedenkdemonstration vom ehemaligen Sammellager in der Levetzowstrasse zum Mahnmal an der Putlitzbrücke statt. Mehrmals wurde vom Rand der Demo „Freiheit für Palästina“ oder „Free, Free Palestine“ gerufen. Eine Teilnehmende berichtete uns, dass auch „Scheiß Juden“ gerufen wurde. Zum Ende der Demonstration wurde aus einem dunklem Fenster heraus ein volles zwei Liter Tetra Pak auf die Demonstration geworfen, welches nur durch Zufall keine Teilnehmenden traf.
Antisemitische Kommentare in der S-Bahn
Uns wurde gemeldet, dass gegen 16:45 Uhr in einer voll besetzten S-Bahn zwischen den Bahnhöfen Gesundbrunnen und Pankow eine ältere Frau antisemitische, revisionistische Aussagen tätigte. Den "Lügen" über das was "unsere Väter und Großväter angeblich gemacht haben sollen", dürfte nicht geglaubt werden. Die Person die uns den Vorfall meldete wurde von der Frau im Laufe der Auseinandersetzung als Jude bezeichnet.
Quellen
http://moabit.net/9228 http://spreemili.eu/2530/baergida-im-prenzlberg https://twitter.com/rechtsaussen https://www.facebook.com/juedischesforum/posts/1086641684709144 http://berliner-register.de/vorfall/marzahn-hellersdorf/9-november-2015-antisemitische-schmierereien-sozialeinrichtung/ http://www.volkssolidaritaet.de/berlin/presse/detail/?tx_news_pi1[news]=2311&cHash=bd22d4517a2706ebc50286a6695d94dc
Antisemitische Ausdrucksformen auf dem Al-Quds-Aufmarsch in Berlin 2015
21. August 2015
RIAS BerlinAntisemitische Ausdrucksformen auf dem Al-Quds-Aufmarsch in Berlin 2015
Am 11. Juli organisierte die Quds-AG des Vereins „Islamische Gemeinde der Iraner in Berlin-Brandenburg e. V.” den neunzehnten Al-Quds-Aufmarsch in Berlin. An dem Aufzug nahmen zwischen 700–800 Personen teil.
Auswertung antisemitischer Vorfälle im Zusammenhang mit den European Maccabi Games 2015 in Berlin
12. August 2015
RIAS BerlinAuswertung antisemitischer Vorfälle im Zusammenhang mit den European Maccabi Games 2015 in Berlin
Vor und während der European Maccabi Games 2015 (EMG) wurde viel über die Sicherheit der Sportler_innen und die Warnung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gesprochen, in der Umgebung der Unterbringung der Sportler_innen, dem Neuköllner Hotel Estrel, keine Kippa zu tragen.
Wir ziehen mit dieser Auswertung eine vorläufige Bilanz und veröffentlichen die uns bekannt gewordenen Vorfälle bzw. Reaktionen aus der Bevölkerung. Datengrundlage sind Gespräche mit Volontär_innen der EMG und dem Berliner LKA, ein Bericht des Online Portals „{berlin:street}“, sowie uns über das Meldeformular report-antisemitism.de gemeldete Vorfälle. Ergänzend dazu haben wir die sozialen Netzwerke hinsichtlich der Thematisierung der EMG beobachtet und den Wissenschaftler Matthias Jakob Becker gebeten, eine Einschätzung bezüglich der Kommentare unter Online-Artikeln vorzunehmen.
Vorfälle vor allem im Umfeld der Unterbringung der Sportler_innen
Insgesamt haben wir Kenntnis von neun Vorfällen bzw. negativen Reaktionen aus der Bevölkerung mit einem unmittelbaren Bezug zu den EMG, welche vom 27. Juli bis 4. August in Berlin stattfanden. Darüber hinaus kam es am 2. August zu einem antisemitischen Angriff in Charlottenburg, und am 29. Juli zu einer Sachbeschädigung in Friedrichshain, bei denen kein unmittelbarer Zusammenhang zu den Spielen festgestellt werden konnte.
Die Berliner Polizei hat vier antisemitische Vorfälle in Neukölln rund um das Hotel Estrel registriert, welche von Beschimpfungen des Sicherheitspersonals, bis hin zu einem öffentlich gewordenen Angriff auf sechs Mitglieder der Chabad Lubawitsch Strömung reichten. Die Betroffenen des Angriffs wurden am Abend des 30. Juli am S-Bahnhof Sonnenallee mit Schottersteinen beworfen und verbal angepöbelt. Neben Beleidigungen die sich gegen die Betroffenen als gläubige Juden richteten, wurde auch „Kill Israel“ gerufen.
Ein Sportler äußerte bei der „Closing Ceremony“ gegenüber dem Deutschlandfunk, dass er beobachtet hätte, wie aus zwei am Hotel vorbeifahrenden Autos der Hitler-Gruß in Richtung Hotel gezeigt wurde.
Eine Volontärin der EMG berichtete uns persönlich, dass eine Gruppe von Sportler_innen am 3. August in der Innenstadt verbal angefeindet worden sei. Sie seien durch ihre Kleidung und ihren Akkreditierungs-Pass als Sportler_innen der EMG erkennbar gewesen.
Ein Taxifahrer schilderte am 3. August auf dem Online-Portal „berlin:street“, dass seine Schweizer Fahrgäste von einem anderen Taxifahrer gefragt worden seien, ob sie auch „Judensportler“ seien. Als sie das bejahten wurde er extrem unfreundlich und aggressiv. Während der Fahrt telefonierte er auf Arabisch und schaute dabei immer wieder zu den beiden. Das Ehepaar fühlte sich von dem Mann bedroht. Noch am selben Tag sprach der Taxifahrer mit seinen Kollegen am Ostbahnhof über die Schilderungen seiner Fahrgäste. Mehrere seiner Kolleg_innen begannen daraufhin, über die „Judenspiele“ zu lästern und meinten, sie würden garantiert niemanden „von denen“ mitnehmen.
Über unser Meldeformular erreichte uns am Vormittag des 2. August die Beobachtung, dass kurz zuvor ein älteres Ehepaar im Bus M41 beim Passieren des Estrel Hotels sich darüber beschwerte, dass die „Juden schon wieder so viel Geld kosten, weil sie so viel Sicherheit brauchen“ würden.
Die Anzahl von neun uns bekannt gewordenen Vorfällen bzw. negativen Reaktionen aus der Bevölkerung bleibt erfreulicherweise deutlich hinter den Befürchtungen kritischer Beobachter_innen im Vorfeld der Spiele zurück. Dazu hat sicherlich das umfangreiche Sicherheitskonzept der Berliner Polizei ganz wesentlich beigetragen. Allerdings lassen die Beschreibungen des Taxifahrers und die eher zufällige Wahrnehmung aus dem Bus in Neukölln den Rückschluss zu, dass die Dunkelziffer nicht gemeldeter, vor allem strafrechtlich nicht-relevanter Vorfälle und antisemitischer Äußerungen deutlich höher liegt.
Im Netz wird aus jeder Perspektive gewettert
Im Internet nahmen wir eine rege Beschäftigung aus den unterschiedlichsten politischen Spektren mit der Austragung der EMG in Berlin wahr.
Zwei offen antisemitischen Thematisierungen durch das rechtsextreme Internet-Portal „Altermedia“ am 25. und 29.Juli beinhalteten Verherrlichung und Relativierung der Schoa, sowie Aspekte der Täter-Opfer-Umkehr, welche Juden und Jüdinnen für die Schoa mitverantwortlich machten.
Neben diesen gezielten antisemitischen Provokationen aus der rechtsextremen Szene, beschäftigte die Webgemeinschaft auch ein Tweet der Taz-Journalistin Silke Burmester, die fragte, was „jüdischer Sport“ denn sei und sich selbst antwortete: „Hakenkreuzweitwurf?“. Ähnlich zu bewerten sind die Beiträge von Edmund Piper, einem Berliner Künstler, der 2013 für den Bundesvorstand der Piraten-Partei kandidierte. Aus seiner Sicht hätte der jüdische Charakter der EMG etwas „rassistisches“, ja sogar „rechtsradikales“. Am 29. Juli twitterte er: „Makkabi = GroßjüdischeFestspiele, Nicht-Juden bitte draußen bleiben? Was soll das? Hört sich irgendwie rechtsradikal an.“ Das Abstreiten des Rechts auf Selbstorganisation und Selbstbezeichnung gesellschaftlicher Minderheiten mit der Begründung, sie würden dadurch selber ausgrenzen, ist ein gängiger Ausdruck des Versuchs, die jeweilige Minderheiten-Gruppe und den gesamtgesellschaftlichen Antisemitismus unsichtbar zu machen.
Auch aus anti-zionistischen Kreisen wurden die EMG immer wieder aufgegriffen, wobei hier die Israel-Feindschaft, wie schon im vergangenen Sommer 2014 unmittelbar auf die jüdischen Sportler_innen aus aller Welt übertragen wurde. Exemplarisch für dieses Spektrum sei hier Evelyn Hecht-Galinski erwähnt, die regelmäßig Artikel der Jüdischen Allgemeinen Zeitung über die EMG auf ihrer Facebook-Seite kommentierte.
Am 4.August schrieb sie: „Jüdischer Stolz worauf? Auf jüdischen Terror und Besatzung? Jüdische Scham wäre eher angebracht! Anstatt Partys zu feiern, sollten sie einen Trauermarsch für die palästinensischen Opfer veranstalten!“.
Antisemitismus im Querschnitt – Online-Kommentare der Qualitätsmedien
Matthias Jakob Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin und arbeitet in einem Forschungsprojekt, das sich mit „Antisemitismus im Internet“ befasst. Wir baten ihn, um eine Einschätzung bezüglich der Thematisierung der EMG in den Online-Kommentaren der Qualitätsmedien. Seine Beobachtungen zeigten „(…) dass Web-User bei der Thematisierung der Maccabi Games immer wieder einen Bezug zum Nahostkonflikt herstellen. Indem dieser mit Worten wie „Völkermord an Muslimen“ perspektiviert wird, sprechen die User den Veranstaltern das Recht ab, Spiele in Deutschland abzuhalten. Desweiteren reagiert die Web Community immer wieder mit Unverständnis auf die Tatsache, dass eine jüdische Sportveranstaltung stattfindet. Man argumentiert, dass es bei derlei Veranstaltungen doch um ein Engagement gegen Ausgrenzung gehe, wobei eine Trennung nach Religion kontraproduktiv sei und eher einen jüdischen Sonderstatus bestärke.“
Für beide von Becker angesprochenen Aspekte finden sich unzählige Belege. Unsere eigenen Beobachtungen haben gezeigt, dass erfreulicher Weise andere Web-User meistens derlei Kommentare hinterfragen oder dagegen argumentieren.
Fazit
Die überwiegend positiven Reaktionen von Politik und Medien auf die Austragung der European Maccabi Games 2015 in Berlin haben gezeigt, dass jüdisches Leben ein gewünschter und fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft ist. Ungeachtet dieser begrüßenswerten Erkenntnis sind der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) neun Vorfälle bzw. negative Reaktionen aus der Bevölkerung bekannt geworden, bei denen von einem antisemitischen Motiv auszugehen ist. Die kontroversen Reaktionen im Internet, vor allem die Online-Kommentare bei den Qualitätsmedien deuten darauf hin, dass die Haltung der offiziellen Politik gegenüber den EMG, nur von einem Teil der Web-User geteilt wird.