Eine Veröffentlichung von RIAS Bayern
'Free Palestine from German guilt?' Israelbezogener Antisemitismus in Bayern nach dem 7. Oktober
30. September 2024RIAS Bayern
Aтака на память о Катастрофе Антисемитизм, связанный с Шоа, в Баварии
2. August 2024RIAS Bayern
Eine Veröffentlichung von RIAS Bayern
Antisemitismus bei BDS Akteure – Aktionsformen – Wirkungen
14. März 2024Bundesverband RIAS e.V.
Antisemitismus bei BDS - Akteure - Aktionsformen - Wirkungen
Eine Publikation des Bundesverband RIAS
„Konsequente Rechtsprechung sieht anders aus“ Die Schändung des jüdischen Friedhofs in Geilenkirchen und der anschließende Gerichtsprozess.
6. Juni 2023RIAS Nordrhein-Westfalen
Eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Nordrhein-Westfalen
documenta fifteen. »Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten«
20. März 2023RIAS Hessen
Eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Hessen
Neuauflage: „Das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen“ Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona - Interview mit dem Fachjournalisten Robert Andreasch
10. März 2023RIAS Bayern
Eine Veröffentlichung von RIAS Bayern
Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017–2020
28. Februar 2023Bundesverband RIAS e.V.
Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017–2020
Eine Publikation des Bundesverband RIAS
Antisemitismus in Lichtenberg
6. Januar 2023RIAS Berlin
Eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
Antisemitismus in Treptow-Köpenick
6. Januar 2023RIAS Berlin
Eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
Dimensionen des Antisemitismus in ‚Vögel‘ und in der Abwehr der Kritik
15. Dezember 2022RIAS Bayern
Eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern
Multidirektionale Angriffe auf die Erinnerung Post-Schoah-Antisemitismus in Bayern
7. September 2022RIAS Bayern
Eine Veröffentlichung von RIAS Bayern
Antisemitismus in Pankow
10. November 2021RIAS Berlin
Eine Analyse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin
„From the river to the sea“ Israelbezogener Antisemitismus in Bayern 2021
1. Oktober 2021RIAS Bayern
Eine Veröffentlichung von RIAS Bayern
Das Beispiel Qanon Antisemitische Verschwörungsmythen in Zeiten der Coronapandemie
Erstellt vom Bundesverband RIAS e.V. im Auftrag des AJC Berlin Ramer Institute.
9. August 2021Bundesverband RIAS e.V.
„Das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen“ Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona
15. Januar 2021RIAS Bayern
Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona
Eine Veröffentlichung von RIAS BayernHandbuch zur praktischen Anwendung der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus
9. Januar 2021Europäische Kommission und IHRA - Intaernational Holocaust Remembrance Alliance
deutschsprachige Version
Antisemitismus in Thüringen Artikel in „Thüringer Zustände“
9. Januar 2021Anja Thiele & Joël Ben-Yehoshua
Erschienen in: Thüringer Zustände. Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Freistaat Thüringen, S. 30-36, Online unter https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Thueringer_Zustaende_2020_web.pdf#page=30
Antisemitismus in Thüringen Erste Erkenntnisse der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Thüringen.
9. Januar 2021Anja Thiele & Joël Ben-Yehoshua
Erschienen in: Wissen schafft Demokratie 8. Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft https://www.idz-jena.de/wsddet/wsd8-12/
Handbook for the practical use of the IHRA Working Definition of Antisemitism
8. Januar 2021Europäische Kommission und IHRA - Intaernational Holocaust Remembrance Alliance
english language version
Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Sachsen-Anhalt und den Terroranschlag in Halle
Vor und nach dem Anschlag wurden Interviews mit Jüdinnen und Juden aus Sachsen-Anhalt geführt und geben Einblick, wie Antisemitismus von Betroffenen wahrgenommen wird.
20. Juli 2020RIAS Bundesweite Koordination
Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Sachsen-Anhalt und den Terroranschlag in Halle
Vor und nach dem rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur in Halle hat der Bundesverband RIAS Interviews mit Jüdinnen und Juden aus Sachsen-Anhalt geführt. Die “Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen-Anhalt” gibt einen Einblick, wie Antisemitismus von Betroffenen im Bundesland wahrgenommen wird.
Am morgigen Dienstag beginnt in Magdeburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter. Nachdem es ihm am 9. Oktober 2019, Jom Kippur, nicht gelungen war, in die Synagoge von Halle einzudringen, tötete er zwei Menschen. Im Innern der Synagoge mussten währenddessen mehr als fünfzig Besucher_innen, die zum Beten gekommen waren, über mehrere Stunden ausharren. Der Täter hatte sich laut seinem Bekennerschreiben gezielt den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur für seine Tat ausgesucht in dem Wissen, dass sich an diesem Tag mehr Personen in der Synagoge aufhalten würden als an anderen Tagen im Jahr. Sein Ziel war es, so viele Jüdinnen_Juden wie möglich zu töten.
Ende März hat der Bundesverband RIAS die „Problembeschreibung: Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“ veröffentlicht. Für diese im Auftrag der Landesregierung Sachsen-Anhalt erstellte Studie wurden bereits vor dem rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur in Halle in insgesamt zwölf leitfadengestützten, narrativen Interviews insbesondere Vertreter_innen jüdischer Gemeinden aus dem gesamten Bundesland zu ihrer Wahrnehmung von Antisemitismus befragt. Die Befragung wurde nach dem Anschlag um eine schriftliche Erhebung ergänzt, in der die Befragten nach wahrgenommenen Veränderungen in Bezug auf Antisemitismus nach dem Terroranschlag gefragt wurden. Im Folgenden werden einige zentrale Ergebnisse aus der Problembeschreibung wiedergegeben. Die Problembeschreibung wirft ein Licht darauf, wie Jüdinnen_Juden in Sachsen-Anhalt vor und nach dem rechtsextremen Terroranschlag an Jom Kippur in Halle Antisemitismus im Bundesland wahrnehmen.
Antisemitismus in Sachsen-Anhalt aus jüdischer Perspektive
Die Befragten berichten von einer ständigen persönlichen Konfrontation mit Antisemitismus. Aufgrund ihrer Tätigkeit in jüdischen Einrichtungen, aber auch durch die mediale Vermittlung, ist Antisemitismus für sie alltagsprägend. Eine befragte Person sagt, dass antisemitische Vorfälle seit ihrer Einwanderung in den 1990er-Jahren eklatant zugenommen haben. Die gegenwärtige Situation in Bezug auf Antisemitismus wird in einem Gespräch besonders prägnant geschildert:
„Aber einen antisemitischen Grund, wie er zum Beispiel in Frankreich existiert, haben wir noch nicht. So weit sind wir noch nicht. Aber man kann es nicht prophezeien. Geben Sie dem noch ein bisschen Zeit und dann wären wir so weit. Deswegen finde ich das Gespräch ganz wichtig, weil die Situation mit Antisemitismus noch nicht explodiert ist, aber wir sitzen schon auf einem Pulverfass. Und wir müssen alles dafür tun, dass dieses Pulverfass zumindest unscharf bleibt.“
Als besonders prägend werden latente Formen des Antisemitismus beschrieben. In diesem Kontext wird in zahlreichen Interviews auf die Bedeutung des Jüdischseins für die Wahrnehmung des Phänomens hingewiesen. Die Erfahrung, lebenslang mit Antisemitismus konfrontiert zu sein, trüge zu einer Sensibilisierung insbesondere für subtile antisemitische Ausdrucksweisen bei, die es bei nicht-jüdischen Menschen so nicht gebe. Die Wahrnehmungsdiskrepanz, die daraus resultiert, und die damit einhergehende Notwendigkeit, die eigene Wahrnehmung rechtfertigen zu müssen, wird von der Mehrheit der Befragten beschrieben.
Kritisiert wird von vielen insbesondere der gesellschaftliche Umgang mit Antisemitismus: Eine ausreichende Distanzierung von den Täter_innen bleibe häufig aus, die so noch Resonanz für ihre Tat erhielten. Dabei sei gerade der israelbezogene Antisemitismus das Einfallstor für Antisemitismus. Ein_e Befragte_r schildert eine ebenso häufige wie persönliche einschneidende Erfahrung in privaten Kontexten:
„Man hat mich als Stellvertreter_in für den Staat Israel gesehen, als Stellvertreter_in für die Politik des Staates Israel und dabei vergessen, dass ich, bevor ich jüdisch bin oder bevor ich irgendwas anderes bin, ein Mensch bin.“
In vielen Interviews wird deutlich, dass für Betroffene eine direkte regionale Konfrontation mit antisemitischen Äußerungen und mitunter unmittelbaren Bedrohungen oder gezielten Sachbeschädigungen einhergeht mit einer Wahrnehmung von medial vermittelten, überregionalen Vorfällen. Vor diesem Hintergrund glaubt keine_r der Befragten, dass ein ungetrübtes jüdisches Leben möglich sei. Es gibt regional unterschiedliche Einschätzungen zur Lage jüdischen Lebens und zur zukünftigen Entwicklung des Antisemitismus, aber beispielhaft seien drei Stimmungsbilder wiedergegeben: So gibt ein_e Befragte_r an, dass dem Antisemitismus allein durch erneute Emigration zu entkommen wäre, und zwar nach Israel. Eine andere Person hat den Eindruck, dass die Erinnerung an historisch gewesenes jüdisches Leben eher finanziell unterstützt werde als gegenwärtiges. Und wiederum eine andere befragte Person sieht die Aussichten für zukünftiges jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt, in Deutschland und auch in Europa insgesamt angesichts des zunehmenden Antisemitismus ausgesprochen pessimistisch.
So beschreibt ein_e Befragte_r konkrete Fälle gezielter antisemitischer Sachbeschädigung:
„Das Banner kann ich nennen, es geht um den Synagogenneubau, und dieses Banner hat schon einige Angriffe erlebt, mindestens fünf. Einmal hat jemand mit Kuli geschrieben ‚Zum Niederbrennen‘, dann wurde es entfernt, ein anderes Mal wurde das Wort Synagoge akkurat rausgeschnitten. Das ist offenbar auch ein Test, wie unsere Gesellschaft das Thema Synagogenbau empfindet.“
Individuell beschreiben viele Befragte ihre Resignation in Anbetracht der erlebten antisemitischen Vorfälle. Ein_e Befragte_r gibt an, da es keine konkreten Handlungsoptionen für die Betroffenen von Antisemitismus gebe, würden viele ihn vor sich selbst verharmlosen und verdrängen. In einigen Einrichtungen und Gemeinden scheint es ein stilles Einvernehmen zu geben, dass es besser sei, nicht öffentlich als jüdisch in Erscheinung zu treten. Dagegen werden antisemitische Vorfälle häufig als nicht strafrechtlich relevant eingeordnet oder aber die Chancen auf einen Ermittlungserfolg als gering eingeschätzt. In den Worten einer_eines Befragten:
„Und da geht man nicht zur Polizei, weil man denkt sich so, was sollen die jetzt machen?“
Folgende Äußerung eines Befragten, liest sich im Wissen um den sich wenige Monate nach dem Interview ereignenden rechtsextremen Terroranschlag in Halle besonders eindrücklich:
„Sicherheit ist ein Thema, über das ich sehr oft rede und, Gott sei Dank, wir sind noch nicht so weit, dass wir in diese schlimme Falle fehlender Sicherheit gerieten. Sollten wir Sicherheit anfragen, wird uns immer wieder gesagt: Haben sie irgendwelche Zwischenfälle, bedroht sie jemand? Ich sage: Momentan nicht, aber die Leute sind einfach so aufgeregt, weil sie sich nicht sicher fühlen. […] Dann kommt die Frage: Werden sie angegriffen oder werden sie nicht angegriffen? Ich sage dann nochmal: Bis jetzt ist es nicht passiert. Die Antwort ist einfach. Ist etwas passiert? Sie wissen schon. Hilfe, ich werde jetzt mal getötet. Sind sie schon getötet? Nein, noch nicht. Gut, dann kommen wir später. Das hat wohl nicht nur mit uns zu tun. Das hat allgemein mit unseren Institutionen, mit der Polizei zu tun. Solange wir noch leben und uns angeblich bedroht fühlen, bleibt es unsere Sache.“
Veränderungen nach dem Terroranschlag von Halle?
Im Zuge der schriftlichen Erhebung nach dem rechtsextremen Terroranschlag von Jom Kippur im Oktober 2019 in Halle sprechen viele Befragte von einem deutlich verbesserten Austausch mit der Polizei, beispielsweise in Form von Gesprächsrunden. Vor allem aus einer Stadt wurde berichtet, dass es ein größeres Interesse und eine enorme Solidaritätswelle sowohl von städtischen Behörden als auch von der Bevölkerung gab. Das habe auch neue Herausforderungen für die Sicherheit mit sich gebracht, da vermehrt Nicht-Gemeindemitglieder zu den Gottesdiensten kamen. Diese Zunahme sei vor allem eine Folge des Terroranschlags, sie sei weniger auf ein gestiegenes Interesse an der Gemeinde selbst zurückzuführen. In anderen Städten hat sich hingegen aus Sicht der Befragten das Verhältnis zur Politik und zur Stadtgesellschaft kaum bis gar nicht verändert. Es wird zuweilen davon ausgegangen, dass innerhalb der Jüdischen Gemeinde das Vertrauen in die Stadtgesellschaft und in die Politik noch stärker zurückgegangen ist. Aus manchen Städten wurde berichtet, in ihrer Stadt werde von Nachbarn und Unbekannten kritisiert, dass die polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen Jüdinnen_Juden in unverhältnismäßiger Weise schützen würden.
Jüdische Gemeinden bekamen im Nachgang des Terroranschlags aber auch antisemitischen Zuschriften. In Halberstadt wurde seit dem 9. Oktober 2019 eine Diskussion über den „Aufkauf der Stadt durch Juden“ öffentlich wahrnehmbar. Hintergrund ist, dass seit 2018 die Einkaufspassage und dazugehörige Wohnungen im Besitz einer jüdischen gemeinnützigen Stiftung sind. Zuletzt berichtete der Bundesverband RIAS von „Antisemitismus und behördlichem Fehlverhalten“ in Halle und stellte angesichts mehrerer antisemitischer Vorfälle auf Demonstrationen, zum Teil aber auch direkt gegen die jüdische Gemeinde der Stadt gerichtet, eine „rechtsextreme Dynamik antisemitischer Vorfälle“ fest.
Auch digital sichere Räume schaffen. Online-Veranstaltungen und -Seminare schützen.
Zum Umgang mit rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Störungen und Bedrohungen.
15. Juli 2020MBR Berlin & Bundesverband RIAS e.V.
Antisemitische Verschwörungsmythen – Verbreitung und Konsequenzen
16. April 2020RIAS Bundesweite Koordination
Antisemitische Verschwörungsmythen – Verbreitung und Konsequenzen
Verschwörungsideologische Weltbilder gehen oft mit antisemitischen Vorstellungen einher. Umfragen zeigen, dass der Glaube an Verschwörungsmythen in Deutschland weit verbreitet ist – und auch der Bundesverband RIAS e.V. bzw. die Mitglieder in seiner Bundesarbeitsgemeinschaft haben in den vergangenen Jahren zahlreiche antisemitische Vorfälle einem verschwörungsideologischen Milieu zuordnen können. In Krisen wie der derzeitigen Covid-19-Pandemie sind Verschwörungsmythen für viele besonders attraktiv, wie aktuell der verbreitete „QAnon“-Mythos zeigt. Die rassistischen und antisemitischen Terroranschläge der vergangenen Monate zeigen, dass diese Mythen auch für Täter_innen extremer Gewalt eine Rolle spielen.
Die EUMC-Arbeitsdefinition Antisemitismus, die in einer ergänzten Version Arbeitsgrundlage des Bundesverbandes RIAS e.V. und der Mitglieder seiner Bundesarbeitsgemeinschaft ist, hält fest, antisemitische Äußerungen enthielten oft „die Anschuldigung, die Jüdinnen_Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass ‚die Dinge nicht richtig laufen‘“. Als Teil des „modernen Antisemitismus“ werden hier zudem „Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen_Juden“ bestimmt.
Der Glaube an Verschwörungsmythen geht zudem mit der Ablehnung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen einher, die von den Anhänger_innen als mächtig angesehen werden. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass dieser Glaube oft mit Antisemitismus, aber auch mit Antiamerikanismus und regressiver Kapitalismuskritik gemeinsam auftritt. Gefährlich sind Verschwörungsmythen, weil sie abstrakte politische und ökonomische Prozesse personalisieren, die Abgrenzung von marginalisierten Gruppen verstärken und ein Schwarz-Weiß-Denken begünstigen. Darüber hinaus macht ein Glaube an Verschwörungsmythen seine Anhänger_innen unzugänglich für Kritik – was insofern problematisch ist, da Studien gezeigt haben, dass ein solcher Glaube auch mit einer gesteigerten Gewaltbereitschaft einhergeht.
Der Glaube an Verschwörungsmythen ist kein Phänomen von bestimmten Gruppen, sondern in der gesamten Gesellschaft verbreitet. Fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung (32 %) stimmt der Aussage, wonach Politiker_innen und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte seien, zu – so die Ergebnisse der Mitte-Studie von 2019, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgeben wird. Diese Vorstellung ist zumindest anschlussfähig für Antisemitismus, doch auch offen antisemitische Verschwörungsmythen sind stark verbreitet, wie eine Studie des World Jewish Congress vom Oktober 2019 zeigt: Ungefähr ein Viertel der Deutschen findet, dass Jüdinnen_Juden zu viel Macht in Weltpolitik, den internationalen Finanzmärkten oder der Wirtschaft hätten.
Auch in den durch RIAS Berlin erfassten antisemitischen Vorfällen spielen antisemitische Verschwörungsmythen eine wichtige Rolle: So rechnen RIAS Berlin und die weiteren Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands RIAS e.V. dem verschwörungsideologischen Milieu Vorfälle zu, die von Gruppen oder Personen ausgehen, bei denen die Verbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen im Vordergrund ihres politischen Engagements steht. Diese Personen und Gruppen können in dem herkömmlichen politischen Spektrum mitunter nicht eindeutig verortet werden. Träger_innen einer Verschwörungsideologie agieren natürlich nicht nur im Internet, sondern auch offline, was sich auch in den Zahlen der RIAS Berlin widerspiegelt: So hat RIAS Berlin allein 2018 62 Vorfälle (51 offline / 11 online) und im ersten Halbjahr 2019 30 Fälle (29 offline/ 1 Online) dem verschwörungsideologischem Milieu zugeordnet.
Zu diesen Vorfällen zählten beispielsweise die laminierten Karten, die RIAS Berlin seit 2015 insgesamt 14 Mal bekannt wurden, und die beispielsweise in den Bezirken Steglitz-Zehlendorf, Mitte oder Friedrichshain-Kreuzberg gefunden wurden. Die Karten zeigen insbesondere mächtige Politiker wie Donald Trump oder Vladimir Putin, die Mützen mit einem Davidstern tragen und somit als jüdisch markiert werden. Neben anderen dehumanisierenden Darstellungen von Jüdinnen_Juden fanden sich auf den Rückseiten der Karten verschwörungsideologische und antisemitische Texte. Ein anderer Vorfall war eine Demonstration gegen die Verabschiedung des Masernschutzgesetzes durch das Bundeskabinett am 14. September 2019 in Mitte. Auf mitgeführten Plakaten standen u.a. Schoa relativierende Sprüche wie „Heute 2500 € Strafe, morgen Zwangshaft, übermorgen KZ?“, „Impfen macht frei – willkommen im 4. Reich“ und „Stop the Mengeles“. Ein Redner erklärte unter Applaus die heutige Politiklandschaft zu einer „Unterhaltungsabteilung der Hochfinanz“ und nutzte damit eine antisemitische Chiffre. An der Demonstration nahmen 1.000 Personen teil.
Auch extreme antisemitische Gewalt wird von den Täter_innen durch Bezüge auf antisemitische Verschwörungsmythen legitimiert: So leugnete der Täter des rechtsextremen Terroranschlags auf die Synagoge in Halle (Saale) am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur im Oktober 2019, Stefan B., in seinem Live-Video der Tat die Schoa, außerdem hing er eindeutig antisemitischen Verschwörungsmythen an. Für alles, was B. als ein Übel ansah, wie Feminismus und Migration, machte er Jüdinnen_Juden verantwortlich. Bei seiner Haftvorführung behauptete er, Jüdinnen_Juden würden die Weltherrschaft anstreben und der jüdische Philanthrop George Soros hinter der „Flüchtlingskrise“ stecken.
Verschwörungsmythen blühen insbesondere in Krisenzeiten, auf in denen Menschen nach Struktur suchen und den damit verbundenen Ohnmachtsgefühlen etwas entgegensetzen wollen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass auch die aktuelle Covid-19-Pandemie für Verschwörungsmythen einen fruchtbaren Boden bereitet. Viele solcher aktuellen Mythen beziehen sich dabei entweder auf die Gefährlichkeit von Covid-19 oder auf vermeintliche Urheber_innen, die hinter der Pandemie stünden. Immer wieder kommt es auch hier zu antisemitischen Erzählungen, in denen beispielsweise der Staat Israel oder George Soros für die Krise verantwortlich gemacht werden. Zur Zeit verbreitet sich insbesondere in deutschsprachigen Kreisen der Komplex von Verschwörungsmythen rund um „QAnon“ immer stärker: In Online-Foren wie 4chan oder 8chan gab sich eine oder mehrere Personen als Informant aus den Kreisen von Donald Trump aus. Diesem „Q“ zufolge würde der US-amerikanische Präsident gegen einen geheimen und einflussreichen Staat im Staate, den „deep state“, kämpfen. Die Anhänger_innen des Mythos bereiten sich auf das „Große Erwachen“ nach dem "Sturm" vor und sehen sich als Kämpfer_innen gegen angeblich international agierende Netzwerke von „Pädophilen“.
In Deutschland ist u.a. Xavier Naidoo zusammen mit dem Verschwörungsideologen Oliver Janich an der Verbreitung dieses Verschwörungsmythos beteiligt gewesen. In einschlägigen Facebook-Gruppen finden sich immer wieder antisemitische Äußerungen im Kontext von „QAnon“ und Covid-19. Teilweise werden auch angebliche Belege gepostet, in denen Rabbiner beschreiben, dass Jüdinnen_Juden bis zu 300.000 Kinder pro Jahr stehlen und töten würden. Solche Narrative aktualisieren die sogenannte Ritualmordlegende, wonach Jüdinnen_Juden angeblich Kinder töten und ihr Blut trinken würden. Sowohl der Attentäter von Halle als auch der Attentäter, der am 19. Februar 2020 in Hanau zunächst aus rassistischen Motiven neun Personen und später seine Mutter erschoss, beriefen sich in veröffentlichten Pamphleten auf den Verschwörungsmythos „QAnon“. Mit der Diskussion um Lockerungen der Maßnahmen durch die Bundesregierung, kam es zu NS-verharmlosenden Bildern und Aussagen. Die aktuelle Politik wurde dabei mehrfach mit dem Nationalsozialismus verglichen und Bilder gepostet, nach denen auch „Verschwörungstheoretiker“ jetzt einen „gelben Stern“ tragen müssten.
Neben Facebook-Beiträgen und YouTube-Videos werden immer häufiger auch Gruppen und Channels des Messangerdienstes Telegram verwendet, um diese Verschwörungsmythen zu verbreiten. In den Berliner Bezirken Treptow-Köpenick und Lichtenberg wurden zuletzt aber auch Graffiti entdeckt, die auf den Verschwörungsmythos „QAnon“ hinwiesen, wie die Berliner Register berichteten.
In der aktuellen Covid-19-Pandemie finden Verschwörungsideolog_innen günstige Bedingungen für die Rezeption von Mythen, die nicht nur anschlussfähig sind an Antisemitismus, sondern diesen teilweise auch offen transportieren. Zeigt die Arbeit von RIAS Berlin einerseits, dass in der Bundeshauptstadt ein verschwörungsideologisches Milieu existiert, dem unterschiedliche antisemitische Vorfälle zugeordnet werden können, und andererseits, dass antisemitische Stereotype bezüglich jüdischer Macht auch darüber hinaus immer wieder bei Vorfällen geäußert werden, ergeben die rechtsterroristischen Anschläge der letzten Monate zugleich, dass Verschwörungsmythen auch für Täter_innen extremer Gewalt eine große Rolle bei der Verübung ihrer Taten spielen.
Das Judasfeuer – ein antisemitischer Osterbrauch in Bayern
2. April 2020RIAS Bayern
Eine Publikation von RIAS Bayern in Trägerschaft der Bayerischen Jugendrings
Der Qudstag-Marsch in Berlin: Zwischen Terrorverherrlichung und Antisemitismus
27. Mai 2019RIAS Berlin
Der Qudstag-Marsch in Berlin: Zwischen Terrorverherrlichung und Antisemitismus
Beim jährlichen Qudstag-Marsch in Berlin handelt es sich um die größte Versammlung in Deutschland, deren Zielstellung, die Zerstörung Israels, als antisemitisch zu bewerten ist. Der Qudstag geht zurück auf den 1979 getätigten Aufruf des damaligen iranischen Staatsoberhaupts Ajatollah Chomeini zur „Befreiung“ Jerusalems und des „Landes der Palästinenser“ von den „blutrünstigen Zionisten“. Seitdem finden in zahlreichen Ländern, darunter auch die USA, Kanada und Großbritannien, am Ende das Fastenmonats Ramadan Qudstag-Märsche statt. In Deutschland werden Aktionen zum Qudstag seit den 1980er Jahren veranstaltet. 2018 beteiligten sich in Berlin ca. 1.200 Personen an der Versammlung, die damit wieder das Niveau von 2014 erreichte. Zwischenzeitlich hatten sich zwischen 600 und 800 Personen an der Demonstration beteiligt. Die in Berlin ansässige „Quds-AG der Islamischen Gemeinden der Schiiten in Deutschland“ ist für die Anmeldung des Qudstag-Marsches und Koordination vor Ort verantwortlich.
Positiver Bezug auf die Hizbollah und Terrorverherrlichung beim Qudstag-Marsch
Der Qudstag-Marsch bietet Sympathisant_innen von Terrororganisationen in Deutschland immer wieder Anlass, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren: So waren bis einschließlich 2015 im Zuge der Versammlung auf dem Berliner Kurfürstendamm Fahnen, T-Shirts und Schals mit Symbolen der libanesisch- schiitischen Terrororganisation Hizbollah zu sehen. Seit 2016 werden in den für die Versammlung erlassenen Auflagen das Zeigen der Symbole der Hizbollah und ihr nahestehender Organisationen untersagt. Seitdem kam es jedes Jahr zu mehreren Verstößen gegen diese Auflage. So trugen Teilnehmende Symbole der Terrororganisation auf Kleidungsstücken, Fahnen oder Postern. Zuletzt hatte 2018 ein Mann eine Fahne der Hizbollah vor der ersten Reihe des Marsches präsentiert und wurde später von der Polizei abgeführt.
Auf Postern oder in Reden gab es in jedem von RIAS Berlin dokumentierten Marsch (seit 2015) Bezüge zur Hizbollah oder ihr nahestehenden Organisationen. So wird beispielsweise jedes Jahr ein Poster präsentiert, auf welchem der iranische „Oberste Führer“ Ali Chamenei, der Anführer der Hizbollah Hassan Nasrallah, sowie der Kommandant der iranischen Quds-Einheiten Kassim Soleimani abgebildet sind. Die Portraits sind mit dem arabischen Schriftzug „Hizbollah – Das sind die Sieger“ versehen. Im Jahr 2015 sagte der damalige Anmelder des Qudstag-Marsches Jürgen Grassmann bei der Auftaktkundgebung über den bewaffneten Kampf gegen Israel: „Dafür haben wir Leute im Libanon. Die Gruppe beginnt mit ‚H‘. Und da sind wir stolz drauf.“
In den vergangenen Jahren dokumentierte RIAS Berlin zudem Bezüge zu weiteren Terrororganisationen. Seit 2016 wurde von Personen aus dem Umfeld der Demokratischen Komitees Palästinas e.V. das Logo der Terrororganisation „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (P.F.L.P.) auf Fahnen oder Pullovern öffentlich gezeigt. Die Demokratischen Komitees waren seit 2015 jedes Jahr mit einer Rede vom Lautsprecherwagen in die Versammlung eingebunden. 2017 verteilte eine Person, die einen Aufnäher mit dem Logo der Iranischen Revolutionsgarden trug, Poster, welche in Arabisch und Farsi für den bewaffneten Kampf gegen Israel warben.
Gewalt und Gewaltandrohungen gegen Kritiker_innen
Trotz der mittlerweile starken Präsenz der Polizei kommt es aus den Reihen des Qudstag-Marsches immer wieder zu antisemitischen und gewalttätigen Zwischenfällen – insbesondere gegen Gegendemonstrant_innen. So kam es 2018 zu einer regelrechten Jagdszene auf einen Gegendemonstranten, zudem wurden Gegendemonstrierende mit einem Pflasterstein beworfen. Im Anschluss daran versuchte eine Gruppe von zehn bis zwölf Teilnehmenden durch ein Polizeiabsperrung in Richtung der Gegendemonstration durchzubrechen.
Offener Antisemitismus in Reden und auf Schildern
Das Ziel des Qudstag-Marsches ist weiterhin die Abschaffung und Vernichtung Israels in seiner jetzigen Verfassung als jüdischen Staat, wenn auch dies nicht immer so offen formuliert wird wie 2015, als in einer auf Arabisch vorgetragenen Rede gefordert wurde: „Tod Israel, verflucht seien die Juden und Sieg für den Islam.“ 2018 wurde vom Lautsprecherwagen die Parole „From the river to the sea – Palestine will be free“ angestimmt und im Chor der Teilnehmenden widergegeben.
Insbesondere 2018 waren zudem vermehrt Aussagen zu erkennen, die an Formen des deutschen Schuldabwehr-Antisemitismus anknüpfen. So wurden zahlreiche „#niewieder“-Schilder an Teilnehmende verteilt. Bereits in den vorherigen Jahren waren Poster mit Aufschriften wie z.B. „Keine ewige Schuld der Deutschen! Unsere Generation trägt keine Schuld!“ mitgeführt worden.
Neben Post-Schoa- und israelbezogenen Antisemitismus werden regelmäßig antisemitische Verschwörungsmythen präsentiert, insbesondere verschiedene Varianten des Mythos von der jüdischen Weltverschwörung – umschrieben als „zionistisch“. Schon 2014 veröffentlichte die Quds-AG einen Text, in dem es hieß: „Das mächtige Netzwerk zionistischer Lobbys in verschiedenen Ländern und besonders in Deutschland mischt sich in die Politik ein, bestimmt zum Teil den Kurs der Außenpolitik, hat den größten Besitzanteil an den Massenmedien, beeinflußt die öffentliche Meinung mehr als die Parteien, agiert aber quasi geheim.“ Vom Lautsprecherwagen wurde 2018 behauptet, dass „keine Gesetze für die [Zionisten] gelten“, die Zionisten „die demokratische Ordnung“ umgehen und „die demokratischen Strukturen“ unterwandern würden. Auf einem in den vergangenen Jahren mehrmals geführten Schild hieß es entsprechend: „ZIONISTEN handeln gegen das Grundgesetz! ZIONISTEN sollen eigene Parteien gründen! Transparenz der ZIONISTEN!!“
Mobilisierung und Präsenz zentraler schiitischer Geistlicher
Jedes Jahr wird bundesweit über schiitische Gruppen, die auch eine Busanfahrt zum Qudstag-Marsch anbieten, mobilisiert. In der Vergangenheit gab es Anreiseangebote aus Hamburg, Köln, Hannover, Bochum (über Dortmund), Kassel, Münster, Bottrop und Delmenhorst. Daneben mobilisieren auch die Demokratischen Komitees Palästina oder der verschwörungsideologische Aktivist Christoph Hörstel. In den vergangenen Jahren beteiligten sich auch hochrangige schiitische Geistliche an der Demonstration, so etwa Hamidreza Torabi, Leiter der Islamischen Akademie Deutschland (IAD) und Sprecher des Islamischen Zentrums Hamburg (IZH) 2017 und 2018, oder das Vorstandsmitglied der Islamischen Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands (IGS), Muhammad Mohsen 2018.
Die Dokumentationen der letzen Jahre erfolgten gemeinsam mit dem Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA), dem Register Charlottenburg-Wilmersdorf sowie Research and Documentation (Re Doc).
Die AfD im Spannungsfeld zwischen Relativierung und Instrumentalisierung des Antisemitismus
30. November 2017Benjamin Steinitz und Daniel Poensgen (RIAS Berlin)
Aus: Berlin rechtsaußen. Der Berlin-Blog des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Berlin e.V. (apabiz)
Demokratische Akteur_innen stehen beim Umgang mit der AfD nicht nur vor der größten Herausforderung seit Jahrzehnten – sie stehen generell in der Pflicht, mit jeder Form des Antisemitismus die kritische Auseinandersetzung zu suchen.
„Eines können wir jedoch schon jetzt mit Sicherheit sagen: Wir stehen als AfD fest an der Seite der jüdischen Gemeinde in Deutschland.“
#EveryDay Antisemitism sichtbar machen und Solidarität stärken.
Neue Wege der Erfassung antisemitischer Vorfälle – Unterstützungsangebote für die Betroffenen
28. Juli 2016Benjamin Steinitz (RIAS Berlin)
Aus: Berliner Zustände. Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus im Jahr 2015
Nicht zu unterschätzen: „Montagswachen für den Frieden“
31. Mai 2015Benjamin Steinitz (RIAS Berlin) und Paula Tell (apabiz)
Aus: Berliner Zustände. Ein Schattenbericht über Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus im Jahr 2014