Über uns
Der Bundesverband RIAS e.V. initiiert und unterstützt den Aufbau regionaler Melde- und Unterstützungsnetzwerke und bildet sich neu gründende zivilgesellschaftliche Projekte fort. Deren Hauptzweck ist die Erfassung antisemitischer Vorfälle in Deutschland.
Arbeitsweisen
Prinzipien unserer Arbeit bei der Einordnung antisemitischer Vorfälle. Die von uns verwendeten Definitionen sowie Anforderungen für die Arbeit im Rahmen unserer Bundesarbeitsgemeinschaft.
Anforderungen für die Arbeit als Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.
Im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) des Bundesverbands RIAS e.V. vom 2. bis 4. März 2022 wurde sich auf folgende verpflichtende und anzustrebende Anforderungen für die Arbeit als zivilgesellschaftliche Anlaufstelle für antisemitische Vorfälle und die Mitarbeit in der BAG geeinigt.
Die Anforderungen dienen als Orientierung für alte, neue und zukünftige Projekte dieser Art und werden bei Treffen der BAG stets überprüft und weiterentwickelt.
- Die Definition eines antisemitischen Vorfalls als solchen erfolgt auf Grundlage der vom Verein für demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. und von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) angepassten Version der Arbeitsdefinition „Antisemitismus“ bzw. der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zur Leugnung und Verharmlosung der Schoa, sowie der Trias aus Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelten Standards bei israelbezogenem Antisemitismus.
- Im Zuge der Arbeit werden sämtliche Formen des Antisemitismus (Post-Schoa-, israelbezogener, moderner, antijudaistischer Antisemitismus, antisemitisches Othering) dokumentiert, unabhängig des politisch-weltanschaulichen Hintergrunds der Täter_innen.
- Die Dokumentation und Kategorisierung verifizierter Vorfälle erfolgt verpflichtend mit Hilfe einer durch den Bundesverband RIAS e.V. zur Verfügung gestellten Datenbank. Das in der Datenbank angewendete Kategoriensystem wurde mit Unterstützung der Emil-Julius-Gumbel-Forschungsstelle des Moses-Mendelssohn-Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien sowie des Internationalen Instituts für Bildung-, Sozial- und Antisemitismusforschung (IIBSA) entwickelt und wissenschaftlich überprüft.
- Im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft und mit Zustimmung der wissenschaftlichen Beratung des Bundesverbands RIAS können die verwendeten Kategorien weiterentwickelt und die Datenbank entsprechend aktualisiert werden.
- Eine mehrsprachige, internetbasierte, betriebs- und endgerät-offene Erreichbarkeit für alle jüdischen und nichtjüdischen Betroffenen und Zeug_innen von Antisemitismus in Deutschland wird durch die Nutzung des zentralen Meldeportals https://www.report-antisemitism.de ermöglicht. Des Weiteren stellen Projekte die Ansprechbarkeit per Telefon, E-Mail oder mündlich nach Bedarf sicher.
- Eine Kontaktaufnahme zu Meldenden im geographischen Zuständigkeitsbereich soll nach maximal 72 Stunden und bei Angriffen oder Androhungen von Gewalt am ersten Arbeitstag nach Eingang der Meldung erfolgen.
- Zur Nutzung der Vorfallsdatenbank und des Meldeportals https://www.report-antisemitism.de des Bundesverbands RIAS e.V. sind die entsprechenden Qualifizierungsmodule verpflichtend zu absolvieren. Die Vorgaben der Datenschutzgrundverordnung und die vom Bundesverband RIAS e.V. entwickelten Leitlinien für Datensicherheit sind zu berücksichtigen und anzuwenden.
- Eine enge Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinschaften wird gesucht und die Meldemöglichkeit bei möglichst vielen jüdischen und nichtjüdischen Organisationen vorgestellt und Vereinbarungen zur dauerhaften Bewerbung des Meldeangebots getroffen.
- Verweisberatung und ein Fallabgleich mit anderen zivilgesellschaftlichen Dokumentationsprojekten werden angestrebt. Hierfür werden Absprachen mit den jeweils geeigneten Strukturen vor Ort getroffen. Die Projekte verweisen Ratsuchende ausschließlich an Träger und Projekte, die einen sensiblen Umgang mit Betroffenen antisemitischer Vorfälle gewährleisten können. Dafür sind sowohl ein geteiltes Verständnis von Antisemitismus auf Grundlage der IHRA Arbeitsdefinition Antisemitismus als auch ein Wissen um die Gefahren sekundärer Viktimisierungen von entscheidender Bedeutung.
- Eine zivilgesellschaftliche Meldestelle für antisemitische Vorfälle sollte über mindestens zwei Vollzeitstellen (Teilzeitäquivalente möglich) verfügen, die an den Qualifizierungsmaßnahmen durch den Bundesverband teilgenommen haben. Das Projekt muss trägerintern und in der Öffentlichkeit als eigenständiges Projekt arbeiten und wahrgenommen werden können.
- Projekte und Mitarbeitende agieren in ihren Funktionen so zurückhaltend und vertraulich, dass die Ansprechbarkeit des Projekts für alle von Antisemitismus Betroffenen dauerhaft gegeben bleibt. Dazu gehört auch Zurückhaltung bei etwaigen Konflikten in der jüdischen Gemeinschaft und solchen zwischen den jüdischen Gemeinden und anderen jüdischen Akteuren.
- Die Projekte verpflichten sich, dass alle Mitarbeitenden die Meldungen annehmen, verifizieren und in die Datenbank eintragen, an den qualifizierenden Fortbildungen des Bundesverbands RIAS e.V. teilnehmen und mindestens ein_e Mitarbeitende zu den Bundesarbeitsgemeinschaften zu entsenden.
- Die Öffentlichkeit wird kontinuierlich zu den Ergebnissen der zivilgesellschaftlichen Erfassung im jeweiligen Bundesland auf Grundlage des Pressekodex informiert. Hierbei orientieren sich die Projekte an den fachlichen Standards des Bundesverbands RIAS e.V.. Die Beteiligung an den Jahresberichten des Bundesverbands RIAS e.V. ist verbindlich.
- Die Projekte verpflichten sich anzustreben, innerhalb von zwölf Monaten nachdem sie Mitglied in der BAG wurden, die Anforderungen der Qualitätsstandards umzusetzen.
- Die Projekte und Mitarbeitende äußern sich in ihren Funktionen öffentlich gestützt auf die Ergebnisse der Arbeit und stets auf die eigene Fachlichkeit bezogen. Die Projekte verhalten sich hingegen zurückhaltend in Bezug auf politischen Aktivismus (bspw. die Unterstützung von Aufrufen, Petitionen, Reden auf Demonstrationen oder Kundgebungen).
Des Weiteren wurde sich auf folgende anzustrebende Anforderungen verständigt:
- Die Projekte nehmen an Arbeitsgruppen der BAG teil.
- Die Projekte führen in Absprache mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen ein systematisches Monitoring mit journalistischen Mitteln von Versammlungen durch, welche in ihrem geographischen Zuständigkeitsbereich liegen und bei welchen angesichts vergangener Veranstaltungen bzw. durch die inhaltliche Ausrichtung eines Aufrufs explizite oder implizite antisemitische Äußerungen zu befürchten sind.
- Die Projekte führen in Absprache mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen ein systematisches Monitoring von solchen Internet- oder Social Media-Seiten durch, welche im geographischen Zuständigkeitsbereich für eines der dokumentierten politisch-weltanschaulichen Spektren von besonderer Bedeutung sind.
- Um ein umfassendes Lagebild zu erlangen, wird ein anonymisierter Abgleich der angezeigten Fälle mit dem jeweiligen Landeskriminalamt bzw. den Polizeipräsidien der jeweiligen polizeilichen Bezirke eines Bundeslandes vorgenommen.
Die Anforderungen werden mitgetragen von:
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DIA Mecklenburg-Vorpommern
Dokumentations- und Informationsstelle Antisemitismus Mecklenburg-Vorpommern in Trägerschaft von Lobbi e.V. -
LIDA-SH
Landesweite Informations- und Dokumentationsstelle in Schleswig-Holstein in Trägerschaft vom Zentrum für Betroffene rechter Angriffe (Zebra e.V.) -
FgA
Fachstelle gegen Antisemitismus in Trägerschaft des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln -
RIAS Baden-Württemberg
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Baden-Württemberg in Trägerschaft des Bundesverbands RIAS e.V. -
RIAS Bayern
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern in Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie (VAD) e.V. -
RIAS Berlin
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin in Trägerschaft des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. -
RIAS Hessen
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen in Trägerschaft des Demokratiezentrums Hessen an der Philipps-Universität Marburg -
RIAS Niedersachsen
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Niedersachsen in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung -
RIAS Nordrhein-Westfalen
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen in Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und demokratische Bildung e.V. -
RIAS Saarland
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Saarland in Trägerschaft des Adolf-Bender-Zentrums e.V. -
RIAS Sachsen
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Sachsen in Trägerschaft von OFEK e.V. -
RIAS Sachsen-Anhalt
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Sachsen-Anhalt in Trägerschaft von OFEK e.V. -
RIAS Thüringen
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung
Arbeitsdefinition Antisemitismus
Die im Jahr 2004 von European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC), der Vorgängerorganisation der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), gemeinsam mit zahlreichen NGOs entwickelte und im September 2017 durch die Bundesregierung zur Verwendung empfohlene „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ wurde 2014 durch den Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK e.V.) vor der Gründung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) an wenigen Stellen für den deutschen Kontext operationalisiert und spezifiziert. Wenngleich es klar war, dass keine Bestandteile oder Beispiele aus der Definition entfernt werden dürfen. Außerdem wurden die in der Definition aufgeführten Beispiele nach Spielarten des Antisemitismus gegliedert. Diese operationalisierte Fassung ist seit Projektbeginn Grundlage der Arbeit von RIAS.
RIAS arbeitet also mit folgender Version der IHRA Arbeitsdefinition (Kursiv gesetzte Passagen oder Begriffe wurden hinzugefügt um die Definition für den deutschen Kontext anzupassen):
Der Antisemitismus beschreibt gesellschaftlich tradierte Wahrnehmungen eines fremd konstruierten jüdischen Kollektivs. Die Wirkmächtigkeit dieser Fiktionen zeigt sich in der Verbreitung antisemitischer Einstellungen, öffentlicher Debatten und kann sich als Hass gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrücken. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.
Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Oft enthalten antisemitische Äußerungen die Anschuldigung, die Jüdinnen_Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt negative Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.
Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein:
Grundzüge antisemitischer Erscheinungsformen
- Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen_Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremen Religionsanschauung.
- Die Darstellung jüdischer Religionsausübung als Ausdruck einer archaischen Kultur.
- Fremdkonstruktion eines jüdischen Kollektivs mit spezifischen körperlichen und charakterlichen Eigenschaften
Moderner Antisemitismus
- Falsche, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen_Juden oder die geheime jüdische Macht – insbesondere die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen_Juden.
- Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen_Juden als Volk für das (tatsächliche oder unterstellte) Fehlverhalten einzelner Jüdinnen_Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder von Nicht- Jüdinnen_Juden.
Post-Schoa-Antisemitismus
- Das Bestreiten der historischen Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) sowie der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen_Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer_innen und Kompliz_innen während des Zweiten Weltkrieges (Schoa).
- Die Behauptung Jüdinnen_Juden seien für die Schoa selbst verantwortlich.
- Der Vorwurf gegenüber dem jüdischen Volk oder dem Staat Israel, die Schoa übertrieben darzustellen oder erfunden zu haben.
- Schuldabwehr drückt sich in der Empörung über und die Zurückweisung von Positionen und Denkzeichen, die an die nationalsozialistischen Verbrechen an den Jüdinnen_Juden erinnern, aus. Sie treten häufig gemeinsam mit Verhöhnungen der Opfer auf.
Israelbezogener Antisemitismus
- Der Vorwurf gegenüber Jüdinnen_Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
- Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches / koloniales Unterfangen.
- Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird.
- Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
- Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
- Das Bestreben, alle Jüdinnen_Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen.
Handlungsformen
Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt sind (z.B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien).
Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsobjekte, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen_Juden in Verbindung gebracht werden.
Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Jüdinnen_Juden Möglichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen.
Arbeitsdefinition zur Leugnung und Verharmlosung der Schoa
Um das Vorliegen der Leugnung oder Verharmlosung der Schoa festzustellen, verwendet RIAS die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) im Oktober 2013 verabschiedete Arbeitsdefinition, die in der hier veröffentlichten Fassung lediglich den sprachlichen Konventionen von RIAS (Gender Gap, Verwendung des Begriffs „Schoa“ statt „Holocaust“) angepasst wurde.
Als Schoaleugnung werden solche Diskurse und Formen der Propaganda verstanden, die die historische Realität und das Ausmaß der Vernichtung der Jüdinnen_Juden durch die Nazis und deren Komplizen während des zweiten Weltkriegs – bekannt als Holocaust oder Schoa – negieren. Schoaleugnung bezieht sich namentlich auf jeden Versuch zu behaupten, die Schoa habe nicht stattgefunden.
Schoaleugnung ist auch dann gegeben, wenn die Instrumente der Vernichtung (wie Gaskammern, Massenerschießungen, Verhungern und Folter etc.) oder die Vorsätzlichkeit des Völkermords geleugnet oder in Zweifel gezogen werden.
Schoaleugnung ist in allen ihren verschiedenen Formen stets Ausdruck von Antisemitismus. Wer den Völkermord an Jüdinnen_Juden leugnet, versucht, Nationalsozialismus und Antisemitismus von Schuld und Verantwortung für diesen Völkermord am jüdischen Volk zu entlasten.
Formen der Schoaleugnung bestehen auch darin zu behaupten, Jüdinnen_Juden übertrieben oder erfänden die Schoa, um daraus einen politischen oder einen finanziellen Vorteil zu ziehen, als wäre die Schoa selbst das Ergebnis einer Verschwörung der Jüdinnen_Juden. Dies zielt letztlich darauf ab, die Jüdinnen_Juden für schuldig und den Antisemitismus wieder für legitim zu erklären.
Häufig zielt die Schoaleugnung auf die Rehabilitation eines offenen Antisemitismus ab und will damit eben die politischen Ideologien und Bedingungen fördern, die zum Auftreten genau jener Art von Vorgängen passen, die sie leugnet.
Unter Verfälschung der Schoa ist u.a. zu verstehen:
- das absichtliche Bemühen, die Auswirkungen der Schoa oder ihre wesentlichen Faktoren, die ihn ermöglichten und begünstigten, einschließlich der Kollaborateur_innen und der Verbündeten Nazi-Deutschlands, zu entschuldigen oder zu verharmlosen;
- die grobe Verringerung der Zahl der Opfer der Schoa im Widerspruch zu den verlässlichen Quellen;
- jeder Versuch, die Jüdinnen_Juden zu beschuldigen, den an ihnen verübten Genozid selbst verursacht zu haben;
- jene Aussagen, die die Schoa zu einem positiven geschichtlichen Ereignis verformen. Solche Äußerungen sind keine Schoaleugnung an sich, aber sie sind als radikale Form des Antisemitismus eng damit verbunden. Entsprechende Äußerungen könnten suggerieren, dass die Schoa nicht weit genug gegangen sei, um das Ziel einer „Endlösung der Judenfrage“ zu erreichen.
- die Versuche, die Verantwortung für die Errichtung von Konzentrations- und Vernichtungslagern, wie sie von Nazi-Deutschland entwickelt und betrieben wurden, zu verschleiern, indem die Schuld anderen Nationen oder ethnischen Gruppen zugeschoben wird.
Vorfallskategorien
Die Vorfallskategorien sind die Grundlage für die Einordnung antisemitischer Vorfälle. Sie dienen der Erfassung, Analyse und Auswertung von Vorfällen. Die Kategorien sind in fünf Erscheinungsformen unterteilt, die sich an den Erscheinungsformen des Antisemitismus orientieren. Diese sind: Antijudaismus, Rassismus, Verschwörungserzählungen, Holocaustleugnung und -verharmlosung sowie Antizionismus.
Je nach Art und Schwere des Vorfalls unterscheidet RIAS sechs verschiedene Vorfalltypen. Diese hatte ursprünglich der Community Security Trust (CST) in Großbritannien entwickelt. RIAS Berlin passte sie später für den deutschen Kontext an.
Als extreme Gewalt gelten (auch versuchte) physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben (können) oder schwere Körperverletzungen darstellen. Zu der Kategorie gehören auch Fälle von Kidnapping, Messerangriffe oder Schüsse.
Als Angriffe werden Vorfälle gewertet, bei denen Personen körperlich angegriffen werden, ohne dass dies lebensbedrohliche oder schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht. Diese Kategorie beinhaltet auch versuchte physische Angriffe.
Unter einer gezielten Sachbeschädigung versteht RIAS die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums mit antisemitischen Symbolen, Plakaten oder Aufklebern. Dazu zählt auch die Beschädigung oder Beschmutzung von Erinnerungszeichen und -orten, etwa von Gedenkstätten, Gedenktafeln oder Stolpersteinen, aber auch von Geschäftsstellen entsprechender Institutionen.
Als Bedrohung gilt jegliche eindeutige und direkt an eine Person oder Institution adressierte schriftliche oder mündliche Androhung von Gewalt.
Der Vorfalltyp verletzendes Verhalten beinhaltet sämtliche antisemitischen Äußerungen. Dies gilt auch für Aussagen, die online getätigt oder verbreitet werden, sofern diese direkt an eine konkrete Person oder Institution adressiert sind. Ebenfalls als verletzendes Verhalten gelten Beschädigungen oder das Beschmieren nichtjüdischen Eigentums durch antisemitische Symbole, Plakate, Aufkleber etc.
Als Massenzuschriften werden antisemitische Zuschriften erfasst, die sich – meist online – an einen größeren Kreis von Personen richten.
Regionale RIAS Stellen beobachten zudem teilweise proaktiv Versammlungen mit potenziell antisemitischen Inhalten. Stellen sie dabei in Aufrufen, Reden oder Parolen, auf mitgeführten Transparenten oder Plakaten antisemitische Inhalte fest, so registrieren sie die gesamte Versammlung als einen antisemitischen Vorfall des Typs verletzendes Verhalten. Ereignen sich bei oder am Rande einer solchen Versammlung antisemitische Angriffe oder Bedrohungen, so werden diese jeweils als zusätzliche antisemitische Vorfälle dokumentiert.
Betroffene
RIAS unterscheidet bei Betroffenen antisemitischer Vorfälle zwischen Einzelpersonen und Institutionen.
Neben Jüdinnen_Juden und Israelis können von Antisemitismus auch Einzelpersonen betroffen sein, die als jüdisch wahrgenommen oder adressiert werden, sowie alle anderen Personen wie beispielsweise Journalist_innen oder Politiker_innen. Von einem antisemitischen Vorfall können mehrere Einzelpersonen gleichzeitig betroffen sein.
Bei betroffenen Institutionen handelt es sich einerseits um religiöse oder weltliche jüdische Körperschaften und Vereine oder um israelische Einrichtungen. Andererseits können auch nichtjüdische zivilgesellschaftliche Organisationen, politische Parteien, Medien oder Bildungseinrichtungen sowie andere, als jüdisch wahrgenommene beziehungsweise adressierte Institutionen Betroffene antisemitischer Vorfälle sein. Von antisemitischen Vorfällen betroffene Institutionen zählen pro Vorfall als eine Betroffene.
Nicht zuletzt gibt es auch Vorfälle, denen keine direkten Betroffenen zugewiesen werden. Dies ist etwa bei antisemitischen Schmierereien, Aufklebern, Plakaten im öffentlichen Raum sowie bei Versammlungen mit antisemitischen Inhalten der Fall.
Inhaltlich unterscheidet RIAS bei der Erfassung antisemitischer Vorfälle fünf verschiedene Erscheinungsformen von Antisemitismus.
Beim antisemitischen Othering werden Betroffene aufgrund einer (angenommenen oder tatsächlichen) Zugehörigkeit zum Judentum antisemitisch konfrontiert oder als nicht zugehörig zur jeweiligen imaginierten Wir-Gruppe adressiert.
Antijudaistischer Antisemitismus beschreibt die Verbreitung religiös begründeter antisemitischer Stereotype – beispielsweise den Vorwurf, Jüdinnen_Juden seien für den Tod Jesu verantwortlich.
Wird Jüdinnen_Juden eine besondere politische oder ökonomische Macht zugeschrieben, etwa im Rahmen von Verschwörungsmythen, so ordnet RIAS dies dem modernen Antisemitismus zu.
Post-Schoa-Antisemitismus fasst Bezugnahmen auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen, die diese bagatellisieren oder relativieren oder aber die Erinnerung an die NS-Verbrechen ablehnen.
Israelbezogener Antisemitismus liegt vor, wenn sich antisemitische Aussagen gegen den jüdischen Staat Israel richten, etwa wenn diesem die Legitimität abgesprochen wird.
In der Praxis ordnet RIAS einen antisemitischen Vorfall häufig mehreren Erscheinungsformen zu. Aufgrund dieser Mehrfachzuordnungen ist die Anzahl der Zuordnungen von Erscheinungsformen in der Regel höher als die Zahl der antisemitischen Vorfälle.
Politisch-weltanschaulicher Hintergrund
RIAS ordnet antisemitische Vorfälle einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zu. Diese Zuordnung erfolgt jedoch nur, wenn sich der Hintergrund eindeutig ergibt: entweder aus dem Vorfall selbst (etwa aufgrund einer Selbstbezeichnung der Täter_innen), aus den verwendeten antisemitischen Stereotypen (wenn diese etwa bestimmte religiöse Glaubensinhalte umfassen) oder aus dem Kontext der Situation (beispielsweise Vorfälle im Kontext einer bestimmten Demonstration). Da solch eine eindeutige Zuordnung nicht immer möglich ist, können viele antisemitische Vorfälle keinem Hintergrund zugeordnet werden. Bei der Zuordnung unterscheidet RIAS sieben politisch-weltanschauliche Hintergründe. Jeder Vorfall kann nur einem solchen Hintergrund zugeordnet werden.
Als rechtsextrem/rechtspopulistisch werden antisemitische Vorfälle kategorisiert, die mit einem rechtsextremen oder rechtspopulistischen Spektrum verbunden sind. Dabei steht Rechtsextremismus als Sammelbegriff für antimoderne, antidemokratische, antipluralistische und gegen die Menschenrechte gerichtete Einstellungen, Handlungen und Strömungen. Gemeinsames Kennzeichen verschiedener rechtsextremer Ideologien sind Vorstellungen von einer prinzipiellen Ungleichwertigkeit verschiedener Menschen(-gruppen), das Streben nach einem Leben in ethnisch homogenen Gemeinschaften („Völkern“) und die Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft. Rechtspopulismus fungiert als Sammelbegriff für abgemilderte und modernisierte Varianten des Rechtsextremismus. Im Unterschied zum Rechtsextremismus fordert dieser keine Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, sondern beabsichtigt stattdessen deren autoritäre Umformung und Aushöhlung.
Als links-antiimperialistisch klassifiziert RIAS antisemitische Vorfälle, die mit linken Positionen verbunden sind oder bei denen ein Bezug auf linke Traditionen wie etwa den (befreiungsnationalistischen) Antiimperialismus feststellbar ist.
Dem Hintergrund christlich-fundamentalistisch Fundamentalismus werden antisemitische Vorfälle zugeordnet, die mit einer positiven Bezugnahme auf christliche Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind. Das schließt fundamentalistische Spielarten des Christentums mit ein, wenn zugleich kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Als islamisch/islamistisch erfasst RIAS antisemitische Vorfälle, die sich positiv auf islamische Glaubensinhalte oder Symboliken beziehen und bei denen kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert. Das schließt Bezugnahmen auf unterschiedliche Islamverständnisse mit ein, darunter auch islamistische.
Einem verschwörungsideologischen Hintergrund werden antisemitische Vorfälle zugeordnet, bei denen die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen im Vordergrund steht und bei denen kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Auch dem Hintergrund antiisraelischer Aktivismus werden nur antisemitische Vorfälle zugerechnet, die keinem anderen politisch-weltanschaulichen Hintergrund eindeutig zugeordnet werden können und bei denen eindeutig die israelfeindliche Motivation gegenüber einer politischen Positionierung, zum Beispiel im linken, rechten oder islamistischen Milieu dominiert. Zum antiisraelischen Aktivismus zählen beispielsweise säkulare palästinensische Gruppen sowie Unterstützer_innen antisemitischer Boykottkampagnen gegen den jüdischen Staat Israel.
Dem Hintergrund politische Mitte werden antisemitische Vorfälle zugeordnet, die keinem zuvor genannten politisch-weltanschaulichen Hintergrund eindeutig zugeordnet werden können und bei denen die Verantwortlichen für sich in Anspruch nehmen, demokratische Positionen zu vertreten.