Im Rahmen des Projektes „Von der Vergangenheit lernen – in der Gegenwart handeln“ im Jahr 2022 haben Mitarbeiterinnen des Bundesverbandes RIAS in Berlin und Israel acht Interviews mit Schoa-Überlebenden und zum Teil ihren Nachkommen geführt.
Dabei ging es um das Weiterleben nach der Schoa und ihre Erinnerungen an die Zeit sowie aktuelle und vergangene Erfahrungen mit Antisemitismus. Die Menschen und ihre Erfahrungen stehen im Mittelpunkt des Projektes und eröffnen persönliche Perspektiven auf Brüche und Kontinuitäten antisemitischer Realitäten in unserer Gesellschaft. Auch familiäre Resonanzen und Fragen nach der Weitergabe der Traumata waren Gegenstand der Gespräche. Die Interviewten legen beeindruckende Zeugnisse über die antisemitische Verfolgung während des Nationalsozialismus wie auch über aktuellen Antisemitismus ab. Im Mittelpunkt stehen die Fragen: Welche Bedeutungen haben die Lebensgeschichten im transgenerationalen Austausch? Welche Rolle spielen sie in der Erziehung oder Identitätsbildung? Wie lassen sich anhand dieser Geschichten Kontinuitäten und Brüche von Antisemitismus sichtbar machen? Die Überlebensgeschichten der Interviewten stellen bedeutende zeithistorische Beiträge von hoher gesellschaftlicher Relevanz dar. Der Bundesverband RIAS hat aus dem Material Kurzfilme für die Bildungsarbeit zu Antisemitismus konzipiert, um vergangene und gegenwärtige Erfahrungen mit Antisemitismus in unserer Gesellschaft sichtbar zu machen. Das Interviewprojekt ist in Zusammenarbeit mit der Filmemacherin Leona Goldstein entstanden.
Ziele
Mit den Interviews wird eine empathische Annäherung an die Perspektiven der jeweiligen Überlebenden und ihrer Angehörigen ermöglicht. Die Zeitzeug_innen reflektieren, inwiefern antisemitische Verfolgung, Gewalt und Morde während des Nationalsozialismus und antisemitische Erfahrungen auch nach 1945 ihr (Weiter-)Leben und das der nachfolgenden Generationen beeinflussen und eröffnen damit einen Reflexionsraum für uns. Zudem findet eine Annäherung an verschiedene Formen von Antisemitismus statt, Kontinuitäten und Brüche antisemitischer Erfahrungen werden sichtbar und diskutierbar gemacht. Die Frage, was das für die eigene Positionierung zu antisemitischen Vorfällen und für weitere Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten bedeutet, durchzieht das gesamte Material. Ziel ist es zudem, eine Auseinandersetzung mit und eine Reflexion über die eigenen Familiengeschichten anzuregen.
Zielgruppen
Erwachsene in Betrieben, Polizei, Justiz und Verwaltung, Multiplikator_innen, Studierende, Schüler_innen (ab 14 Jahren) und Jugendliche und Erwachsene in Weiter- und Ausbildungseinrichtungen.
Zeit
1,5 – 2,5 Stunden – je nach Form der Durchführung, der Diskussionsfreudigkeit sowie den Bedürfnissen und Interessensschwerpunkten der Gruppe kann mehr oder weniger Zeit eingeplant werden.
Voraussetzungen
Für Teilnehmende (TN):
Voraussetzung für die Beschäftigung mit den Interviewfilmen ist es, dass der Nationalsozialismus, die Geschichte der antisemitischen Verfolgung und des Antisemitismus in Grundzügen bereits bekannt sind oder in Vorbereitung auf die Kurzfilme thematisiert werden (beispielsweise der sogenannte Aprilboykott 1933, die Novemberpogrome 1938, Deportationen).
Für Anleitende (AL):
Empfehlenswert für AL ist es, Hintergrundwissen zu den einschlägigen, in den Interviews behandelten Themen wie Zionismus, Kommunismus, die Staatsgründung Israels, das System der nationalsozialistischen Lager und Ghettos sowie DDR- und BRD-Geschichte zu besitzen. Als Vorbereitung, um mehr Kenntnisse zu den einzelnen Personen zu erhalten, gibt es ausführliche biografische Hintergrundinformationen, die es ermöglichen sollen, Nachfragen der TN zu beantworten. Außerdem ist eine Beschäftigung mit Antisemitismus und seinen Erscheinungsformen eine unerlässliche Voraussetzung (siehe dazu Hintergrund und Erscheinungsformen).
Räumlichkeiten:
Je nach Umsetzung der Methode kann für die Arbeit in der Gesamtgruppe/im Plenum ein Raum ausreichend sein. Wenn in Kleingruppen gearbeitet wird, sind mehrere Räume notwendig, damit die TN die Interviews in Ruhe anschauen und diskutieren können.
Material:
Je nach Umsetzung der Methode wird ein digitales Endgerät oder eine der Kleingruppen entsprechende Anzahl von digitalen Endgeräten benötigt. Benötigt werden zudem die Ausdrucke der Bilder von den interviewten Personen mit den Zitaten und kurzen biografischen Informationen sowie die dazugehörigen Fragen, ggf. Ausdrucke mit den antisemitischen Erscheinungsformen (siehe dazu Erscheinungsformen) und je nach gewählter Variante ausreichend Plakatpapier/Flipcharts, Moderationskarten/Karteikarten inkl. Pins/Klebeband oder Magneten, Pinnwände o.ä., Marker und Stifte.
Methode
Die TN schauen einen der Filme in der Gesamtgruppe (Plenum) oder in Kleingruppen an und diskutieren im Anschluss die jeweiligen Fragen. Die Interviews und Fragestellungen dienen dazu, einen Diskussionsrahmen zu schaffen. Es geht nicht um eine Abfrage von Wissen, vielmehr wird ein Raum eröffnet, der eine empathische Annäherung an die Erfahrungen und Geschichten der jeweiligen Personen möglich macht sowie eine Reflexion über Kontinuitäten und Brüche von Antisemitismus vor und nach 1945 ermöglicht. Natürlich müssen nicht in jedem Setting alle Fragen zu den einzelnen Personen behandelt werden, je nach Interessen und Schwerpunktsetzungen ist es möglich, einzelne Fragen herauszugreifen und die Fragestellungen an die jeweilige Zielgruppe anzupassen.
Hinweise zur Durchführung:
- Die AL stellen anhand der hier vorgestellten Methodenvarianten eine Auswahl zusammen, die auf die Bedürfnisse der Gruppe und den zeitlichen Rahmen zugeschnitten ist.
- Je nach Zielgruppe sind ggf. geringe Abwandlungen und eine veränderte Auswahl der Interviews möglich bzw. nötig. Für Jugendliche ab 14/15 Jahre eignen sich bspw. die Interviews mit Margot Friedländer, Petra und Franz Michalski und Kurt Hillmann und Sylvia Müller.
Ablauf
Die AL führen die TN in die Entstehungsgeschichte und den Inhalt der Kurzfilme ein (siehe Intro-Text), dann wird das weitere Vorgehen erläutert. Je nach Rahmenbedingungen (Diskussionsbedarf, Gruppengröße, Zeitrahmen usw.) bieten sich verschiedene Varianten an. Die AL kann entweder alle Interviews zum Bearbeiten auswählen, nur einige oder ein Interview in der Gesamtgruppe behandeln. Unabhängig von der gewählten Variante kommen die TN abschließend in der Gesamtgruppe zusammen, stellen die Personen und ihre Antworten auf die Fragen vor und diskutieren gemeinsam die Reflexionsfragen zur Auswertung (siehe unten).
Varianten
Arbeit in der Gesamtgruppe: Die TN bekommen das jeweilige Bild der interviewten Person/en mit Zitat und kurzen biografischen Informationen oder betrachten dieses auf einem digitalen Endgerät. Sie lesen den Text und schauen dann das Interview gemeinsam an. Im Anschluss erhalten sie die jeweiligen Interview-Fragen und diskutieren diese in der Gruppe. Möglich ist auch, zunächst ein Interview in der Gesamtgruppe anzusehen und im Anschluss weitere Interviews in Kleingruppen zu bearbeiten.
Arbeit in Kleingruppen: Die TN teilen sich in ungefähr gleich große Kleingruppen auf. Die Kleingruppen erhalten zu Beginn die jeweiligen Bilder, die biografischen Informationen und das Zitat von der Person, die sie behandeln, und die dazugehörigen Fragen. Jede Kleingruppe schaut sich das entsprechende Videointerview an und bespricht im Anschluss die dazugehörigen Fragen. Es kann für die Diskussion in der Gesamtgruppe sehr produktiv sein, die Interviews nach gemeinsamen thematischen Schwerpunkten auszuwählen (bspw. Novemberpogrome, siehe Glossar). Das fokussierte Vorgehen ermöglicht den TN, verschiedene Perspektiven auf die historischen Ereignisse oder verschiedene Reflexionsansätze zusammenzubringen. Das gilt insbesondere für die Gedanken der Überlebenden über (den Umgang mit) ihre(r) Geschichte und die Weitergabe der Erinnerung an die nächsten Generationen – ein Aspekt, der in allen Interviews eine Rolle spielt.
Gestaltung von Plakaten: Bei der Arbeit in Kleingruppen kann es für die Diskussion in der Gesamtgruppe hilfreich sein, Plakate zu gestalten, auf denen die interviewten Personen mit einigen biografischen Informationen vorgestellt und zentrale Punkte aus der Diskussion festgehalten werden. Dieses Vorgehen erleichtert den anderen Kleingruppen, sich in der Diskussion auf die jeweiligen Punkte zu beziehen und die unterschiedlichen Aspekte der Biografien/Geschichten zueinander in Bezug zu setzen.
Hinzuziehen von anderen Methoden: Ergänzend können für einzelne Interviews oder Fragen andere Methoden hinzugezogen werden. Unter „Materialien von anderen“ finden Sie weiterführende Materialien. Als Einführung für Jugendliche zum Thema der antisemitischen Verfolgung im Nationalsozialismus eignet sich bspw. die Methode Ein ganz normaler Tag des Anne Frank Zentrums. Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit antijüdischen Gesetzen im Nationalsozialismus.
Ergänzende Nutzung der Methoden von anderen Trägern: Als Einführung für Jugendliche zum Thema der antisemitischen Verfolgung im Nationalsozialismus eignet sich bspw. die Methode Ein ganz normaler Tag des Anne Frank Zentrums. Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit antijüdischen Gesetzen im Nationalsozialismus. Die entsprechenden Materialien können auf der Unterseite „Unsere Angebote“ unter dem Reiter „Materialien von anderen“ eingesehen werden. [1]
Reflexionsfragen für die Auswertung
Nach der Vorstellung/Diskussion der Interviews im Plenum werden die Reflexionsfragen, die sich auf alle Interviews beziehen, gemeinsam in der Gesamtgruppe diskutiert. Es ist an dieser Stelle wichtig, den TN zu vermitteln, dass nur das in der Gesamtgruppe geteilt werden soll, was die TN teilen wollen – insbesondere wenn es um eigene Erfahrungen oder die eigene Familiengeschichte geht.
Reflexionsfragen:
- Wie erging es Euch bei der Arbeit mit den Interviews? Was war dabei besonders eindrücklich für Euch?
- Fasst gemeinsam zusammen, welche Formen von Antisemitismus in den Biografien nach 1945 beschrieben werden? Verändern sich die Erscheinungsformen? Gibt es Kontinuitäten und Brüche und sind sie relevant für die aktuelle Auseinandersetzung mit Antisemitismus? Was heißt aus der Geschichte lernen („Nie wieder“) für den Umgang mit Antisemitismus in der heutigen Gesellschaft?
- Reflektiert Eure eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte in Euren Familien. Überlegt, inwiefern es wichtig ist, sich zur eigenen Familiengeschichte zu positionieren.
[1] Siehe dazu Anne Frank Zentrum: Ein ganz normaler Tag. Online unter https://www.annefrank.de/fileadmin/Redaktion/Themenfelder/Antisemitismus_entgegenwirken/Dokumente/arbeitsmethoden-antisemitismus_7-1.pdf (Zugriff am 02.07.2024).
Giselle Cycowicz und ihre Tochter Yael Bier
Margot Friedländer
Salomea Genin
Kurt Hillmann und seine Tochter Sylvia Müller
Marianne Karmon
Franz und Petra Michalski
Horst Selbiger
Regina Steinitz
Die Interview-Partner_innen wurden illustriert von Michael Mallé.